Mehrwertsteuergruppen - 29. Juli 2021

EuGH kontra BFH

Einem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofs zufolge dürfte nun unstreitig sein, dass auch eine kapitalistisch geprägte Personengesellschaft fortan Organgesellschaft, etwa in Form einer GmbH & Co. KG, sein kann.

Wieder hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) durch das Urteil vom 15. April 2021 (Rs. C-868/19 – MGmbH) die Auslegung einer Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) einkassiert. Bemerkenswert ist dabei dieses Mal, dass die offensichtlichen Zweifel an der höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung nicht durch den BFH selbst beziehungsweise durch einen seiner beiden für die Umsatzsteuer zuständigen Senate geäußert wurden. Vorgelegt hat vielmehr mit dem Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg ein erstinstanzliches Gericht und das mit bemerkenswerter Schärfe und Trenngenauigkeit, die vom EuGH fast vollumfänglich geteilt wurde. Es bleibt abzuwarten, welche Rechtsfolgen der BFH aus diesem Urteil des EuGH ziehen wird. Oder bemüht der BFH weitere teleologische Reduktionen des Gesetzeswortlauts zu § 2 Abs. 2 Nr. 2 Umsatzsteuergesetz (UStG), die für die Praktikerin beziehungsweise den Praktiker schlicht unverständlich sind?

Bisherige Rechtslage

Spätestens seit der Entscheidung des EuGH in den Rechtssachen Larentia und Minerva sowie Marenave ist klar, dass die nationale Norm zur sogenannten Organschaftsregelung in § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG nicht der unionsrechtlichen Regelung zur sogenannten Mehrwertsteuergruppe entspricht. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des § 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 UStG können als Organgesellschaften nur juristische Personen, nicht dagegen andere Personenvereinigungen wie Offene Handelsgesellschaften (OHG), Kommandit gesellschaften (KG), BGB-Gesellschaften sowie Gemeinschaften oder Partnerschaftsgesellschaften in Betracht kommen. Darüber hinaus müssen die organschaftlich verbundenen Gesellschaften im Inland ansässig und nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sein. Im Gegensatz dazu bestimmt Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (MwStSystRL), dass jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln kann. Angesichts der abweichenden Wortwahl – statt „juristische Personen“ „Personen“, statt „Eingliederung“ „enge Verbundenheit“ – war seit Längerem die unionsrechtliche Kompatibilität der nationalen Regelung zur Organschaft in § 2 Abs. 2 Nr. 2 S. 1 UStG im Verhältnis zu Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL Gegenstand intensiver Diskussionen und führte letztlich auf Vorlage des BFH an den EuGH zu der Entscheidung in der Rechtssache Larentia und Minerva sowie der Rechtssache Marenave.

EuGH-Interpretation der Organschaft

Der EuGH interpretiert das Unionsrecht in Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL mit dem Begriff der „Person“ dahin gehend, dass ein Organschaftsverhältnis nicht nur auf juristische Personen als Organgesellschaften beschränkt ist. Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL gestatte es jedem Mitgliedstaat, mehrere Personen ohne weitere Einschränkung zur Rechtsform als einen Steuerpflichtigen im Sinne einer Mehrwertsteuergruppe behandeln zu können, sofern die betreffenden Personen in dem Mitgliedstaat ansässig und durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind. Machen die Mitgliedstaaten von dieser Befugnis Gebrauch, räumt der EuGH den Mitgliedstaaten aber bislang nur hinsichtlich der verlangten engen Verbundenheit (im Sinne einer gegenseitigen finanziellen, wirtschaftlichen und organisatorischen Beziehung), nicht aber für den personellen Anwendungsbereich (im Sinne von Personen) eine darüber hinausgehende Präzisierungsbefugnis ein. Nur für den Fall, dass Beschränkungen im personellen Anwendungsbereich für die Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen sowie der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet sind, gestattet Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL den Ausschluss bestimmter Einheiten aus der Organschaft, die keine juristischen Personen sind.

Differenzierende BFH-Rechtsprechung

Fest steht zunächst, dass der eindeutige Wortlaut in § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG als Organgesellschaft nur eine juristische Person vorsieht. Ebenfalls unstreitig ist, dass Personenvereinigungen eben keine juristischen Personen sind. Auch die zwischenzeitlich den Personenvereinigungen durch den BGH eingeräumte Rechtsfähigkeit, soweit die Gesellschaft bürgerlichen Rechts eigene Rechte und Pflichten begründet, führt nicht zu einer Anerkennung dieser Rechtsfähigkeit als juristische Person.

