Führen Sie Ihre Kanzlei wie ein Unternehmen, zu dem Ihre Belegschaft eine starke Bindung hat? Diese Frage hat es in sich. Sie ergründet die Zufriedenheit der Mitarbeiter mit ihrem Arbeitgeber. Genau damit müssen sich Unternehmen künftig auseinandersetzen, auch um ihre eigene Existenz zu sichern.
John sitzt auf dem Balkon seiner Wohnung in der Morgensonne und trinkt den letzten Schluck Espresso. Sein erster heute. Kaffee, den er über seinen Arbeitgeber bezieht, kostenlos. Seine Wohnung stellt ihm auch das Unternehmen. John zahlt nur die monatlichen Umlagen. Er ist Senior-Programmierer im Silicon Valley und wohnt auf dem Firmengelände. Früher wohnte er in der Stadt, da nutzte er ein von seiner Firma gestelltes Elektromobil für den Arbeitsweg. Es kostete viel Zeit und Nerven, sich durch den morgendlichen Stau zu quälen. Heute nimmt er den Firmen-Shuttle. Er könnte auch eines der Elektrofahrräder nutzen, die sein Arbeitgeber überall bereitgestellt hat. Johns App meldet ihm, dass in fünf Minuten der Shuttle vor der Tür hält. Für ein Treffen mit einer Kollegin im Firmenbistro wird er auf halbem Wege aussteigen. Da kocht heute der Sternekoch. Ob er heute überhaupt ins Büro geht, weiß er nicht. Er muss nicht. Das neue Projekt läuft erst an, das letzte ist abgeschlossen. Kleine Pause.
Anwesenheitspflicht im Büro gibt es nicht. Seine Chefin, die Abteilung, die ganze Firma setzt auf Ergebnisse statt Arbeitszeit. Seine Chefin fragt zwar auch nach dem Arbeitsaufwand, aber überwiegend danach, wie es ihm geht – beruflich, privat, gesundheitlich. John überlegt, den Tag mit Training im firmeneigenen Fitnessstudio fortzusetzen und dann an einem kostenlosen Seminar teilzunehmen, das er schon länger im Auge hat. Arbeiten kann er morgen noch. John ist in einem Unternehmen beschäftigt, das viel in Mitarbeiterbindung investiert. Er möchte hierbleiben, es gefällt ihm. Das Unternehmen nimmt ihm viel Alltägliches ab. Und er erfährt viel Wertschätzung. John – gibt es gar nicht.
Götterdämmerung für den Arbeitgebermarkt
Nicht alles an diesem frei erfundenen Szenario ist irreal. Auch wenn sich dieses Beispiel weniger in Deutschland als in den USA finden lässt – noch. Hightech-Konzerne wie Google, Facebook oder andere Firmen im Silicon Valley haben erkannt: Qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind rar und die Konkurrenz ist attraktiv. Zudem sind Menschen wechselbereit, wenn sie unzufrieden sind, weil die Fähigkeiten nicht zur Aufgabe passen, den persönlichen Interessen etwas widerspricht, Anerkennung fehlt oder eigene Werte nicht mit denen des Unternehmens, der Führungskultur oder der Führungskraft übereinstimmen.
Firmen im Silicon Valley bieten im Kampf um die beste Arbeitskraft viel. Da geht es nicht um kostenlose Obstkörbe, wovon in anderen Stellenanzeigen inflationär zu lesen ist. Hier wird richtig geklotzt: gemeinsame Freizeit-Events, kostenlose Sterneküche statt Kantinenmahlzeiten, hauseigenes Fitness-Studio, spontane Kinderbetreuung, Wellness-Studio, Therapieabo für Eltern und Kind oder Seminare für mentaleWeiterentwicklung. Selbst über die Anzahl der Urlaubstage entscheidet der Mitarbeiter.
