Virtuelle Verhandlungen - 27. Juli 2023

Gut Ding braucht Weile

Obwohl die Corona-Pandemie wie ein digitaler Booster in der Gerichtsbarkeit wirkte, stehen häufig auch heute noch Skepsis und weiterhin fehlende Technik einer flächendeckenden Digitalisierung in der Justiz entgegen.

Digitalisierung und Gerichtsbarkeit – ein Widerspruch in sich, so könnten böse Zungen oder Spötter sich vielleicht äußern. Doch ernsthaft: Ein starker Rechtsstaat braucht eine gut ausgestattete und leistungsfähige Justiz. „Unsere Justiz muss moderner, digitaler und bürgerfreundlicher werden. Videokonferenzen sollen deshalb ein selbstverständlicher Teil des Gerichtsalltags werden“, so jedenfalls heißt es auf der Homepage des Bundesministeriums der Justiz (BMJ). Wie ist es aber aktuell tatsächlich um den Stand der Digitalisierung in der Justiz – speziell der Arbeitsgerichtsbarkeit – bestellt? Was hat sich in Bezug auf die Digitalisierung getan, seit die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag Modernisierung und Digitalisierung in den Blick genommen hat? Wie hat sich die Corona-Pandemie ausgewirkt? Was bewirken der vom BMJ aufgelegte „Pakt für den digitalen Rechtsstaat und für die Digitalisierung der Justiz“ sowie die von der Bundesregierung verabschiedete Digitalstrategie? Und welche Neuerungen enthält der Referentenentwurf für ein Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten?

Maßnahmenpaket

Unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ hatte die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag 2021 Modernisierung und Digitalisierung (auch) der Justiz prominent unter anderem wie folgt in den Fokus gerückt: „Wir verstetigen mit den Ländern den Pakt für den Rechtsstaat und erweitern ihn um einen Digitalpakt für die Justiz. (…) Gerichtsverfahren sollen schneller und effizienter werden. Verhandlungen sollen online durchführbar sein, Beweisaufnahmen audio-visuell dokumentiert (…) werden.“ In der Folge hat das BMJ einen Pakt für den digitalen Rechtsstaat aufgelegt, um die Länder bei der Modernisierung und Digitalisierung ihrer Justiz zu unterstützen. Der Bund plant, in den kommenden Jahren bis zu 200 Millionen Euro für entsprechende Digitalisierungsprojekte zur Verfügung zu stellen. Im August 2022 hat die Bundesregierung eine neue Digitalstrategie beschlossen. Hinsichtlich der Digitalisierung in der Justiz wurde die Umsetzung effizienter Gerichtsverfahren, die rein digital stattfinden, als Ziel formuliert. In Deutschland soll danach bis 2025 unter anderem erreicht werden, dass einzelne Gerichte auf Basis einer neuen gesetzlichen Regelung vollständig digital geführte Zivilverfahren ausprobieren. Für Videoverhandlungen und Online-Termine wird man ein bundeseinheitliches Videoportal der Justiz nutzen. Das Konzept für eine bundesweite Justiz-Cloud steht vor der Umsetzung. All das soll dazu führen, dass Deutschland bei der Digitalisierung in der Justiz nicht länger hinterherhinkt.

