EuGH-Rechtsprechung - 22. Dezember 2022

Einfuhrumsatzsteuer ohne Zoll?

Eine jüngere Entscheidung des höchsten europäischen Gerichts wirft mehr Fragen auf, als Antworten zu geben. Handelt es sich dabei um eine Einzelfallentscheidung oder tatsächlich um eine Abkehr vom bisherigen Wirtschaftskreislaufgedanken?

Zugegeben, das Thema wirkt sperrig. Aber es betrifft zahlreiche Importunternehmen und Logistikdienstleis­ter. Gemeint sind Einfuhren aus Drittländern in die Europäi­sche Union (EU) oder nach Deutschland. Jedoch nicht jene Fälle, bei denen alles glattgeht, sondern die, bei denen etwas schiefgegangen ist, also Fehler passiert sind, rechtlich ge­sprochen Zollverstöße begangen wurden, die in der Praxis angesichts der Komplexität der zollrechtlichen Vorschriften auf vielfältige Art und Weise immer wieder auftreten. Aus Sicht der Einfuhrumsatzsteuer (EUSt) stellen sich folgende Fragen: Begründet ein Zollverstoß eine Einfuhrumsatzsteu­erschuld? Und entfällt diese, wenn die Zollschuld wegfällt? Zur Lösung dieser Fragen hat sich in der Rechtsprechung der sogenannte Wirtschaftskreislaufgedanke entwickelt. Der Be­griff ist jedoch schwer fassbar, dementsprechend kasuistisch sind die bisher ergangenen Urteile. Die jüngste Rechtspre­chung hat ebenfalls keine Klarheit gebracht, sondern mehr Fragen aufgeworfen.

EUSt und Zoll sind nicht untrennbar

Die EUSt-Schuldentstehung richtet sich bei Zollverstößen nach § 21 Abs. 2 Umsatzsteuergesetz (UStG) in Verbindung mit Art. 79 Unionszollkodex (UZK). Nach der seit 2016 etab­lierten ständigen Rechtsprechung des Europäischen Ge­richtshofs (EuGH) ist diese Verknüpfung jedoch durchaus nicht zwingend (vgl. EuGH 02.06.2016, Rs. C-226/14 und C-228/14, Eurogate Distribution; 01.06.2017, Rs. C-571/15, Wallenborn Transports; 10.07.2019, Rs. C-26/18, Federal Express). Vielmehr setzt eine EUSt-Schuldentstehung vor­aus, dass die betreffenden Waren in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt sind und somit einem Verbrauch, also einem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten. Die Entstehung von Zoll- und EUSt-Schuld können nach der EuGH-Rechtsprechung also durchaus auseinander­fallen.

Eingang in den Wirtschaftskreislauf

Veranschaulicht werden kann der Wirtschaftskreislaufge­danke anhand des EuGH-Urteils in der Rs. Federal Express. Dabei ging es um den Transport von Waren aus Drittlän­dern, die über Deutschland vorschriftswidrig ins Zollgebiet der Union verbracht und in weiterer Folge an den Bestim­mungsort nach Griechenland befördert wurden. Eine EUSt-Schuldentstehung setzt nach Ansicht des EuGH voraus, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt sein müssen. Dabei ist grundsätzlich zu vermu­ten, dass die Waren in jenem Mitgliedstaat in den Wirt­schaftskreislauf eingegangen sind, in dem das Fehlverhal­ten erfolgte. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt wer­den. Sofern nachgewiesen werden kann, dass trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens ein Gegenstand erst im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats (Bestimmungsland) in den Wirtschaftskreis­lauf der EU gelangt ist beziehungsweise ge­langen soll, entsteht die EUSt-Schuld nur im Bestimmungsland. Denn die EUSt kann nur einmal entstehen. Dies gilt auch dann, wenn die Zollschuld in einem anderen Mitglied­staat entstanden ist. Im konkreten Fall wur­de die Ware trotz Zollverstoß unzweifelhaft nicht in Deutschland verbraucht, sondern nach Griechenland transportiert und ist erst dort in den Wirtschaftskreislauf eingegangen. Dem­entsprechend war die EUSt nicht in Deutschland, son­dern in Griechenland festzusetzen.

