Bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit oder wiederholter Erkrankung des Arbeitnehmers gilt es, durch entsprechende Maßnahmen den Arbeitsplatz zu erhalten. Vor der Umsetzung sind allerdings einige arbeitsrechtliche Fragen zu klären.
Arbeitgeber haben die Pflicht, ein sogenanntes betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchzuführen, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist. Das ergibt sich aus § 84 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX). Die Arbeitgeber haben mit der zuständigen Interessenvertretung sowie mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneute Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt werden kann, damit der Arbeitsplatz erhalten bleibt. Dabei stellt sich eine Reihe von Fragen: Ist der Arbeitgeber berechtigt, einen krankgeschriebenen Arbeitnehmer auch während dessen Arbeitsunfähigkeit zu verpflichten, an einem Gespräch im Rahmen eines BEM teilzunehmen? Hat der Arbeitgeber mit einem derartigen Angebot seinen Pflichten nach § 84 Abs. 2 SGB IX Genüge getan? Und kann der Arbeitnehmer unter Berufung auf seine Arbeitsunfähigkeit die Teilnahme an einem solchen Gespräch verweigern, ohne dadurch seine arbeitsvertraglichen Pflichten zu verletzen?
Personalgespräch während der Arbeitsunfähigkeit
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat jüngst ausführlich zu derd Frage Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber berechtigt sein soll, dem Arbeitnehmer gegenüber die Weisung zu erteilen, an Personalgesprächen auch während der Dauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit teilnehmen zu müssen (BAG, Urteil vom 02.11.2016 – 10 AZR 596/15). Das BAG stellte in der Entscheidung klar, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nur ausnahmsweise dann anweisen kann, zu einem Personalgespräch in den Betrieb zu kommen, wenn
- hierfür ein dringender betrieblicher Anlass besteht, der einen Aufschub der Weisung auf einen Zeitpunkt nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit nicht gestattet, und
- die persönliche Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb dringend erforderlich ist und ihm auch zugemutet werden kann.
Ausgangspunkt der rechtlichen Würdigung ist das aus § 106 Satz 1 Gewerbeordnung (GewO) folgende Weisungsrecht des Arbeitgebers, das es ihm gestattet, gegenüber dem Arbeitnehmer Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher zu bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung beziehungsweise eines anwendbaren Tarifvertrags oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers erstreckt sich nicht nur auf die Konkretisierung der Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers, sondern erfasst auch Nebenleistungs- und Unterlassungspflichten sowie leistungssichernde Neben- und Verhaltenspflichten nach § 214 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) beziehungsweise Schutz- und Rücksichtnahmepflichten im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB. Liegt nun ein Fall krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit seitens des Arbeitnehmers vor, soll dem Arbeitgeber während dieser Zeit kein Weisungsrecht nach § 106 Satz 1 GewO zustehen, soweit es um solche Pflichten geht, von deren Erfüllung der Arbeitnehmer krankheitsbedingt befreit ist. Betroffen sind davon die Arbeitspflicht als Hauptleistungspflicht sowie die unmittelbar damit zusammenhängenden Nebenleistungspflichten. Hinsichtlich leistungssichernder Neben- und Verhaltenspflichten (§ 241 Abs. 1 BGB) beziehungsweise Pflichten der Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) sowie Geheimhaltungs- und Unterlassungspflichten des Arbeitnehmers bleibt das Weisungsrecht des Arbeitgebers bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers hingegen grundsätzlich unberührt.
Pflichten der Rücksichtnahme
Das Personalgespräch darf nicht auf einen Zeitpunkt nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit aufschiebbar sein.