Erheblicher Aufholbedarf

Im internationalen Vergleich, das zeigte schon das Justizbarometer 2021 der Europäischen Union (EU), rangiert Deutschland bei der Digitalisierung in der Justiz allenfalls im Mittelfeld. Was etwa den Online-Zugang zu Gerichten angeht, verzeichnet das Justizbarometer die Bundesrepublik Deutschland lediglich auf dem zwölften Platz. Es gibt also viel aufzuholen und dennoch fehlt es der deutschen Justiz immer noch an Grundlagen. So ist die elektronische Akte – die sogenannte eAkte – noch längst nicht überall eingeführt. Die Papierakte ist an vielen deutschen Gerichten noch immer gang und gäbe. Besonders der Föderalismus – die Justiz ist weitgehend Ländersache – scheint hier der Hemmschuh zu sein. Als Folge davon gibt es zurzeit drei verschiedene eAkten-Systeme sowie verschiedene Kommunikationsplattformen und Hardware-Umgebungen. Derzeit hinken manche Bundesländer deshalb der Einführung der eAkte erheblich hinterher. Andere sind bei der Einführung der eAkte dagegen schon sehr weit. So sind mittlerweile alle baden-württembergischen Fachgerichte, also Arbeits-, Finanz-, Sozial- und Verwaltungsgerichte, vollständig mit der eAkte ausgestattet. Die Arbeitsgerichtsbarkeit, jedenfalls in Baden-Württemberg und im Speziellen das Arbeitsgericht Stuttgart, scheint hier Vorreiter zu sein. So ist es das erste Gericht in Deutschland, bei dem bereits die elektronische Akte eingeführt wurde. Das Arbeitsgericht Stuttgart ist auch das erste Gericht in Baden-Württemberg, das eine Unterstützung durch die Rechtsantragstelle in Form eines Videotermins anbietet. Flächendeckend soll die eAkte jedoch erst zum 1. Januar 2026 eingeführt werden. Und das, obwohl das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs aus dem Jahr 2017 stammt.

Vor und während der Corona-Pandemie

Vor der Corona-Pandemie war die Nutzung von Videotechnik in der deutschen Justiz die absolute Ausnahme, obgleich gemäß § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) bereits seit 2002 das Gericht den Parteien und ihren Bevollmächtigten gestatten kann, an der mündlichen Verhandlung per Video teilzunehmen. Nach Angaben des Deutschen Richterbunds nutzten vor der Corona-Krise nur 8 Prozent der Befragten Videotechnik für ihre Verfahren. Das galt auch für die Arbeitsgerichtsbarkeit, obwohl § 128a ZPO auch dort – über die Verweisungsnorm in § 46 Abs. 1 S. 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) – Anwendung findet. Selbst bei der Arbeitsgerichtsbarkeit, für die wegen der vergleichsweise kurzen Verfahrensdauer, der frühen Güteverhandlung und der hohen Einigungsquoten Geschwindigkeit kein Fremdwort ist, waren Videoverhandlungen vor Corona also kein Thema. Der Schwerpunkt lag, wo die Arbeitsgerichtsbarkeit vergleichsweise weit ist, bei der eAkte und dem elektronischen Rechtsverkehr. Spätestens die Corona-Pandemie, wo im Lockdown Termine für mündliche Verhandlungen zeitweise flächendeckend aufgehoben wurden, führte besonders in arbeitsgerichtlichen Verfahren zu einem deutlichen Digitalisierungsschub der Arbeitsgerichtsbarkeit. Diesen Verfahren ist oftmals eine besondere Dringlichkeit immanent, da es regelmäßig große Nachteile für die Beteiligten nach sich zieht, etwa für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzverfahren. Auf einmal waren moderne Kommunikationsmittel, wie etwa Videokonferenzen, gefragt, um in der Corona-Krise Abhilfe zu schaffen. Um den hierfür seinerzeit bereits bestehenden, aber eingeschränkten rechtlichen Rahmen des § 128a ZPO für das arbeitsgerichtliche Verfahren pandemiebedingt zu erweitern, galt temporär während der Pandemie für das arbeitsgerichtliche Verfahren der mittlerweile wieder weggefallene § 114 ArbGG. Diese Norm appellierte als Soll-Vorschrift an die Justiz, in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite mündliche Verhandlungen als Videoverhandlungen durchzuführen. Das Regel-Ausnahme-Verhältnis gegenüber der Kann-Vorschrift des § 128a ZPO wurde damit umgekehrt, sodass die Ablehnung einer Videoverhandlung eine besondere Begründung erforderte.

