Umsatzsteuer - 25. November 2021

Über den Mythos der Neutralität

Ist diese Steuerart immer gerecht, wenn ein und derselbe Sachverhalt beim Leistungserbringer und Leistungsempfänger umsatzsteuerlich unterschiedlich beurteilt werden und dies dann zu einer Doppelbelastung führen kann?

Das Grundprinzip in der Umsatzsteuer ist relativ einfach umschrieben: Die Besteuerung erfolgt zwar grundsätzlich auf jeder Wirtschaftsstufe, berechnet nach dem jeweiligen Entgelt (Allphasen-Netto-Umsatzsteuer), wirtschaftlich wirkt sie aber als eine Endverbrauchsteuer (zum Meinungsstand siehe Studie in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz – UStG, Einf. Rz. 97ff. – Januar 2020), da effektiv allein die private Endabnehmerin beziehungsweise der private Endabnehmer mit der Umsatzsteuer belastet bleibt. Der Unternehmer selbst wird dagegen durch die mittels eines Vorsteuerabzugs erfolgte Ent­lastung von der im Preis entrichteten Umsatzsteuer nicht mit dieser Steuer belastet. Die Kombination von im Preis über­wälzter Umsatzsteuer sowie der Möglichkeit des Vorsteuerab­zugs aus der Eingangsleistung führt in der Theorie dazu, dass die Umsatzsteuer für den Unternehmer zu keiner betriebli­chen Belastung führt, also neutral ist. Bereits im Jahr 2005 hat der Europäische Gerichtshof hierzu festgestellt, dass der Un­ternehmer aufgrund dessen lediglich als Steuereinsammler fungiert, er quasi als Erfüllungsgehilfe des Staats in Bezug auf die Umsatzsteuer auftritt (BFH, Urteil vom 24.10.2013 – V R 31/12 – Tz. 21; EuGH, Urteil vom 21.02.2008 – Rs. C-271/06 – Netto Supermarkt – Rdnr. 21).

Steuerliche Neutralität

Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Mehrwertsteu­er stellt einen fundamentalen Grundsatz des harmonisierten Mehrwertsteuersystems dar, man vergleiche die Erwägungsgründe 4, 5 und 7 der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie (MwStSystRL). Dieser Grundsatz besagt, dass die Umsatzsteuerbelastung für den Unternehmer grundsätzlich neutral bleiben muss, sie also nicht zu einem wettbewerbsbe­einflussenden Faktor werden darf [ausführlich hierzu m. w. N. Reiß, Die harmonisierte Umsatzsteuer im nationalen Wirt­schaftsverkehr – Widerspruch, Lücken und Harmonisierungs­bedarf, in Seer (Hrsg.), Umsatzsteuer im Europäischen Bin­nenmarkt, DStJG 32, 9ff., 14; vgl. auch EuGH, Urteil vom 21.03.2000 – Rs. C-110/98 – Gabalfrisa Sl u. a.].

Betrugsanfälligkeit

Das Auseinanderfallen von Umsatzsteuer beim leistenden Un­ternehmer und dem Vorsteuerabzug beim Leistungsempfän­ger führt dazu, dass die Umsatzsteuer anfällig für Betrugsfälle ist. Die Inanspruchnahme der Vorteile, die das System gewährt, Vorteile wie etwa die Steuerbefreiung oder der Vorsteuerabzug, erfolgt systemimmanent ohne korrespon­dierende umsatzsteuerliche Bewertung beim Leistungspartner. Dadurch ergibt sich ein Missbrauchspotenzial, das für Deutsch­land mit circa 25 Milliarden und europaweit mit etwa 150 Milliarden Euro pro Jahr ver­anschlagt wird (vgl. hierzu BT-Drucks. 14/7085 sowie den Bericht des Bundes­rechnungshofs über die Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermei­dung – Vorschläge an den Gesetzgeber vom 03.09.2003, BT-Drucks. 14/1495).

