Umsatzsteuer - 27. Juli 2023

Vorsicht bei Ist-Versteuerung

Für Steuerpflichtige, die zum Vorsteuerabzug berechtigt sind und ihre Umsatzsteuer nach vereinnahmten Entgelten berechnen, wird es künftig zu einer massiven Änderung bei den betriebsinternen Prozessen kommen.

Bislang war die Rechtslage in Deutschland eindeutig: Die Umsatzsteuer entsteht grundsätzlich mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistung ausgeführt wird. Im Gegenzug darf der Vorsteuerabzug bereits zu dem Zeitpunkt geltend gemacht werden, in dem die Leistungsempfängerin oder der Leistungsempfänger die Rechnung erhält. Auf den Zeitpunkt der Bezahlung kommt es nicht an, vorausgesetzt die Leistung ist ausgeführt. Darf der leistende Unternehmer, zum Beispiel als Freiberufler, auf Antrag seine Umsatzsteuer statt nach vereinbarten Entgelten, der sogenannten Soll-Versteuerung [§ 16 Abs. 1 S. 1 Umsatzsteuergesetz (UStG)], nach vereinnahmten Entgelten, der sogenannten Ist-Versteuerung (§ 20 S. 1 UStG), berechnen, entsteht die Umsatzsteuer ausnahmsweise erst mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt vereinnahmt worden ist. Der Vorsteuerabzug bleibt aber nach den allgemeinen Grundsätzen auch für den Ist-Versteuerer unabhängig von seiner Zahlung mit Erhalt der Rechnung erhalten, sofern die Leistung an ihn bereits ausgeführt worden ist. Im nationalen Umsatzsteuerrecht gibt es damit keine Verknüpfung zwischen Entstehung der Umsatzsteuerschuld in § 13 Abs. 1 Buchst. a und b UStG und der Abzugsfähigkeit der Vorsteuer in § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG. Zwar gewährt das Unionsrecht in Art. 167a Unterabs. 1 der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) den Mitgliedstaaten das Recht, im Falle der Ist-Versteuerung (Art. 66 Buchst. b MwStSystRL) auch die Ausübung des Vorsteuerabzugs von der Zahlung der Umsatzsteuer und damit von einer Zahlung des Entgelts abhängig zu machen. Deutschland hat von dieser Option bislang aber keinen Gebrauch gemacht. Für diesen Fall ordnet Art. 226 Nr. 7a MwSt-SystRL die zwingende Angabe „Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten“ durch den Leistenden in seiner Rechnung an den Leistungsempfänger an.

Ausgangsfall

Eigentlich war es bis zur Vorlage des Finanzgerichts (FG) Hamburg (Beschluss vom 10.12.2019 – 1 K 337/17) an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) kaum vorstellbar, dass es zum Zeitpunkt des vorgezogenen Vorsteuerabzugs bei einer Leistung durch einen Ist-Versteuerer hierüber Streit geben könnte. Die vorgezogene Vorsteuerabzugsberechtigung ist für den Leistungsempfänger auch im Falle der Steuerschuldentstehung beim Leistenden nach dem Ist günstig. Es führt bei ihm zu einem Cashflow-Vorteil. Der Vorlagesachverhalt des FG Hamburg wies aber die Besonderheit auf, dass der Leistungsempfänger seinen Vorsteueranspruch wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung für das Jahr der Leistungsausführung erst in einem späteren Veranlagungsjahr, nämlich dem der Zahlung, geltend machen wollte. Konkret ging es in der Rs. Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 (EuGH vom 10.02.2022, C-9/20) um den zutreffenden Zeitpunkt der Entstehung des Vorsteuerabzugs in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld aus dem ausgeführten Umsatz. Der EuGH hat – im Ergebnis zutreffend – auf den unionsrechtlichen Kontext der Art. 66 Buchst. b und 167 MwStSystRL hingewiesen und damit die bislang in Deutschland praktizierte Verfahrensweise zum Vorsteuerabzug einer der Ist-Besteuerung unterliegenden Leistung als unionsrechtswidrig eingestuft. Verantwortlich für diesen Bewertungsansatz ist das unionsrechtliche Zusammenspiel von der Entstehung des Vorsteuerabzugs in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf die abziehbare Steuer. Das Recht auf Vorsteuer entsteht gemäß Art. 167 MwStSystRL in dem Zeitpunkt, in dem der Anspruch auf die abziehbare Steuer eintritt. Der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht – so die Mitgliedstaaten, wie Deutschland in den §§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b und 20 UStG, von dieser Option Gebrauch gemacht haben – im Zeitpunkt der Vereinnahmung des Preises. Das Unionsrecht verlangt damit die Verknüpfung der Entstehung der Umsatzsteuerschuld beim Leistenden mit der Vorsteuerabzugsberechtigung beim Leistungsempfänger. Unabhängig von der Versteuerung seiner eigenen Umsätze nach dem Soll (Grundsatz) oder dem Ist (Ausnahme) kann der Leistungsempfänger seinen Vorsteuerabzug nur dann geltend machen, wenn der Leistende im Falle der Ist-Versteuerung das Leistungsentgelt vereinnahmt, er also gezahlt hat.