Sicher, Silicon Valley ist ein Extrem. Doch jedes Unternehmen braucht gut ausgebildete Menschen, „die Extrameilen gehen, auf Qualität und Termintreue achten, die eben nicht um 16 Uhr den Stift fallen lassen, sondern Kosten reduzieren und Prozesse verbessern“, sagt Gunther Wolf, Diplom-Psychologe und Diplom-Ökonom sowie Experte für Performance Management, Mitarbeiter- und Unternehmensführung. Er weiß, dass die Mitarbeiterfluktuation ein wachsender Kostenfaktor ist, auch in Deutschland. Laut Bundesagentur für Arbeit mussten 33,4 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Stellen in Deutschland 2018 neu besetzt werden. Auch wenn der größte Teil auf die Branche der Arbeitnehmerüberlassung fällt, die Wechselbereitschaft steigt stetig.
Nicht immer so
Denkt man an die letzten beiden Generationen, stellten die sich eher nicht die Frage nach Benefits seitens des Arbeitgebers, um Mitarbeiter zu binden. Im 20. Jahrhundert war die Zufriedenheit der Arbeiter oder der Angestellten recht schnell hergestellt, wenn sie überhaupt Arbeit hatten und partizipieren konnten am wirtschaftlichen Erfolg – über das eigene Gehalt: die neue Küche, der Farbfernseher, Telefon, Auto, eigenes Haus, später der erste PC und das erste Handy. Der Chef sagte häufig auch weniger freundlich, was bis wann zu erledigen war. Träumereien von einem angenehmeren Arbeitsleben, von Selbstverwirklichung im Beruf? Dem sollte man gefälligst zu Hause nachhängen. Bisweilen war man froh, seine Arbeit nicht zu verlieren. Heute braucht es empathische Führungskräfte, denn sie sind laut Studien der maßgebliche Fluktuationsfaktor und damit auch der maßgebliche Verbleibensfaktor.
Wer eine Stelle antritt, für den ist zu Beginn alles aufregend – erfüllend. Doch dann kommen Routine, Alltag und damit der Gedanke, zu wechseln. Was soll der Arbeitgeber gegen diese Abwanderungstendenzen tun? Ein höheres Gehalt, ein weiteres spannendes Projekt, Firmenwagen, nächste Karriereschritte? Das allein scheint heutzutage nicht mehr zu genügen, um Mitarbeiter ans Unternehmen zu binden. Auch diese Ansätze sind Routine geworden. Unternehmen müssen umdenken, wollen sie gute Mitarbeiter binden. Denn der Mitarbeiter ist zu einem Existenzfaktor geworden. „Die Mehrzahl derjenigen Unternehmen, in denen die Unternehmensleitung die Optimierung der Mitarbeiterbindung nicht umgehend zu einem zentralen strategischen Thema macht, wird aufgrund des demografischen Wandels in wenigen Jahren von der Bildfläche verschwunden sein“, schreibt Gunther Wolf in seinem Buch Mitarbeiterbindung.
Auf dem Arbeitgebermarkt scheint sich ein All-inclusive-Angebot zu entwickeln, das den Angestellten sämtliche Wünsche erfüllt. Warum? Weil Firmen feststellen, dass die gewünschten Kandidaten wechselfreudig und rar sind. Weil die Kandidaten effizienter, produktiver und kreativer arbeiten, wenn sie befreit sind von quälenden Alltagsgedanken und -problemen. Dann bleiben sie bei dem Arbeitgeber, der sie beschäftigt – in ihrem sicheren Kokon. Für Unternehmen, die auf diese Arbeitskräfte angewiesen sind, heißt das, „überleben kann, wer seine Mitarbeiter besser bindet als die Wettbewerber am Arbeitsmarkt“, schreibt Gunther Wolf und drückt damit aus, dass sich der Arbeitgebermarkt hin zu einem Arbeitnehmermarkt wandelt.