EuGH-Missbrauchsrechtsprechung

Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht ist grundsätzlich nicht erlaubt. Geprägt von die­ser Vorgabe versagt der EuGH einem Steuerpflichtigen für die an ihn ausgeführte Lieferung den Vorsteuerabzug und kumu­lativ die Steuerbefreiung für den von ihm anschließend ausge­führten Umsatz, wenn der Steuerpflichtige entweder selbst eine Steuerhinterziehung begeht oder wusste oder hätte wis­sen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligt hat, der in eine von einem anderen Wirtschaftsteil­nehmer begangene Steuerhinterziehung einbezogen war, ba­sierend auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Um­satzstufe der Lieferkette (EuGH, Urteil vom 18.12.2014 – C-131/13, C-163/13 und C-164/13 – Schoenimport „Italmoda“ Mariano Previti vof, Turbo.com BV und Turbo.com Mobile Phone´s BV). Die Anwendung des Unionsrechts ist nach Auf­fassung des EuGH ausgeschlossen, wenn der Unternehmer Umsätze nur zu dem Zweck tätigt, um missbräuchlich aus dem Unionsrecht Vorteile zu ziehen. Der EuGH versteht seine Aus­sagen zum Umsatzsteuermissbrauch als Folgerungen eines allgemeinen Rechtsschutzcharakters. Dieser allgemeine Rechtsschutzcharakter beinhaltet den Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken in verschiedenen Bereichen des Unionsrechts, unter anderem im Gesellschaftsrecht, dem Recht der gemeinsamen Agrarpolitik oder eben auch der Mehrwertsteuer (EuGH, Urteil vom 22.11.2017 – C-251/16 – Cussens, UR 2018, S. 241, Rz. 29).

Reaktion des nationalen Gesetzgebers

Der deutsche Gesetzgeber hat mit Wirkung zum 1. Januar 2020 diese sogenannte Missbrauchsrechtsprechung des EuGH mit Einfügung eines neuen § 25f Umsatzsteuergesetz (UStG) in das nationale Recht umgesetzt. § 25f UStG versagt einem Unternehmer die Steuerbefreiung als innergemein­schaftliche Lieferung sowie den Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 UStG, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit der von ihm erbrachten Leistung an einem Um­satz beteiligt ist, bei dem der Leistende oder ein anderer Beteiligter auf einer vor­hergehenden oder nachfolgenden Umsatz­stufe in eine begangene Hinterziehung von Umsatzsteuer, der Erlangung eines unge­rechtfertigten Vorsteuerabzugs oder in die Schädigung des Umsatzsteueraufkommens involviert ist. Das Verbot rechtsmissbräuch­lichen Handelns verlangt neben den objek­tiven Voraussetzungen der Beteiligung an einer betrugsbehaf­teten Leistungskette zusätzlich das subjektive Element des Wissens oder des Hätte-wissen-Müssens. Die Beweislast für das subjektive Element der Kenntnis vom Mehrwertsteuerbe­trug liegt zwar bei den Finanzbehörden (EuGH, Urteil vom 06.09.2012 – C-273/11 – Mecsek-Gabona; EuGH, Urteil vom 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 – Mahagében und Dávid und EuGH, Urteil vom 13.03.2014 – C-107/13 – FIRIN), jedoch können sich die Mitgliedstaaten dennoch für den Nachweis der Kenntnis oder des des Kennen-Müssens auf – allerdings widerlegbare – Vermutungen stützen, wenn damit auch eine Versagung des Vorsteuerabzugs sowie der Steuerbefreiung verschuldensunabhängig ausgeschlossen ist (EuGH, Urteil vom 11.05.2006 – C-384/04 – Federation of Technological In­dustries). Was bedeutet das für die Praxis? In Zukunft muss ein Unternehmer, der eine Leistung unterhalb marktüblicher Bedingungen einkauft, sich der Vermutung ausgesetzt sehen, dass er bei einem vorangegangenen Betrug durch andere Un­ternehmer von diesem Betrug wusste oder hätte wissen müs­sen. Die Versagung des Vorsteuerabzugs und/oder der Steuer­befreiung einer nachfolgenden EU-grenzüberschreitenden Lieferung wäre die Konsequenz, und dies, obwohl er gegebe­nenfalls an dem Betrug überhaupt nicht aktiv teilgenommen oder gar partizipiert hätte. Kann der Unternehmer in diesen Fällen den Gegenbeweis nicht erbringen, wird er mit der nicht abziehbaren Vorsteuer und/oder der Steuerpflicht seiner in­nergemeinschaftlichen Lieferung belastet. Die Umsatzsteuer wird zum Kostenfaktor und der Grundsatz von der Neutralität der Umsatzsteuer greift nicht mehr.