Folgen für die Praxis

Die nationale Regelung zum Vorsteuerabzug in § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG entspricht nicht den unionsrechtlichen Vorgaben. Eine sogenannte richtlinienkonforme Auslegung scheitert am klaren, entgegenstehenden Wortlaut der deutschen Norm. Anders als die unionsrechtliche Vorgabe in Art. 167 MwStSystRL („Das Recht auf Vorsteuer entsteht …“) beinhaltet die nationale Norm keinen derartigen zeitlichen Bezug. Soweit § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 1 UStG tatbestandlich auf die „gesetzlich geschuldete Steuer“ abstellt, dient dies nur der Umschreibung einer im Rahmen eines steuerbaren und steuerpflichtigen Umsatzes bezogenen Leistung. Der Gesetzgeber hat hiermit den durch die Rechtsprechung (EuGH vom 13.12.1989, Genius, C-342/87; BFH vom 02.04.1998, V R 34/97, BStBl II 1998, 695) vorgegebenen Ausschluss des Vorsteuerabzugs für die wegen § 14c UStG geschuldeten Steuern umgesetzt. Damit scheidet nicht nur eine richtlinienkonforme Interpretation, sondern auch eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion aus. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG weist im Bereich der Vorsteuerabzugsmöglichkeit auf Grundlage der Leistungsausführung in allen Fällen keine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit auf (vgl. hierzu BFH vom 02.12.2015, V R 25/13). Es gilt damit der sogenannte unionsrechtliche Anwendungsvorrang. Ausfluss des Anwendungsvorrangs ist zunächst, dass alle nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden den Vorrang des Unionsrechts in der Auslegung des EuGH zu beachten haben. Aus dem Anwendungsvorrang folgt für den Steuerpflichtigen ein Wahlrecht: Er kann sich entweder weiterhin auf die nationale Norm berufen und den Vorsteuerabzug unabhängig von seiner Bezahlung und einer möglichen Ist-Versteuerung des Leistenden beanspruchen. Oder er kann sich aber auch – so es für ihn günstiger ist (wie im entschiedenen Fall des FG Hamburg) – auf das Unionsrecht unmittelbar berufen und den Zeitpunkt seines Vorsteuerabzugs auf den (späteren) Zeitpunkt der Bezahlung verlegen.

Der Gesetzgeber ist gefordert

Letztlich wird der deutsche Gesetzgeber handeln müssen, um die unionsrechtlichen Vorgaben umzusetzen. Die Umsetzung wird aber nicht nur eine Anpassung des § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 UStG zum Ziel haben müssen. Vielmehr ist auch § 14 Abs. 4 UStG an die Vorgaben aus Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL anzupassen. Systematisch unausweichlich scheint indes zu sein, dass der deutsche Gesetzgeber dann auch von der durch Art. 167a MwStSystRL eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht und die Vorsteuerabzugsberechtigung des Leistungsempfängers nach dem Ist an die eigene Besteuerung des Unternehmers nach dem Ist koppelt. Spätestens zum 1. Januar 2024 soll die zurzeit bestehende Option für die Mitgliedstaaten, bei Versteuerung der Leistung nach dem Ist auch den Vorsteuerabzug nur nach getätigter Zahlung vornehmen zu können (Art. 167a Abs. 1 MwStSystRL), zur Verpflichtung werden [Art. 1 Nr. 5 Entwurf einer Richtlinie in Bezug auf die Mehrwertsteuervorschriften für das digitale Zeitalter – ViDA vom 08.12.2022, COM (2022) 701 final – 2022/0407 (CNS)].

Fazit

So oder so wird es für die Steuerpflichtigen, sofern sie zum Vorsteuerabzug berechtigt sind oder die Umsatzsteuer nach dem Ist schulden, zu einer massiven Änderung in den betriebsinternen Prozessen kommen. Es muss zukünftig sichergestellt werden, dass die Vorgaben aus Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL – Hinweis auf die Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten – in den Rechnungen umgesetzt werden. Gleichzeitig müssen betriebsinterne Vorkehrungen getroffen werden, dass bei einer Leistung durch einen Ist-Versteuerer der Vorsteuerabzug nicht bereits zum Zeitpunkt des Erhalts der Rechnung, sondern erst nach getätigter Zahlung vorgenommen werden darf.

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Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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