Skepsis überwiegt weiterhin

Trotz der Corona-Pandemie, die als digitaler Booster insgesamt zu einem deutlichen Anstieg von arbeitsgerichtlichen
Videoverhandlungen geführt hat, und trotz der prozessualen Voraussetzungen – § 128a ZPO gilt unabhängig von der Pandemie – ist die Arbeitsgerichtsbarkeit nach wir vor in großen Teilen gegenüber der Teilnahme an mündlichen Verhandlungen per Video sehr zurückhaltend. Zwar stellt sich dies von Bundesland zu Bundesland, von Gericht zu Gericht und mitunter sogar von Kammer zu Kammer innerhalb eines Gerichts sehr unterschiedlich dar, jedoch scheinen die Gerichte nach wie vor überwiegend Präsenz- statt Videoverhandlungen zu bevorzugen. Die Ablehnungsgründe von Anträgen auf Teilnahme der Parteien und Bevollmächtigten an mündlichen Verhandlungen per Videoübertragung waren und sind vielfältig. Vor allem zu Beginn der Pandemie scheiterten Anträge auf Durchführung von Videoverhandlungen regelmäßig an fehlender technischer Ausstattung der Arbeitsgerichte. Auch Technik- und Digitalisierungsskepsis mag bei Teilen der Arbeitsgerichtsbarkeit noch immer eine Rolle spielen.

Ablehnungsgründe

Und schließlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die arbeitsgerichtlichen Verfahren besonders von den Prinzipien der Öffentlichkeit, Unmittelbarkeit sowie Mündlichkeit geprägt sind, insbesondere in der ersten und zweiten Instanz. Die obligatorische Güteverhandlung mag in persönlicher Atmosphäre eine größere Chance auf Einigung bieten. Andererseits kann dies, angesichts der großen Zahl von Güteterminen, bei denen die Parteien nicht persönlich erscheinen, kein allgemeingültiges Argument sein. Allen Effizienzgesichtspunkten und prozessökonomischen Erwägungen zum Trotz: Durch den Wegfall des nur temporär während der Pandemie eingeführten § 114 ArbGG zeigt sich bereits die gesetzgeberische Grundhaltung zu mündlichen Verhandlungen außerhalb epidemischer Notlagen. Offensichtlich soll danach zumindest der Kammertermin in Präsenz mit den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern im Sitzungssaal stattfinden. Darin jedenfalls kann kein gesetzgeberischer Wille zur Digitalisierung gesehen werden.

Fazit und Ausblick

Wenn auch die Corona-Pandemie notgedrungen zu einem gewissen Digitalisierungsschub in der Arbeitsgerichtsbarkeit geführt hat, so bleibt doch noch viel zu tun, bis flächendeckend von einer gut ausgestatteten, modernen und digitalen Justiz gesprochen werden kann. Zu erheblich sind die Unterschiede unter den Bundesländern und zu groß ist noch der Rückstand auf die führenden Länder bei der Justizdigitalisierung im internationalen Vergleich. Abzuwarten bleibt, ob die neue Digitalstrategie der Bundesregierung sowie der vom BMJ aufgelegte Pakt für den digitalen Rechtsstaat die Digitalisierung hinreichend beschleunigen werden. Deutlich mehr Digitalisierung in der Justiz versprach der bereits Ende 2022 veröffentlichte Referentenentwurf für ein Gesetz zur Förderung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in der Zivilgerichtsbarkeit und den Fachgerichtsbarkeiten. Darin enthalten waren unter anderem der Ausbau von Videoverhandlungen bis hin zu voll virtuellen Verhandlungen sowie die Erweiterung der Regelungen zur Videobeweisaufnahme. Die Neuregelungen sollten auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit zur Anwendung kommen. Der vom Bundeskabinett am 24. Mai 2023 beschlossene Regierungsentwurf enthält einige Änderungen gegenüber dem Referentenentwurf. Die Anordnung einer Videoverhandlung von Amts wegen ist nach wie vor nach § 128a Abs. 2 ZPO-E möglich. Die zunächst noch vorgesehene Beschwerdemöglichkeit nach § 128a Abs. 7 ZPO-E ist entfallen. Die Neuregelungen sollen auch in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit zur Anwendung kommen, während die Arbeits- und Sozialgerichte weitgehend ausgenommen werden beziehungsweise dort die bisherigen Vorschriften beibehalten werden sollen. Hier muss das weitere Gesetzgebungsverfahren abgewartet werden.

Zum Autor

MG
Markus Gloksin

Rechtsanwalt und Fachwalt für Arbeitsrecht in der Kanzlei DREITOR Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB in Reutlingen.

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