Umsetzung durch deutsche Gerichte

Der Wirtschaftskreislaufgedanke wurde bereits von den deutschen Finanzgerichten (FG) aufgegriffen. Das FG Ham­burg bestätigte, dass selbst die Beeinträchtigung von zoll­amtlichen Kontrollmöglichkeiten, die sich zwingend aus der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung ergebe, nicht das Entstehen der EUSt-Schuld rechtfertige und dass die EUSt-Schuld nur bei Eingang der Ware in den Wirt­schaftskreislauf der Union entstehe (Urteil vom 19.11.2019, 4 K 250/16). Zudem dürfe der Nachweis des Eingangs der Ware in den Wirtschaftskreislauf eines anderen EU-Mit­gliedstaats oder eines Drittstaats nicht an die Versteuerung dieses Gegenstands in diesem Staat geknüpft werden, so­fern dieser Nachweis bereits anderweitig geführt werden könne, etwa indem nachgewiesen werde, dass die Gegen­stände an ihren endgültigen Bestimmungsort befördert wurden. Das FG München konkretisierte, dass es für die Verwirklichung des Einfuhrtatbestands nicht ausreiche, wenn Gegenstände körperlich in das Gebiet der EU gelan­gen (Urteil vom 09.04.2019, 14 K 408/17). Gegenstände ge­langen insbesondere dann in den Wirtschaftskreislauf der EU, wenn ihre Verwendung die Güter-, Dienstleistungs- und Geldbewegungen zwischen den Wirtschaftssubjekten, ins­besondere Unternehmen, privaten Haushalten, Banken und Versicherungen sowie staatlichen Stellen, beeinflusst. So gelangt ein Flugzeug, das zur Personenbeförderung auf In­landsflügen eingesetzt wird, in den Wirtschaftskreislauf, nicht aber ein Flugzeug, das nach kurzem Aufenthalt wieder in die Schweiz zurückkehrt. Die EUSt entsteht erst, wenn das Flugzeug mit zumindest einer Passagierin oder einem Passagier in Richtung Beförderungsziel abhebt, weil erst mit dem Start eine steuerbare Dienstleistung erbracht wer­de, so das FG Hamburg (Urteil vom 04.05.2020, 4 V 28/20). Dieser Grundsatz greift nach dem FG Baden-Württemberg auch, wenn ein Fahrzeug nach kurzer Fahrt zum Übergabe­ort in einem Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf ge­langt (Urteil vom 22.10.2019, 11 K 2256/17). Das FG Ham­burg entschied, dass die jüngere EuGH-Rechtsprechung zur EUSt-Schuldentstehung, insbesondere die Rs. Federal Ex­press, auch auf das vorschriftswidrige Verbringen von Wa­ren, die für einen anderen Mitgliedstaat bestimmt sind, an­wendbar sei, wenn diese im Erhebungsmitgliedstaat be­schlagnahmt werden (Urteil vom 14.01.2020, 4 K 123/15). Eine EUSt-Schuld entstehe nur, wenn eine Ware vor der Si­cherstellung im Erhebungsgebiet dort in den Wirtschafts­kreislauf der EU eingegangen sei. Dies setze eine über den Transit hinausgehende Behandlung der Ware voraus, die zur Entstehung eines steuerbaren Umsatzes geführt habe oder führen würde. Das FG Hamburg betonte weiter, dass durch eine Beschlagnahme die Ware zwar nicht räumlich aus einem Mitgliedstaat verbracht werde, jedoch durch das öffentlich-rechtliche Verfügungsverbot gleichwohl – genau wie bei der Wiederausfuhr oder einer Verbringung – dem Wirtschaftskreislauf des Erhebungsmitgliedstaats entzogen werde. Schließlich hielt das FG Hamburg fest, dass nach der EuGH-Rechtsprechung Waren, die einer zollamtlichen Überwachung entzogen oder vorschriftswidrig verbracht werden, diese in dem Mitgliedstaat, in dem die Entziehung oder die Verbringung stattgefunden habe, in den Wirt­schaftskreislauf der EU gelangen (Urteil vom 04.06.2021, 4 K 135/17). Allerdings handle es sich bei dieser Annahme lediglich um eine gesetzliche Vermutung, die widerlegt werden könne. Der Beweis des Gegenteils sei erst erbracht, wenn nachgewiesen werde, dass trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens ein Gegenstand im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats, in dem dieser Gegenstand zum Verbrauch bestimmt war, in den Wirtschaftskreislauf der EU gelangt sei. In der Folge trete der Tatbestand der Einfuhr in diesem anderen Mitgliedstaat ein. Diese Grundsätze gelten nach Ansicht des FG Hamburg auch im vorliegenden Fall des vor­schriftswidrigen Verbringens.

Kritik an der Umsetzung

Im deutschen Schrifttum wurde die Rechtsprechungslinie zum Eingang in den Wirtschaftskreislauf und deren Rezepti­on durch die deutschen FG auch kritisiert (vgl. Thaler, Die Rechtsprechung des EuGH zum Einfuhrumsatzsteuerrecht – ein aktueller Sachstand, ZfZ 2021, 172 f.). Würde bei einem Schmuggel die ohne Zollanmeldung geschmuggelte und da­her unter Zollverstoß verbrachte Ware durch die Täter wei­terbefördert, wäre es den Tätern nach der Rechtsprechung des FG Hamburg möglich, durch den Nachweis des geplan­ten Transits in einen anderen Mitgliedstaat oder in ein Dritt­land die Summe der hinterzogenen EUSt auf null zu reduzie­ren, da diese ja nicht in Deutschland entstanden sei. Darüber hinaus bestünde das Risiko, dass Täter sich durch eine ent­sprechende Argumentation vor den Strafgerichten auch bei Sicherstellung der Ware an der ersten Eingangszollstelle von der im Raum stehenden (Versuchs-)Strafbarkeit für die Hin­terziehung der EUSt entlasten können, indem sie den zumin­dest geplanten Transit in einen anderen Mitgliedstaat oder in ein Drittland nachweisen.

