Patient Mittelstand - 30. September 2021

Es ging an die Substanz

Die aufgrund der Corona-Krise aufgesetzten Hilfsprogramme von Bund und Ländern konnten einigen betroffenen mittelständischen Unternehmen nur bedingt helfen. Nicht wenige waren gezwungen, ihre Rücklagen beziehungsweise die Altersvorsorge anzugreifen.

Es begann zunächst vielversprechend. Die erste und originäre Soforthilfe beim ersten Lockdown im März/April 2020 kam tatsächlich bis zu den ersten massenhaften Missbrauchsfällen unbürokratisch und zügig zur Auszahlung. Bei den nachfolgenden Programmen setzte sich dieser Trend aber bedauerlicherweise nicht fort. Die Verzögerungen bei der Bearbeitung beziehungsweise Auszahlung führten deshalb zu Unmut, nicht nur bei den Beratern, sondern auch bei deren Mandanten. Die aktuelle Bearbeitungsweise ist das exakte Gegenteil von einfach und unbürokratisch.

Massenhafte Geschäftsaufgaben verhindert

Meine Wahrnehmung ist, dass in den vergangenen eineinhalb Jahren durch die Hilfsprogramme in Kombination insbesondere mit dem modifizierten Kurzarbeitergeld und den KfW-Krediten dennoch ein massenhaftes Unternehmenssterben sowie Geschäftsaufgaben bis heute zumindest hinausgezögert werden konnten. Ob dies jedoch tatsächlich an den staatlichen Hilfen lag oder primär an der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht, wird erst eine umfassende Analyse im Nachhinein zeigen.

Staatliche Hilfen eine dauerhafte Herausforderung

Über den technischen Aufbau der Hilfsprogramme will ich mich nicht äußern. Inhaltlich jedoch erschwerten zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe unnötigerweise eine operative Umsetzung. Denn von uns Beratern wurde erwartet, dass wir auf Basis sich ständig ändernder FAQ und einer Vielzahl von neuen, nicht präzise definierten, unbestimmten Rechtsbegriffen strafrechtlich erhebliche Angaben machen. Wann ist eine Instandhaltung erforderlich? Wann ist ein Umsatz ein Corona-bedingter Notverkauf? Was sind genau Digitalisierungs- und Hygienekosten? In welchen Fällen stellt sich eine Betriebsaufspaltung nicht als verbundenes Unternehmen dar, sondern als reine Vermögensverwaltung? Sind Zahlungen an eine natürliche Person im Rahmen einer Betriebsaufspaltung als Mieten förderfähig oder nicht? Ist ein Soloselbstständiger im Nebenerwerb antragsberechtigt und hat der Soloselbstständige mit einem Minijobber Anspruch auf 20 Prozent Sachkostenzuschlag Personal? Hinzu kam, dass die von uns gewissenhaft ermittelten Zahlen zum Teil penibel nachgeprüft sowie von uns Versicherungen über unklare Rechtsfolgen statt über subventionserhebliche Tatsachen verlangt wurden.

Mit den Hilfen allein war es nicht getan

Viele oder zumindest die meisten Betriebe mussten also trotz der staatlichen Hilfen dennoch ihre Rücklagen angreifen. Der Vermieter, die Versicherung oder eine Leasing-Gesellschaft warteten nicht mal eben sechs Monate lang auf ihre Beiträge, bis die von der Politik per Pressemitteilung angekündigten Programmkonditionen entwickelt beziehungsweise veröffentlicht waren, zumal dann noch weitere Wochen der Bearbeitung hinzukamen. Von der Ankündigung der Überbrückungshilfe bis zur Veröffentlichung der FAQ sowie des Portals im Februar 2021 vergingen allein fast zwei Monate. Fakt ist daher, dass viele Unternehmen ihre eigentlich für Investitionen oder die Altersvorsorge vorgesehenen Rücklagen bis heute vollständig aufgebraucht haben und in der Zwischenzeit trotz oder gerade wegen der Ausgestaltung und zögerlichen beziehungsweise verspäteten Auszahlung der Hilfen mit dem Rücken zur Wand stehen.