Ein Faktor bleibt
Auch wenn es sich im Silicon Valley um Berufe der Zukunft handelt, in einer hart umkämpften Branche mit wenigen Global Playern, der Bedarf an hoch qualifizierten Leuten ist auch woanders groß. So droht auch dem Rest der IT-Branche der Fachkräftemangel. Und es trifft auf andere Branchen zu, die Pflege zum Beispiel. Doch muss man Vorsicht walten lassen: Einen flächendeckenden Mangel an Arbeitskräften gibt es in Deutschland nicht, heißt es im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI). Nicht überall werden Unternehmen Mitarbeiter binden müssen. Allein durch die Automatisierung entfallen künftig Berufe. Mit zunehmender Digitalisierung werden Daten nicht mehr von Menschen erfasst, sondern über Schnittstellen von Software übertragen. Und wie sich der Fachkräftemangel durch die Corona-Krise verändern wird, bleibt ebenso noch abzusehen. Auch zeigt der Hays-Fachkräfte-Index in der zweiten Jahreshälfte 2020, dass Spezialisten in den Bereichen Finance, Sales und Marketing weniger gesucht sind. Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg prognostiziert, dass sich der deutsche Arbeitsmarkt von den Folgen der Covid-19-Pandemie erst in drei Jahren wieder erholen wird. Der Fachkräftemangel gilt also nicht pauschal. „Wir haben regionale Unterschiede, wir haben altersbezogene Unterschiede bei den Arbeitnehmern, und wir haben natürlich auch Unterschiede bei der Frage, was ist es für ein Berufsbild“, relativiert Gunther Wolf.
Dennoch: Der Wunsch, lange Zeit bei einem Unternehmen zu bleiben, kommt nicht mehr in erster Linie vom Mitarbeiter, sondern zunehmend vom Arbeitgeber. Für Unternehmen ist es ein nüchterner ökonomischer Vorteil, wenn gut ausgebildete Mitarbeiter lange Zeit treu bleiben. Es bedeutet, Fach- und Expertenwissen im Unternehmen zu halten. Heutzutage ein Wettbewerbsfaktor. Es bedeutet geringe Fluktuationskosten. Es bedeutet Auftragssicherheit, weil gewährleistet ist, dass lukrative Projekte abgeschlossen werden, weil genug Erfolgs- und Leistungsträger vorhanden sind. Wer glaubt, das gelte nur für hochtalentierte Spitzenkräfte, der irrt, weiß Gunther Wolf. „Bereits im Jahre 2008 führte der Mangel an ganz normalen, ausreichend qualifizierten Fachkräften in einigen Branchen und Regionen dazu, dass Aufträge nicht angenommen, Ertragspotenziale nicht genutzt und Kunden nicht vor der Abwanderung zu Marktbegleitern abgehalten werden konnten.“ Und damit bleibt ein Argument, das sich nicht relativieren und nicht wegdiskutieren lässt: der demografische Wandel. Schon 2030 soll es knapp vier Millionen Erwerbstätige weniger geben, heißt es beim BMWI.
Eine Gießkanne voll Materialismus reicht nicht
Sicher sucht ein Unternehmen seine Mitarbeiter nach wie vor genau aus. Nicht jeder passt auf jede Stelle; doch die Anspruchshaltung sinkt. Hat ein Unternehmen endlich seine performanten Kandidaten gefunden, stellt sich die Frage, was diese durchaus abwanderungswilligen Mitarbeiter bindet. Per Gießkannenprinzip alle gleich behandeln? Davon hält Gunther Wolf nichts. Denn wer seine Mitarbeiter selektiv auswählt, der sollte sie auch selektiv binden. Denn sonst kann es passieren, dass die High Performer weg sind, weil sie nicht einsehen, dass sie immer nur das Gleiche erhalten wie die Low Performer. Wenn nur auf das äußere Erleben gezielt wird, was kommt bei den materialistischen Vorzügen für alle als Nächstes? Was kommt, wenn der Mitarbeiter feststellt, dass der x-te Essensgutschein auf Dauer nicht zufrieden macht? Wenn der Benefit nicht ihm ganz individuell gilt? Kriterien, die zu selten berücksichtigt werden, sind die Persönlichkeit, die intrinsische Motivation, die wertschätzende gezielte Aufmerksamkeit und Kommunikation. Schon sind wir dort, wo wir begonnen haben: Wenn kostenlose Obst-, Kaffee- und Sportangebote für alle zur Routine geworden sind, zu viele Freizeit-Events mit Kollegen zur lästigen Pflicht mutieren und die selektive wertschätzende Aufmerksamkeit hinten runterfällt, regt sich beim einzelnen Leistungsträger erneut die Frage: Soll ich die Branche, den Arbeitgeber, den Beruf wechseln?
