Sicherheitszuschläge - 25. April 2024

Schätzung durch die Hintertür

Spätestens nach einer Änderung der Abgabenordnung kommt es im Rahmen einer Betriebsprüfung vermehrt zu ergänzenden Hinzuschätzungen, die verfassungsrechtlich zumindest fraglich sind.

So manche oder mancher Steuerpflichtige wird im Rahmen einer Betriebsprüfung mit dem sogenannten Sicherheitszuschlag konfrontiert. Teilweise geschieht dies sogar, wenn gar keine formellen Fehler vorliegen oder jedenfalls nur marginale gefunden werden. Aus Sicht des Betriebsprüfers handelt es sich beim Sicherheitszuschlag um eine Hinzuschätzung weiterer Einnahmen, weil er Zweifel an der Vollständigkeit der Erlöserfassung hat. Schwierig wird es, wenn diese Zweifel zwar beim Prüfer gegeben sind, jedoch nicht sachlich zugeordnet werden können oder pauschal in den Raum gestellt werden.

Punktekatalog für Zuschläge?

Bei der Finanzverwaltung gibt es anscheinend einen Punktekatalog, wonach Zuschläge für entsprechende Fehler zu verhängen sind. Dieser Katalog soll bei formellen Fehlern in der Buchführung zur Anwendung kommen, selbst wenn diese nicht so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Verwerfung der Buchführung führen. Nicht selten beginnen Prüfer mit 10 oder gar 20 Prozent Sicherheitszuschlag und lassen sich dann in mehreren Etappen vielleicht auf 2, 3 oder 5 Prozent Sicherheitszuschlag wieder herunterhandeln. Da dieser Punktezuschlagskatalog leider nicht veröffentlicht ist, wird es für den außenstehenden Berater natürlich schwierig, eine Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu verstehen und zu akzeptieren – vor allem dann, wenn der Prüfer behauptet, dass für diesen oder jenen Fehler üblicherweise mindestens 2, 3 oder gar 5 Prozent Sicherheitszuschlag verhängt werden. Was ist mit üblicherweise gemeint? Bei ihm persönlich oder in der Finanzverwaltung beziehungsweise in diesem Bundesland? Wie kann das noch überprüft werden? Was ist hier der Anknüpfungspunkt? 2, 3 oder 5 Prozent Zuschlag auf was? Auf den Netto- oder auf den Bruttoumsatz oder auf die Bareinnahmen, bei denen die Zweifel hinsichtlich ihrer Vollständigkeit bestehen?

Sicherheitszuschlag ist Schätzung

Materiellrechtlich ist der Sicherheitszuschlag eine Schätzung, genauer gesagt: eine ergänzende Schätzung. Daher ist § 162 Abgabenordnung (AO) tangiert. Eine Schätzung nach § 162 AO setzt jedoch eine Schätzungsbefugnis voraus, die wiederum erfordert, dass die Buchführung verworfen werden kann. Dies widerspricht jedoch § 158 AO, der für die Bestandskraft der Aufzeichnungen im Rahmen einer Buchführung steht, sofern keine schwerwiegenden formellen Mängel oder kein sonstiger Anlass gegeben ist, die Buchführung beziehungsweise die Aufzeichnungen zu verwerfen und sie nicht oder nur teilweise der Besteuerung zugrunde legen zu können. § 158 AO streitet also für die Aufzeichnungen und die Buchführung des Steuerpflichtigen. Der Gesetzgeber gibt diesem insoweit einen Vertrauensvorschuss, weil der Steuerpflichtige natürlich die Hintergründe seiner Aufzeichnungen am besten kennt beziehungsweise die Lebenssachverhalte so konkret wie kein anderer aufzeichnen kann. Dieser Vertrauensvorschuss gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Der Steuerpflichtige muss dabei die formellen Anforderungen erfüllen und es dürfen auch sonst keine Gründe vorliegen, die gegen Richtigkeit und Vollständigkeit der Aufzeichnungen, insbesondere der Erlöserfassung, sprechen. § 158 AO ist historisch begründet. Die Berufung auf die besondere Beweiskraft der Handelsbücher gehörte früher zu den Privilegien der Kaufleute.