BFH-Urteil vom 2. Dezember 2015

In Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung zum personellen Anwendungsbereich von Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL geht der BFH im Grundsatz davon aus, dass eine Einschränkung des Begriffs „Personen“ im Sinne von juristischer Person sowohl aus Gründen der Rechtssicherheit als auch aus Gründen allgemeiner Missbrauchsprävention geboten sei. Personengesellschaften böten im Allgemeinen keine hinreichende Grundlage, um die Person des Steuerschuldners einfach und rechtssicher bestimmen zu können. Während bei juristischen Personen der Abschluss von Gesellschaftsverträgen besondere Formerfordernisse verlange und grundsätzlich das Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen der Gesellschafter gelte, fehle ein Formzwang bei Abschluss oder Änderung der Gesellschaftsverträge und es gelte zwar das Einstimmigkeitsprinzip, das aber abdingbar und durch mündliche Vereinbarungen anderer Regeln ersetzt werden könne. Im Wege einer teleologischen Extension will der BFH aber, entgegen dem eindeutigen Wortlaut von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG sowie zur Schließung einer Gesetzeslücke, Personengesellschaften dann als Organgesellschaften zulassen, wenn ihnen als Gesellschafter neben dem Organträger nur Personen angehören, die finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind. In diesem Fall sei die für ein Organschaftsverhältnis erforderliche Durchgriffsmöglichkeit des Organträgers gegenüber der Personengesellschaft als Organgesellschaft, selbst bei einer stets möglichen Einstimmigkeit, gewährleistet.

BFH-Urteil vom 1. Juni 2016 – XI R 17/11

Im Gegensatz zum V. Senat hat der XI. Senat des BFH die Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Larentia, Minerva und Marenave übernommen und festgestellt, dass der in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG normierte generelle Ausschluss von Einheiten, die keine juristischen Personen sind, keine erforderliche und geeignete Maßnahme zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen sowie zur Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung ist. Im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung des Begriffs „juristische Person“ gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG erfasse dieser Begriff auch Personengesellschaften, jedenfalls in Form einer kapitalistisch geprägten Personengesellschaft wie einer GmbH & Co. KG. Ob diese richtlinienkonforme Auslegung auch für andere Formen der Personengesellschaften gelten kann, hat der BFH indes nicht ausgeführt.

Umsetzung durch die Finanzverwaltung

Die deutsche Finanzverwaltung hat sich der Sichtweise und Bewertung des BFH, V. Senat, angeschlossen und lässt eine Personengesellschaft nur dann als Organgesellschaft zu, wenn neben dem Organträger alle anderen Gesellschafter der Personengesellschaft finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind.

Konsequenzen für die Praxis

Es hat immerhin fast sechs Jahre gedauert, bis der EuGH die bereits in der Rechtssache Larentia und Minerva sowie Marenave getroffenen Feststellungen nochmals konkretisiert hat, um die gekünstelte Rechtsprechung des BFH, V. Senat, mit dem Ansatz einer teleologischen Extension zu korrigieren. Es war für den Praktiker stets schwer vorstellbar, wie bei dem eindeutigen Wortlaut in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG und der in Deutschland praktizierten Rechtstradition mit Unterscheidung zwischen Personenvereinigung und juristischer Person urplötzlich als juristische Person auch eine Personenvereinigung – wenn auch unter einengenden Voraussetzungen – gesehen werden konnte. Der Hinweis auf eine angebliche Gesetzeslücke, die allein aus dem Unionsrecht abgeleitet werden konnte, half da wenig. Unstreitig dürfte damit nunmehr sein, dass auch eine kapitalistisch geprägte Personengesellschaft in Form einer GmbH & Co. KG Organgesellschaft sein kann. Der Vorlagefall betraf eine GmbH & Co. KG, welcher der Status einer Organgesellschaft nicht zuerkannt worden war. Insoweit bestätigt der EuGH die Rechtsprechung des BFH, XI. Senat. Aufgrund der allgemeinen Aussagen des EuGH zum Wirkungskreis des Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL und zur mangelnden Einschränkungsmöglichkeit durch Art. 11 Abs. 2 MwStSystRL sollte indes ebenso feststehen, dass auch Personengesellschaften ohne kapitalistische Prägung Organgesellschaften sein können. Ausreichend ist allein die Durchsetzung des Willens durch den Organträger bei der Personengesellschaft mittels Stimmenmehrheit. Richtigerweise kann § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG hinsichtlich der Beschränkung auf die juristische Person als Organgesellschaft nicht richtlinienkonform im Sinne des Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL interpretiert werden. Es gilt insoweit der Anwendungsvorrang, sodass alle staatlichen Stellen bei der Beurteilung eines Organschaftsverhältnisses die Vorgaben des Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL in der Interpretation des EuGH beachten müssen. Allerdings verneint der EuGH ein direktes Berufungsrecht des Steuerpflichtigen auf eben Art. 11 Abs. 1 MwStSystRL wegen mangelnder hinreichender Bestimmtheit der Norm. Der Steuerpflichtige bleibt insoweit der zutreffenden rechtlichen Anwendung der EuGH-Entscheidung in der Rechtssache M-GmbH durch die deutsche Finanzgerichtsbarkeit ausgesetzt. Umgekehrt kann sich der Steuerpflichtige, so er die bisherige Anwendung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG für sich in Anspruch nehmen will, auf die nationale Norm beziehungsweise den durch die Verwaltung in Abschnitt 2.8 Abs. 5a Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) geschaffenen Vertrauensschutz berufen. Zu beachten ist allerdings, dass all diese Handlungsalternativen unter dem Vorbehalt stehen, dass der EuGH auf Vorlage des BFH – sowohl durch den V. als auch den XI. Senat – nicht die in Deutschland praktizierte Steuerschuldnerschaft des Organträgers verneint und stattdessen den in Deutschland unbekannten Steuerschuldner Mehrwertsteuergruppe als den zuständigen Steuerschuldner eines Organschaftsverhältnisses ansieht.

Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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