Das bedeutet jedoch nicht, dass in diesen Bereichen das Weisungsrecht des Arbeitgebers unbeschränkt gilt, denn auch ihn treffen Pflichten der Rücksichtnahme gemäß § 241 Abs. 2 BGB mit Blick auf die Rechte, Rechtsgüter sowie schutzwürdigen Interessen des Arbeitnehmers. Wegen der Gefahr, dass der Genesungsprozess beeinträchtigt wird und sich dadurch der krankheitsbedingte Ausfall der Arbeitsleistung verlängert, hat der Arbeitgeber die Erteilung von Weisungen auf dringende betriebliche Anlässe zu beschränken und sich bezüglich der Art und Weise, der Häufigkeit sowie der Dauer der Inanspruchnahme am wohlverstandenen Interesse des Arbeitnehmers zu orientieren. Folglich darf das Personalgespräch insbesondere nicht auf einen Zeitpunkt nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit aufschiebbar sein. Zudem muss die persönliche Anwesenheit des erkrankten Arbeitnehmers im Betrieb dringend erforderlich und dem Arbeitnehmer auch zumutbar sein. Damit hat das BAG klargestellt, dass ein Arbeitnehmer, der infolge seiner Erkrankung arbeitsunfähig ist, regelmäßig nicht dazu verpflichtet ist, auf Anweisung des Arbeitgebers an Personalgesprächen teilzunehmen. Nur im Einzelfall sowie unter engen Voraussetzungen kann der Arbeitgeber ausnahmsweise dazu berechtigt sein, eine derartige Weisung zu erteilen, die der Arbeitnehmer zwecks Vermeidung einer arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung zu befolgen hat. Den Arbeitgeber trifft dabei jedoch die Pflicht, die besonderen Umstände darzulegen, die ein persönliches Erscheinen des Arbeitnehmers im Betrieb im konkreten Einzelfall zwingend erfordern.
Auswirkung dieser Grundsätze auf das BEM
Ausgehend von diesen Grundsätzen stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen die BAG-Entscheidung auf die Durchführung eines BEM hat. Vorher ist aber der entscheidende Unterschied zwischen einem Gespräch im Rahmen eines BEM und einem gewöhnlichen Personalgespräch zu erläutern. Während § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX eine gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers statuiert, dem Arbeitnehmer auf freiwilliger Basis die Teilnahme am BEM-Verfahren anzubieten und bei Interesse zu ermöglichen, unterliegt die arbeitgeberseitige Weisung gegenüber dem Arbeitnehmer, an einem gewöhnlichen Personalgespräch teilzunehmen, allein der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers; insoweit besteht also gerade keine Verpflichtung seitens des Arbeitgebers. Daraus folgt, dass ein Arbeitgeber, der den Arbeitnehmer zu einem Gesprächstermin für ein angestrebtes BEM einlädt, nicht von seinem aus § 106 Satz 1 GewO folgenden Direktionsrecht Gebrauch macht, sondern lediglich seiner Pflicht aus § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX nachkommt. Bereits aus diesem Grund ist die Ausgangslage für einen Gesprächstermin bei einem BEM nicht vergleichbar mit derjenigen bei einem Personalgespräch, sodass die Grundsätze der vorgenannten Entscheidung nicht ohne Weiteres auf Gespräche im Rahmen eines BEM übertragbar sein können. Gemäß des klaren Wortlauts des § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX bedarf es der Zustimmung der betroffenen Person für ein BEM. Das hat das BAG bereits in einer früheren Entscheidung bestätigt (BAG, Urteil vom 24.03.2011-2 AZR 170/10). Das Einverständnis des Betroffenen ist die zwingende Voraussetzung für die Durchführung eines BEM; ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen darf der Arbeitgeber keine Stelle unterrichten oder einschalten. Daraus folgt, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet ist, an einem Gesprächstermin im Rahmen eines BEM teilzunehmen. Das gilt unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des vom Arbeitgeber angedachten Gesprächstermins gerade arbeitsunfähig krank ist oder nicht. Infolgedessen kann seine Verweigerung auch keine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darstellen, wenn ihm das Gesetz selbst die Entscheidungsfreiheit gewährt, ob er sich auf ein BEM einlassen möchte oder nicht. Nach alldem besteht also keine Rechtspflicht des Arbeitnehmers zur Teilnahme an einem BEM.