Neuer Verwerfungsgrund

Seit dem 1. Januar 2023 soll auch das Nichtübertragen elektronischer Kassendaten oder einer elektronischen Finanzbuchführung (Fibu) dazu berechtigen, die Buchführung zu verwerfen (§ 158 Abs. 2 Nr. 2 AO). Dogmatisch gesehen, ist hier die Unmöglichkeit der Datenübertragung als ein formeller Fehler eingestuft worden, der so schwerwiegend ist, dass er zur Verwerfung der Buchführung berechtigen soll. Die Finanzverwaltung will die Daten unbedingt elektronisch prüfen können und sofern ihr das verwehrt wird, soll das so ein schwerwiegender Mangel sein, der quasi einer Nichtaufzeichnung der Geschäftsvorfälle gleichkommt. Es erscheint mehr als zweifelhaft, dass die Nichtübertragung elektronischer Daten ein derart schwerwiegender formeller Fehler sein soll, dass man deshalb einer Buchführung nicht mehr trauen kann, die belegmäßig und vollständig in Papierform vorliegt. Diese Neuerung, die auf Initiative der Finanzverwaltung ins Gesetz gekommen ist, dürfte verfassungswidrig sein, da sie auch bei einer völlig zutreffenden Papierbelegvorlage zu einer Verwerfung und Zuschätzung führt, also zur Erhebung fiktiver Steuern, für die es keine Rechtfertigung gibt.

Gegenargumente

Natürlich ist eine papierbasierte Prüfung zeitaufwendiger, aber sie ist genauso möglich und natürlich können die Papierbelege auch nachgebucht werden. Wenn anschließend eine neu erstellte Buchführung elektronisch zur Verfügung steht, darf dies letztendlich nicht dazu führen, dass ein zutreffendes Ergebnis materiellrechtlich als falsch eingestuft wird und weitere Einnahmen hinzugeschätzt werden. Schließlich ist es denkbar, dass eine elektronische Übertragung der Dateien aus technischen Gründen nicht funktioniert hat oder versehentlich elektronische Daten überschrieben wurden. Die Finanzverwaltung selbst geht im Beispiel 6 in Rn. 105 der Grundsätze zur ordnungsmäßigen Führung und Aufbewahrung von Büchern, Aufzeichnungen und Unterlagen in elektronischer Form (GoBD) vom 14. November 2014 beziehungsweise in der Fassung vom 28. November 2019 von einem derartigen Fall des versehentlichen Überschreibens der Daten aus und behandelt diesen Fall mit dem Hinweis, dass es auf den Einzelfall ankomme und nicht per se, weil etwa Daten verloren gingen, die Buchführung zu verwerfen sei. Hier geht die Finanzverwaltung selbst von der Möglichkeit aus, eine fehlerhafte Übertragung beziehungsweise Überschreibung der Daten zu korrigieren, wenn Belege nicht vollständig vorliegen oder eine überschriebene oder verloren gegangene elektronische Buchführung neu erstellt werden muss, materiellrechtlich aber tatsächlich korrekt ist.

Verwerfung der Buchführung

Für eine Verwerfungskompetenz muss daher eine der drei Voraussetzungen des § 158 AO vorliegen. Entweder sind schwere formelle Aufzeichnungs- oder Aufbewahrungsmängel gegeben, ein sonstiger Anlass oder die Daten wurden nicht elektronisch übertragen. Liegt keiner dieser Ausnahmefälle vor, sind die Aufzeichnungen und die Buchführung zwingend der Besteuerung zugrunde zu legen. Grundvoraussetzung eines Sicherheitszuschlags ist also, dass die Buchführung zu verwerfen ist. § 158 AO besagt zudem auch nicht, dass eine Buchführung dann nicht mehr der Besteuerung zugrunde gelegt werden darf, wenn sie nur formell nicht ordnungsmäßig ist, also selbst mehrere kleine oder mittlere formelle Fehler enthält. Eine Buchführung mit kleinen, mittleren oder auch erheblichen formellen Fehlern kann der Besteuerung zugrunde gelegt werden, sofern die Aufzeichnungen materiell richtig sind, das erklärte Ergebnis stimmt und das Zustandekommen der Zahlen prüfbar ist. Insoweit ist ein Schätzungsautomatismus, wie er bei der Finanzverwaltung verbreitet ist, nicht zu akzeptieren. Aus einigen wenigen, aber auch aus mehreren formellen Fehlern darf nicht zwingend eine Verwerfung und Zuschätzung folgen, was in Abschnitt 158 Satz 4 in Verbindung mit Satz 7 des Anwendungserlasses zur AO steht.

