Säumniszuschläge - 5. April 2023

Widersprüchliche Urteile

Nicht nur der Gesetzgeber fordert den steuerlichen Berater, sondern zuweilen auch die Justiz. So etwa bei der Frage, ob Zuschläge bei einer Säumnis verfassungswidrig sind oder nicht. Hier ist die Rechtslage aufgrund der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs unübersichtlich.

Wird eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags entrichtet, ist für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Zuschlag von einem Prozent des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags nach § 240 Abgabenordnung (AO) zu entrichten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat durch seine Entscheidungen festgestellt, dass die Höhe der Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen nach § 233a AO gemäß § 238 AO für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 verfassungswidrig ist (BVerfG vom 08.07.2021– 1 BvR 2237/14 und 1 BvR 2422/17). Dabei ist anzumerken, dass der Zinssatz von sechs Prozent (jährlich) aufgrund einer Fortgeltungsanordnung des BVerfG für die Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 nach wie vor gilt. Im Ergebnis ist der Zinssatz von sechs Prozent (jährlich) also erst für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2019 nicht mehr anwendbar. Daraufhin hat der Gesetzgeber mit dem Zinsanpassungsgesetz vom 12. Juli 2022 (BGBl. I 2022, 1142) durch den neuen § 238 Abs. 1a AO den Zinssatz nur für eine Vollverzinsung (Nachzahlungs- und Erstattungszinsen) auf 0,15 Prozent monatlich (1,8 Prozent jährlich) abgesenkt. Für die Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen sowie für Säumniszuschläge gilt die neue Regelung des neuen § 238 Abs. 1a AO nicht (BMF vom 22.07.2022, BStBl. I 2022, 1217, Rz. 14).

Druck- und Zinskomponente

Die daraus resultierende Frage im Zusammenhang mit den Säumniszuschlägen nach § 240 Abs.1 S.1 AO ist, ob aus den oben genannten rechtlichen Feststellungen des BVerfG bezüglich Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen bestimmte steuerrechtliche Konsequenzen auf andere Zins­tatbestände, hier zur Höhe von Säumniszuschlägen nach § 240 Abs.1 S.1 AO, zu ziehen sind. Dass andere Zinstatbestände eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertungen unterliegen, stellte das BVerfG in den voranstehend genannten Entscheidungen fest, ohne jedoch explizit die Vorschrift des § 240 AO zu nennen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei Säumniszuschlägen nach gesetzlichen Vorgaben von einem doppelten Zweck auszugehen ist und zwar so, dass diese sich jeweils zur Hälfte aus einer Druck- und aus einer Zinskomponente zusammensetzen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfüllt die Druckkomponente den Zweck, dass Steuerpflichtige pünktlich fällige Steuern zahlen (vgl. BFH vom 29.08.1991 – VR 78/86, BStBl. II 1991, 906). Daher sind im Regelfall verwirkte Säumniszuschläge zur Hälfte zu erlassen, wenn sie ihren Zweck als Druckmittel nicht mehr erreichen können, zum Beispiel wenn die Steuerhauptschulden bereits beglichen worden sind oder im Falle eines finanziellen Unvermögens. Die Zinskomponente hingegen hat den Zweck, eine Art Gegenleistung beziehungsweise einen Ausgleich für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu sein (vgl. BFH vom 21.10.2020 – VII B 121/19, BFH/NV 2021, 326).

Unübersichtliche Rechtslage

Nach Auffassung einiger BFH-Senate seien die Säumniszuschläge nach § 240 Abs.1 S.1 AO in voller Höhe zu erlassen, weil ernstliche Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit nach § 240 AO für die nach dem 31. Dezember 2018 verwirkten Säumniszuschläge bestehen (siehe hierzu BFH-Beschluss vom 11.11.2022 – VIII B 64/22 (AdV), Anschluss an BFH vom 23.05.2022 – V B 4/22 (AdV), BFH vom 31.08.2021 – VII B 69/21 (AdV), BFH vom 14.04.2020 – VII B 53/19, BFH/NV 2021, 177 und  BFH vom 30.06.2020 – VII R 63/18). Andere BFH-Senate kommen zu einem abweichenden Ergebnis und haben keine ernstlichen Zweifel an einer Verfassungswidrigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe von Säumniszuschlägen (siehe hierzu BFH-Urteil vom 23.08.2022 – VII R 21/21 und BFH-Beschluss vom 18.01.2023 – II B 53/22 (AdV) und BFH-Beschluss vom 28.10.2022 – VI B 15/22 (AdV)).