Mangelnde Kohärenz

Die Aushebelung des Neutralitätsgrundsatzes als Folge der Eu­GH-Missbrauchsrechtsprechung kann unter Steuergerechtig­keitsgesichtspunkten noch mit dem Anspruch eines am System ausgerichteten steuerehrlichen Verhaltens begründet werden. Immerhin setzt die Versagung der umsatzsteuerlichen Vorteile infolge missbräuchlichen Verhaltens subjektiv das Wissen oder Wissen-Müssen einer missbrauchsbehafteten Tat voraus. Prob­lematisch wird der Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz aber dann, wenn die wettbewerbswidrige Belastung des Unter­nehmers bloße Folge einer unterschiedlichen Bewertung ein und desselben Sachverhalts einmal durch die Finanzbehörde des leistenden Unternehmers und zum anderen durch die des Leistungsempfängers ist. Die Legalisierung dieses Phänomens folgt aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ADV Allround Vermittlungs AG (EuGH, Urteil vom 26.01.2012 – C-218/10). Umstritten war hier die umsatzsteuerlich zutreffende Beurteilung der Vermittlungsleistung eines in Deutschland an­sässigen Unternehmers als entweder in Deutschland steuerbare und steuerpflichtige oder als nicht im Inland steuerbare sonsti­ge Leistung. Leistungsempfänger war ein in Italien ansässiges Unternehmen. Während das Finanzamt des Unternehmers die Leistung der Umsatzsteuer unterwarf, versagte das Bundeszen­tralamt für Steuern im Vorsteuervergütungsverfahren den Vor­steuerabzug des in der Rechnung ausgewiesenen Umsatz­steuerbetrags. Die Leistung sei nicht im Inland steuerbar und löse deswegen mangels einer gesetzlich geschuldeten (deutschen) Umsatzsteuer keinen Vorsteuerabzug aus. Der Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz liegt auf der Hand: Die im Preis bezahlte, aber nicht als Vorsteuer abziehbare Um­satzsteuer auf die Vermittlungsleistung wird beim italienischen Leistungsempfänger zum Kostenfaktor, obwohl er nicht als pri­vater Endverbraucher auftritt. Dennoch bestätigt der EuGH im Ergebnis die divergierende umsatzsteuerliche Beurteilung ein und desselben Sachverhalts durch verschiedene Finanzbehör­den. Er bestätigt zunächst, dass die Vermittlungsleistung sehr wohl im Inland steuerbar und steuerpflichtig ausgeführt worden sei. Die divergierende Vorsteuerbeurteilung rechtfertigt er aus dem Gesichtspunkt, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten nicht vorschreibe, ihr nationales Verfahrensrecht so auszuge­stalten, dass die Steuerbarkeit sowie Steuerpflicht einer Leis­tung beim Leistungserbringer und beim Leistungsempfänger in kohärenter Weise beurteilt werden müsse. Vielmehr müssten nur die erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um die korrekte Erhebung der Umsatzsteuer sicherzustellen.

Konsequenzen

Es gibt im materiellen Umsatzsteuerrecht kein Recht auf Ge­genseitigkeit in der Beurteilung der Leistung aus Sicht des Leistungserbringers sowie des Leistungsempfängers. Auch das Verfahrensrecht beinhaltet keine Regelungen zur Vermei­dung inhaltlich einander widersprechender Beurteilungen. Daher bleibt es dabei, dass der Vorsteuerabzug unabhängig von der konkreten Behandlung und Durchsetzung des Steuer­anspruchs beim Leistungserbringer zu beurteilen ist. Unbe­achtlich ist damit für den Vorsteuerabzug auch, ob die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Leistungen betreffen­de Umsatzsteuer tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde (Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 08.07.2021 – C-156/20 – Zipvit Ltd.). Konsequenterweise kann ein und der­selbe Sachverhalt umsatzsteuerlich beim Leistungserbringer und Leistungsempfänger unterschiedlich beurteilt werden und so zu einer Doppelbelastung führen. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität ist folglich systemimmanent.

Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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