Entlastungsgründe

Fehlt es an den dogmatischen Voraussetzungen, um die Buchführung zu verwerfen, kann es keine Zuschätzung oder einen Zuschlag geben. Der Prüfer darf seine Zweifel nicht damit beheben, dass er einen Zuschlag mit 2, 3, 5 oder gar 10 Prozent als angemessen verlangt. Ohnehin stellt sich dabei die Frage, wie sich die Höhe des Zuschlags berechnet, sofern der Prüfer Zweifel an der Vollständigkeit einer Erlöserfassung hat. Wenn der Steuerpflichtige tatsächlich Steuern hinterziehen will, müssten Spuren durch Schwarzeinkäufe oder aufgrund von Auffälligkeiten beim Wareneinkauf oder Unterdeckungen beziehungsweise nicht passenden Inventuren zu finden sein. Es ist einfach nicht vorstellbar, dass der Einkauf, etwa bei einem Gastronom, derart perfekt manipuliert wird, dass ein weiterer Zukauf nicht auffällt. Das wäre prinzipiell nur vorstellbar, wenn ein ganzer Geschäftskreis außerhalb der Buchführung liefe und die hierfür benötigten Produkte immer separat eingekauft werden. Dies würde aber eine zweite Buchführung für den weiteren Geschäftskreis erfordern; nur wenn es dann keine Verbindungen zur Hauptbuchführung und keine Vermischung der Waren mit dem Hauptlager gibt, lassen sich Unterdeckungen oder mangelnde Plausibilitäten beim Ein- oder Verkauf nicht in der Hauptbuchführung finden. Eine derartige Konstellation ist allein aufgrund von Social Media nahezu ausgeschlossen, da immer Beschreibungen, Fotos oder andere Daten über entsprechende Aktivitäten zu finden sind. Vor diesem Hintergrund ist es einfach nicht vorstellbar, dass ein weiterer separater Geschäftskreis von entsprechender Bedeutung völlig unter dem Radar und an der Öffentlichkeit vorbei betrieben werden kann. Schließlich durchleuchtet der Betriebsprüfer das betroffene Unternehmen auch mit Blick ins Internet und in die Social-Media-Kanäle, sodass ein unter der Hand betriebener zweiter Geschäftskreis zwingend auffallen würde.

Zweifel des Prüfers

Der Prüfer soll kritisch sein, hinterfragen und alles prüfen. Theoretisch kann er immer bezweifeln, dass die Einnahmen vollständig erfasst wurden. Selbst bei einem Betrieb, der völlig ohne Bareinnahmen arbeitet, könnte die Frage aufkommen, ob nicht vielleicht doch das eine oder andere bar verkauft wurde. Was folgt daraus aus Sicht des Steuerpflichtigen mit Blick auf die Zweifel des Prüfers und Zuschätzungen, die er vornehmen will? Hängt er von den Befindlichkeiten des Prüfers und dessen willkürlicher Behauptung, er habe Zweifel an der Vollständigkeit der Erlöserfassung, hilflos ab? Eine negative Beweisvorsorge für fehlende, weitere schwarze Einkäufe kann der Gastronom nicht führen. Hier hilft nur der Verweis an den Prüfer, dass er im Falle von Zweifeln weiter ermitteln muss (§§ 88 Abs. 1, 199 Abs. 1 AO).

FAZIT

Die Messlatte, ob eine Buchführung beziehungsweise die Aufzeichnungen der Besteuerung zugrunde zu legen sind oder nicht, ist § 158 Abs. 1 AO, ohne Einbezug des neu geschaffenen Abs. 2 dieser Vorschrift. Ohne Verwerfungskompetenz darf es keine ergänzende Zuschätzung und natürlich auch keinen Sicherheitszuschlag geben. Die formellen Fehler müssen daher von solchem Gewicht sein, dass die Buchführung nicht mehr prüfbar ist oder gar nicht mehr der Besteuerung zugrunde gelegt werden kann. Stets muss das erklärte Buchführungsergebnis materiellrechtlich falsch sein, um die Schätzungsbefugnis zu eröffnen. Ist das erklärte Ergebnis zutreffend, gibt es keinen Grund für eine Verwerfung, eine Zuschätzung oder Sicherheitszuschläge.

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Zum Autor

JB
Dr. Jörg Burkhard

Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Strafrecht, Wiesbaden

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