Diejenigen BFH-Senate, die ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Säumniszuschlägen nach § 240 Abs.1 S.1 AO haben, führen aus, dass sich diese Zweifel aufgrund der Regelung des § 240 Abs. 1 S. 1 AO ergäben. Dies gelte jedenfalls insoweit, als Säumniszuschlägen nicht die Funktion eines Druckmittels zukomme, sondern sie als eine Gegenleistung oder ein Ausgleich für das Hinausschieben von Zahlungen fälliger Steuern anzusehen seien, mithin also eine zinsähnliche Funktion hätten. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass die Zielsetzung der Säumniszuschläge als Druckmittel durch ihre Verwirkung nicht mehr erreicht werden kann, wenn Steuerschulden als Hauptschulden beglichen werden oder Fälle finanziellen Unvermögens auftreten.

Diejenigen BFH-Senate, die keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Säumniszuschlägen nach § 240 Abs.1 S.1 AO haben, führen aus, dass die Säumniszuschläge ein Druckmittel eigener Art seien, um den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anzuhalten. Die Zinspflicht bei Steuernachzahlungen sei nicht mit den Säumniszuschlägen vergleichbar. Während mit der Verzinsung von Steuerschulden Liquidationsvorteile abgeschöpft werden sollen, handele es sich bei Säumniszuschlägen um ein Druckmittel zur Durchsetzung fälliger Steuern. Dass darüber hinaus vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern verlangt wird, sei daneben nur weiterer, aber nicht alleiniger Zweck des § 240 AO. Zudem ergebe sich aus der Rechtsprechung des BVerfG hinreichend, dass sich bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung zu der Höhe von Zinsen nach § 233a AO sowie von Säumniszuschlägen nach § 240 AO aufgrund der jeweiligen Besonderheiten ein Gleichlauf verbiete (siehe BFH-Beschluss vom 18.01.2023 – II B 53/22 (AdV), Rz. 17-18).

Auch diejenigen BFH-Senate, die die Rechtmäßigkeit der Säumniszuschläge nach § 240 Abs.1 S.1 AO bejahen, sehen in § 240 Abs. S.1. AO eine Zinskomponente beziehungsweise einen sekundären Zinscharakter (vgl. BFH-Urteil vom 23.08.2022 – VII R 21/21). Nur ist die Zinskomponente für diese BFH-Senate nicht entscheidungserheblich, um Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Säumniszuschläge zu begründen. Außerdem ist nicht ganz klar, welche Rechtsprechung des BVerfG die verfassungsrechtliche Beurteilungsparallele des § 233a AO mit dem § 240 AO verbietet.

Rechtsfolgen und Rechtsmittel

Sowohl die bejahenden als auch die ablehnenden BFH-Senate erkennen in den Säumniszuschlägen nach § 240 Abs.1 S.1 AO eine zinsähnliche Funktion beziehungsweise einen zinsähnlichen Charakter. Damit bejahen sie die Zinskomponente und gehen lediglich von verschiedenen Zwecken der Norm aus. Folglich ist die gesamte Höhe von Säumniszuschlägen für die Entscheidung einer möglichen Verfassungswidrigkeit relevant, da in § 240 Abs. 1 S. 1 AO die gesetzlich festgelegte Höhe nur insgesamt verfassungsgemäß oder verfassungswidrig sein kann, da es keine Teilverfassungswidrigkeit einer Norm gibt, die mehrere Zwecke verfolgt (vgl. BFH vom 04.07.2019 – VIII B 128/18, BFH/NV 2019, 1060).