Insolvenzwelle blieb bislang aus

Gleichwohl waren bisher nicht so viele Unternehmen wie befürchtet von einer Insolvenz betroffen. Laut einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts (Destatis) vom 31. März 2021 haben die deutschen Amtsgerichte 2020 circa 16.000 Unternehmensinsolvenzen gemeldet. Klingt viel, das waren aber nach Angaben des Statistischen Bundesamts 15,5 Prozent weniger als 2019. Die Zahl der beantragten Unternehmensinsolvenzen sank damit auf den niedrigsten Stand seit Einführung der Insolvenzordnung im Jahr 1999. Diese Entwicklung ist maßgeblich durch die ausgesetzte Insolvenzantragspflicht während der Corona-Krise beeinflusst. Die durch die Pandemie verursachte wirtschaftliche Not vieler Unternehmen spiegelt sich somit zumindest bis zum Frühjahr 2021 nicht in einem Anstieg der gemeldeten Unternehmensinsolvenzen wider. Ein Grund dafür ist, dass die Insolvenzantragspflicht für überschuldete Unternehmen bis zum 31. Dezember 2020 ausgesetzt war. Ausgesetzt war die Insolvenzantragspflicht zudem bis Ende April 2021 für jene Unternehmen, bei denen die Auszahlung der seit dem 1. November 2020 vorgesehenen staatlichen Hilfeleistungen noch ausstand.

Zahl der Regelinsolvenzen aber gestiegen

Bei der vorläufigen Zahl der eröffneten Regelinsolvenzen im Februar 2021 deutet sich aber bereits eine Richtungsänderung an. Im Jahr 2020 zeigte sich eine stetig sinkende Zahl eröffneter Regelinsolvenzverfahren, bis sich im November (plus fünf Prozent) und Dezember (plus 18 Prozent) eine Trendwende abzeichnete. Diese Entwicklung wurde mit der vorläufigen Zahl für den Januar 2021 unterbrochen, als die Zahl der Verfahren um fünf Prozent gegenüber Dezember sank und damit 34 Prozent niedriger lag als im Januar 2020. Im Februar 2021 stieg die Zahl der Regelinsolvenzen nun wieder deutlich um 30 Prozent gegenüber Januar, lag aber immer noch um elf Prozent niedriger als im Februar 2020. Aktuelle Zahlen seit dem Ende der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht Ende April 2021 liegen noch nicht vor. Ich befürchte, dass eine ganze Reihe sogenannter Zombie-Unternehmen derzeit noch nicht sichtbar ist.

Anpassung der Geschäftsmodelle

Nicht allen Betrieben ist es zudem gelungen, ihr Geschäftsfeld anzupassen oder gar umzustellen. Am schnellsten und beeindruckendsten hatte wohl die Gastronomie auf die Schließung der stationären Bewirtschaftung reagiert, wenn auch nur zum Teil durch Digitalisierung. Hier war es auch interessant zu sehen, dass in der Bevölkerung ein gewisser Solidarisierungseffekt zu bemerken war. Ich selbst konnte in der Familie und im erweiterten privaten Umfeld feststellen, im letzten Jahr deutlich mehr Essen zur Mitnahme bestellt zu haben, als dies in normalen Zeiten der Fall war. Andere Branchen konnten aber nicht im gleichen Maße von diesem Effekt profitieren. Auch lassen sich eben nicht beliebige Geschäftsmodelle digitalisieren. Kampfsportschulen, Musikunterricht, Ballett- und Tanzschulen, Saunabetriebe, Schwimmbäder, Kosmetik- und Massagepraxen oder Veranstaltungen lassen sich eben nicht oder nur bedingt digitalisieren. Ballettunterricht oder Fitnessübungen per Videokonferenz sind leider nur ein schaler Abklatsch des regulären Erlebnisses.

Digitalisierung nach dem Zufallsprinzip

Daran ändert auch die mit der Gießkanne verteilte Digitalisierungsförderung im Rahmen der Überbrückungshilfe III nichts. Von der Digitalisierungsprämie, die wegen des großen Ansturms ab Januar 2021 im Losverfahren verteilt wurde, will ich gar nicht sprechen. Es ist einfach unvorstellbar, dass eine führende Industrienation die Digitalisierungsförderung nicht auf der Basis einer abgestimmten Strategie, sondern per Zufallsprinzip vornimmt.

Fazit

Meine Bilanz für die vergangenen eineinhalb Jahre fällt daher eher ernüchternd aus. Wir Steuerberater wurden von der Politik praktisch zwangsverpflichtet und haben uns der Herausforderung gestellt. Bereitgestellt wurden dann Hilfsprogramme, die zwangsläufig zu Verzögerungen bei der Bearbeitung beziehungsweise Auszahlung führten. Daher mussten viele oder zumindest die meisten Betriebe trotz der staatlichen Hilfen sowie unseres Engagements dennoch ihre Rücklagen angreifen.

Zum Autor

Lukas Hendricks

Steuerberater sowie Unternehmensberater in eigener Kanzlei in Bonn.

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