Keine Verpflichtung zur Teilnahme am BEM
Dem Arbeitnehmer ist jedoch im Falle eines Kündigungsschutzprozesses der Einwand abgeschnitten, der Arbeitgeber habe kein BEM durchgeführt. Denn insoweit handelt es sich lediglich um eine Obliegenheit des Arbeitnehmers. Denn die Teilnahme an einem Gespräch für ein BEM ist nicht als leistungssichernde Nebenpflicht des Arbeitnehmers im Sinne von § 241 Abs. 1 BGB zu qualifizieren; und auch der Arbeitgeber hat kein Direktionsrecht, wonach er dazu berechtigt wäre, den Arbeitnehmer anzuweisen, an einem BEM teilzunehmen beziehungsweise im Falle andauernder Arbeitsunfähigkeit dann, wenn ausnahmsweise die Voraussetzungen gegeben wären. Eine derartige Verpflichtung des Arbeitnehmers würde klar im Widerspruch zu § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX stehen und die gesetzliche Konzeption dieser Vorschrift verkennen, die von einer Freiwilligkeit des Arbeitnehmers ausgeht. Der Arbeitgeber kann den Arbeitnehmer also nicht verpflichten, an einem Gespräch zur Durchführung eines BEM teilzunehmen und der Arbeitnehmer verletzt auch nicht seine vertraglichen Pflichten, wenn er die Teilnahme an einem solchen Gespräch verweigert.
Angebot eines Gesprächstermins für ein BEM
Zu klären sind nun noch zwei Fragen. Kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einen Gesprächstermin für ein BEM auch dann anbieten, wenn der Arbeitnehmer noch krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist? Und hat er durch ein solches Angebot seinen Pflichten nach § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ausreichend Rechnung getragen, wenn der Arbeitnehmer anschließend unter Berufung auf die Arbeitsunfähigkeit eine Teilnahme am Termin verweigert? Ausgehend vom klaren Wortlaut des § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hat der Arbeitgeber nach sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit die Initiative zur Durchführung eines BEM zu ergreifen. Bereits das spricht dafür, dass er auch bei weiter andauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers diesem einen Gesprächstermin anzubieten hat. Auch der Sinn und Zweck des BEM spricht dafür, dem Arbeitgeber das Recht einzuräumen, den Arbeitnehmer auch noch während dessen Arbeitsunfähigkeit zu einem Gesprächstermin einzuladen. Es gilt, bestehende Maßnahmen abzuklären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann und mit welchen Leistungen oder Hilfen einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen ist, damit der Arbeitsplatz möglichst erhalten bleibt. Müsste der Arbeitgeber abwarten, bis die Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt ist, würde der Sinn dieses Gesetzes weitgehend ins Leere laufen, denn gerade dies zu erreichen, ist ja der Zweck eines BEM.
Wann hat der Arbeitgeber seine Pflicht erfüllt?
Vor diesem Hintergrund passen die Grundsätze, die im eingangs angesprochenen BAG-Urteil dargestellt sind, nicht auf den Fall eines BEM. Ausgehend vom erläuterten Sinn und Zweck eines BEM kann die Erkrankung des Arbeitnehmers einer Durchführung des BEM grundsätzlich auch nicht entgegenstehen, sofern er nicht nachweisen kann, dass ihm seine konkrete Erkrankung die Teilnahme am BEM tatsächlich unmöglich macht. Daher kommt der Arbeitgeber seiner Pflicht aus § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX in ausreichendem Maße auch dann nach, wenn er dem Arbeitnehmer einen Gesprächstermin während der Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit anbietet, diesem die Teilnahme am Termin nicht krankheitsbedingt tatsächlich unmöglich ist und der Arbeitnehmer den Termin nicht nur ablehnt, sondern unmissverständlich zu verstehen gibt, dass er auf die Durchführung eines BEM verzichtet. Lehnt der Arbeitnehmer den Gesprächstermin jedoch lediglich unter Hinweis auf die Arbeitsunfähigkeit ab, sollte der Arbeitgeber vorsorglich darauf hinweisen, dass die bloße Arbeitsunfähigkeit kein Grund ist, der gegen die ordnungsgemäße Durchführung eines BEM spricht. Zudem sollte er den Arbeitnehmer auffordern, sich klar und deutlich zu äußern, ob er die Durchführung eines BEM wünscht oder auf eine solche verzichtet.
Fazit
Festzuhalten bleibt, dass die vom BAG aufgestellten Grundsätze hinsichtlich der Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Teilnahme an Personalgesprächen während der Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit nicht auf Gespräche im Rahmen eines BEM übertragen werden können. Das BAG-Urteil vom 2. November 2016 (10 AZR 596/15) hat folglich keine Auswirkungen auf die Durchführung eines BEM gemäß § 84 Abs. 2 SGB IX.
Foto: piola666 / Getty Images