Arbeitgeber müssen sich mit dem Thema Bindung intensiver und differenzierter beschäftigen. Mitarbeiter zu binden, ist nicht dasselbe, wie sie zu halten. „Binden hat damit zu tun, ob man sich verbunden fühlt. Halten, ob derjenige an Bord ist. Wenn sie sich mir verbunden fühlen, dann sind sie auch in der Regel sehr performant, und dann will ich sie natürlich auch halten“, sagt Gunter Wolf. In seinem Buch beschreibt er vier mögliche Ebenen der Mitarbeiterbindung: die rationale, die behaviorale, die normative und die emotionale. Als Arbeitgeber zu glauben, es reiche aus, alle über eine Ebene zu bedienen – beispielsweise die oft gewählte rationale – liegt daneben. „Bei allen rationalen Mitarbeiterbindungsmaßnahmen besteht die Gefahr, dass die betreffenden Mitarbeiter zwar anwesend bleiben, sich aber nur mäßig engagieren.“ Viele Entscheidungen werden unbewusst getroffen und nur rational begründet. Bei jedem Mitarbeiter sind alle vier Ebenen enthalten, es hängt von der jeweiligen Persönlichkeit ab, bei welcher eine Bindung greift. Alle Ebenen „üben in unterschiedlichem Grade und auf unterschiedliche Weise einen Einfluss auf die Beziehung zwischen dem Mitarbeiter und dem Unternehmen aus“, schreibt Gunther Wolf.
Einfach mal fragen
Mitarbeiterbindung entwickelt sich vom Kosten- und Erfolgs- zum Existenzfaktor. Daher wird dem Menschen im Unternehmen künftig mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden müssen. Arbeitgeber kommen nicht umhin, sich differenziert mit ihren Angestellten zu befassen. Sie müssen sich darüber klar werden, wer ihre Mitarbeiter sind, wie diese ticken, und danach entscheiden, wie stark und womit sie diese binden können. Das erfordert ein modernes Personalmanagement, qualifizierte Führungskräfte und eine genaue Analyse der Notwendigkeiten und der Belegschaft, sprich der Zielgruppe. Jemand, der kündigungswillig ist, wird auch bei besseren Gegenangeboten seines Arbeitgebers gehen. Denn er hat sich schon lange Zeit damit auseinandergesetzt, das Unternehmen zu verlassen. Doch wie kommt man an all diese Kenntnisse und wie geht man dann vor? Systematisch, strukturiert und schrittweise. Vielleicht, indem man einfach mal nachfragt, sagt Gunther Wolf. „Also meine Empfehlung ist, glauben Sie nichts. Glauben sie nichts und fragen Sie. Es gibt doch nichts Einfacheres. Wenn ich die Zielgruppe von guten Mitarbeitern im Haus habe, was liegt näher, als hinzugehen und sie zu fragen. Und wenn ich sie frage, dann kann ich zumindest Zufriedenheit erzielen.“
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DATEV-Consulting, DATEV-Umfrage zur Mitarbeiterzufriedenheit,
DATEV-Consulting, Personal & Führung, www.datev.de/consulting