Abkehr vom Wirtschaftskreislaufgedanken?

Das jüngste EuGH-Urteil vom 7. April 2022 ist ein Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung zum Wirtschaftskreislaufge­danken (Rs. C-489/20, UB). Laut zu­grunde liegendem Sachverhalt wurden verbrauchsteuerpflichtige Waren aus Weißrussland nach Litauen geschmug­gelt. Dabei wurden Zigaretten über die Staatsgrenze geworfen und in Besitz genommen. Am selben Tag wurde das Kraftfahrzeug, das die Zigaretten inner­halb Litauens transportierte, von Grenz­beamten angehalten und man beschlag­nahmte die Zigaretten. Im weiteren Verlauf wurde eine Geldstrafe verhängt und die Einziehung und Vernichtung der Zigaretten angeord­net, die ein Jahr nach der Beschlagnahme erfolgte. Die litaui­schen Zollbehörden schrieben Verbrauchs- und Einfuhrum­satzsteuer vor. Zoll hingegen wurde nicht vorgeschrieben, da nach Ansicht des litauischen Zollamts die Zollschuld nach Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK erloschen sei. Der EuGH führt in seinem Urteil aus, die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL) enthalte keine Bestimmung, die ein Erlöschen der EUSt-Schuld im Falle des Erlöschens der Zollschuld für Schmuggelware im Sinne von Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK vor­sehe. Daraus folge, dass die einmal entstandene EUSt für sol­che Waren fortbestehe. Das Erlöschen der entsprechenden Zollschuld sei insoweit für die EUSt ohne Bedeutung.

Folgerungen

Der EuGH begründet die Nichtanwendbarkeit des Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK in seinem jüngsten Urteil in der Rs. UB im Wesentlichen damit, dass die MwStSystRL keine entspre­chende Vorschrift enthält. Aus dem vorliegenden Urteil fol­gert er für die Auslegung des § 21 Abs. 2 UStG, dass dieser in den Fällen des Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK nicht anzuwen­den sei. Mit anderen Worten läuft die Verweisung auf diesen zollrechtlichen Erlöschenstatbestand ins Leere und die EUSt-Schuld bleibt bestehen. Eine weitergehende Frage ist daher naheliegend: Ist das vorliegende Urteil dahingehend zu verstehen, dass auch die anderen Erlöschenstatbestände des Art. 124 UZK nicht auf die EUSt anwendbar sein sollen? Denn die MwStSystRL enthält hier ebenfalls keine vergleich­baren Bestimmungen. Das österreichische Bundesfinanzge­richt (BFG) hat anknüpfend an das EuGH-Urteil vom 7. April 2022 jüngst entschieden, dass es bei einem Erlöschen der Zollschuld nach Art. 124 Abs. 1 lit. h UZK nicht zu einem Er­löschen der EUSt-Schuld kommt (BFG-Erkenntnis vom 29.06.2022, RV/6200006/2018).

Fazit

Die Feststellungen des EuGH in der Rs. UB werfen insbeson­dere für den Bereich der EUSt mehr zusätzliche Fragen auf als zur Klärung beizutragen. Einerseits könnte man die Fest­stellungen des EuGH so interpretieren, dass er – entsprechend der Systematik des Vorabentscheidungsverfahrens – im vorliegenden Fall nur auf die expli­zit vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zur Anwendung des Art. 124 Abs. 1 lit. e UZK für den Bereich der EUSt eingegangen sei. Im Übrigen wäre er aber seine bisherige Recht­sprechung zum Eingang der Ware in den Wirtschaftskreislauf als Grundvor­aussetzung für das Entstehen einer Einfuhrumsatzsteuerschuld unberührt geblieben (s. Bieber/Pichler/Summersberger, Einfuhrumsatzsteuer ohne Zoll: Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH zum Wirt­schaftskreislaufgedanken, SWI 2022, 304 ff.). Andererseits könnte man die Ausführungen des EuGH jedoch auch dahin­gehend interpretieren, dass er das in seiner bisherigen Judi­katurlinie zum Ausdruck gebrachte Erfordernis des Ein­gangs in den Wirtschaftskreislauf als Grundvoraussetzung für die Entstehung einer EUSt-Schuld (bewusst) aufgeben wollte. Dies würde aber bedeuten, dass künftig auch dann eine EUSt-Schuld entstehen könnte, selbst wenn von einem tatsächlichen Eingehen in einen Wirtschaftskreislauf nicht mehr die Rede sein kann. Ob es sich beim Urteil in der Rs. UB um eine Abkehr vom Wirtschaftskreislaufgedanken oder um eine Einzelfallentscheidung handelt, muss an dieser Stel­le offenbleiben. Insoweit ist die weitere Entwicklung in der Judikatur abzuwarten.

Zu den Autoren

TB
Prof. Dr. Thomas Bieber

Professor für Steuerrecht sowie Vorstand des Instituts für Finanzrecht, Steuerrecht und Steuerpolitik an der Johannes Kepler Universität Linz

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PP
Dr. Peter Pichler

Steuerberater und Partner bei LeitnerLeitner Wirtschaftsprüfer Steuerberater in Linz

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