Nach den hier vertretenen Auffassungen sind daher die nach dem 31. Dezember 2018 entstandenen Säumniszuschläge in voller Höhe und nicht lediglich zur Hälfte zu erlassen. Weiter ist von einer steuerrechtlich begründeten Aussetzung der Vollziehung nach § 361 AO beziehungsweise nach § 69 Finanzgerichtsordnung (FGO) auszugehen. Zu beachten ist, dass auch die erstinstanzlichen Finanzgerichte unterschiedlich entscheiden. Verfahrens- und prozessrechtlich ist anzumerken, dass Säumniszuschläge nicht festgesetzt werden. Nach § 218 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2, § 240 AO entstehen Säumniszuschläge kraft Gesetzes durch Verwirklichung des gesetzlich normierten Tatbestands. Einwendungen aufgrund von oder wegen der Höhe von Säumniszuschlägen sind nicht mit dem Einspruch, sondern gemäß § 218 Abs. 2 AO durch Beantragung eines Abrechnungsbescheids anzugreifen. Als Verwaltungsakt ist der Abrechnungsbescheid mit Einspruch und Klage anfechtbar (vgl. BFH vom 06.07.2015 – III B 68/14, BFH/NV 2015, 1344).

Einstweiliger Rechtsschutz kann gemäß § 361 AO oder § 69 FGO über die Beantragung einer Aussetzung beziehungsweise eine Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheids erreicht werden. Weiter können Erlassanträge bei Säumniszuschlägen aus sachlichen oder persönlichen Billigkeitsgründen nach § 227 AO beantragt werden. Gegen eine ablehnende Entscheidung des Finanzamts sind erneut Einspruch und Klage möglich. Die gerichtliche Überprüfung ist hier allerdings nur auf Ermessensfehler beschränkt. Daher ist der rechtliche Weg über die Beantragung eines Abrechnungsbescheides vorzuziehen. Zu beachten ist auch, dass eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Säumniszuschlägen meistens in den Verfahren zur Aussetzung der Vollziehung (AdV) gemäß § 361 AO oder § 69 FGO erfolgt. Der Ausgang der meisten Hauptverfahren ist daher noch abzuwarten. Anzumerken ist jedoch, dass sich das BFH-Urteil vom 23. August 2022 (VII R 21/21), das die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Säumniszuschläge ablehnte, aus einem Hauptsacheverfahren ergab.

Fazit und Ausblick

Die derzeitige Rechtslage, die durch die widersprüchliche BFH-Rechtsprechung bezüglich einer möglichen Verfassungswidrigkeit des § 240 Abs.1 S.1 AO ausgelöst wurde, ist sehr unübersichtlich und für die meisten Steuerpflichtigen rechtlich kaum nachvollziehbar. Bisher wurde keine Anfrage an den Großen Senat beim BFH gestellt. Auch hat keiner der betroffenen BFH-Senate die Rechtsfrage einer möglicher Verfassungswidrigkeit aufgrund § 240 Abs.1 S.1 AO dem BVerfG in Karlsruhe vorgelegt. Da die meisten einschlägigen BFH-Verfahren im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes ergingen, bleibt zu hoffen, dass einer der BFH-Senate diese Frage vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren dem BVerfG vorlegen wird.

Wie die Finanzverwaltung einheitlich auf die oben skizzierte, widersprüchliche BFH-Rechtsprechung reagieren wird, muss man abwarten. Die Praxis zeigt, dass sich die Finanzverwaltung in den meisten Fällen auf die Rechtsprechung der ablehnenden BFH-Senate beruft. Im Falle einer Streitigkeit mit der Finanzverwaltung ist zu empfehlen, sich bei der Begründung der Rechtsmittel auf die oben genannte BFH-Rechtsprechung zu beziehen, die ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Säumniszuschlägen nach § 240 Abs.1 S.1 AO zum Ausdruck bringt.

Zum Autor

Konstantin Weber

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht, Inhaber der WEBER RECHT & STEUERN Kanzlei mit Standorten in Karlsruhe und Baden-Baden; Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind Umsatzsteuerrecht, Steuerstrafrecht und Steuerstreitrecht (Einspruchs- und Finanzgerichtsverfahren)

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