Umsatzsteuer - 24. August 2023

Fiskus kontra Justiz

Die Grundsätze der EuGH- beziehungsweise BFH-Rechtsprechung zum Vorsteuerabzug bei Geschäften zwischen zwei Unternehmen sind fraglich. Grund ist ein Nichtanwendungserlass der deutschen Finanzverwaltung.

Das Szenario lässt sich simpel beschreiben und kommt so oder so ähnlich oft vor: Beide Leistungspartner gehen von einem steuerpflichtigen Umsatz aus. Der Leistende erbringt seine Leistung, fakturiert den Nettopreis zuzüglich Umsatzsteuer und der Leistungsempfänger zahlt den vollen vereinbarten Preis. Während der Leistende die fakturierte und erhaltene Umsatzsteuer an den Fiskus abführt, macht der Leistungsempfänger auf Grundlage der Rechnung den Vorsteuerabzug geltend. Drei bis vier Jahre später kommt die Finanzverwaltung auf die Idee, dass der Umsatz tatsächlich nicht steuerbar, steuerfrei oder nur mit 7 statt mit 19 Prozent steuerpflichtig war, und versagt dem Leistungsempfänger nach einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung den anteiligen Vorsteuerabzug. Der Leistungsempfänger zahlt nach entsprechender Berichtigung die zu viel abgezogene Vorsteuer an den Fiskus zurück und versucht, jetzt bei seinem Leistenden und Rechnungsaussteller über eine Rechnungskorrektur die zu viel im Preis bezahlte Umsatzsteuer zurückzuerlangen.
Genau dies lehnt der Leistende jedoch ab. Seine Motive können vielschichtig sein. Vielleicht ist er bereits zahlungsunfähig und kann schon deshalb die Rückzahlung nicht vornehmen, vielleicht beruft er sich aber auch schlicht auf die zivilrechtliche Einrede der Verjährung oder er hat schlicht kein Interesse an einer Berichtigung, die er gegenüber seinem Finanzamt begründen müsste, weil zum Beispiel seine Umsatzsteuer-Veranlagung bereits festsetzungsverjährt bestandskräftig ist.

Bloßer Steuereinsammler? Von wegen!

Das nationale wie unionsrechtliche System der Umsatzsteuer ist als allgemeine Verbrauchsteuer so konzipiert, dass wirtschaftlich nur private, nicht vorsteuerabzugsberechtigte Konsumentinnen und Konsumenten mit der Umsatzsteuer belastet werden sollen, nicht aber der Unternehmer. Für Letzteren soll die Umsatzsteuer grundsätzlich belastungsneutral sein. Die systematische Ausgestaltung der Umsatzsteuer mit einem Unternehmer als bloßem Steuereinsammler (EuGH-Urteil vom 29.11.2018 – C-548/17 – baumgarten sports & more, UR 2019, 70 m. Anm. Stadie; EuGH-Urteil vom 28.10.2021 – C-324/20 – X-Beteiligungsgesellschaft, UR 2021, 908 m. Anm. Rust) ist mit dem voranstehend beschriebenen Szenario nicht vereinbar. Der eine Unternehmer bleibt mit einer Steuer belastet, die ihn gar nicht treffen soll. Wenn schon Neutralität der Umsatzsteuer, dann sollte sie gerade auch in diesen Fällen gelten.

Welche Möglichkeiten bleiben?

Es leuchtet unweigerlich ein, dass dem Leistungsempfänger aus kostenneutraler Sicht nicht wirklich viele Möglichkeiten bleiben. Er kann es natürlich auf einen zivilrechtlichen Streit ankommen lassen und im Falle einer erhobenen Einrede der Verjährung den Beginn der Verjährung gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) kritisch hinterfragen. Aber eine solche Zivilrechtsklage kostet Zeit, Geld und Nerven. Im Falle der Zahlungsunfähigkeit und einer eventuell schon eingetretenen Insolvenz scheidet aber auch diese theoretische Möglichkeit aus.

EuGH-Rechtsprechung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) löst dieses systematische Dilemma mit einem Zwar, aber: Zwar wird der Leistungsempfänger grundsätzlich auf den Zivilrechtsweg verwiesen wenn er die Erstattung einer zu Unrecht an den Leistenden entrichteten Umsatzsteuer begehrt. Ist jedoch festzustellen, dass die Erstattung einer vom Leistungsempfänger an den Leistenden zu Unrecht entrichteten Umsatzsteuer „unmöglich oder übermäßig erschwert wird, insbesondere im Falle einer Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers“ (EuGH-Urteil vom 15.03.2007 – C-35/05 – Reemtsma Cigarettenfabriken, UR 2007, 343 – Rdnr. 41), verlangen die Grundsätze der Neutralität und Effektivität, dem Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung unmittelbar gegenüber dem Fiskus zu gewähren (vgl. hierzu zuletzt EuGH-Urteil vom 26.04.2017 – C-564/15 – Farkas, UR 2017, 438; EuGH-Urteil vom 11.04.2019 – C-691/17 – PORR, UR 2019, 502; EuGH-Urteil vom 10.07.2019 – C-273/18 – Kuršu zeme, UR 2019, 697; EuGH-Urteil vom 13.10.2022 – C-397/21 – HUMDA, UR 2023, 290).

Direktanspruch gegen den Fiskus

Genau dies ist der Ansatz des sogenannten Direktanspruchs des Leistungsempfängers gegenüber der Finanzbehörde, von der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) im Billigkeitswege als Erlassanspruch konzipiert (BFHUrteil vom 22.08.2019 – V R 50/16, BStBl. II 2022, 290 – Tz. 16; BFH-Urteil vom 30.06.2015 – VII R 30/14, BFHE 250, 34 – Tz. 23, 24). Die Reaktion der Verwaltung (BMF-Schreiben vom 12.04.2022 – III C 2 – S 7358/20/10001 :004; DOK 2022/0385137) fiel sehr spät aus und hat diesen Anspruch letztlich negiert, indem sie de facto die Rechtsprechung des EuGH zum sogenannten Direktanspruch mit einem Nichtanwendungserlass belegte. Damit ist ein Direktanspruch gegen den Fiskus weiter fraglich. Zwei Vorlagen zum EuGH (FG Münster, Rs. Schütte, EuGH, C-453/22; BFH, Beschluss vom 03.11.2022 – XI R 6/21, UR 2023, 285) sollen nun Rechtsklarheit schaffen.

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Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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