Steuerliche Vollverzinsung - 25. August 2021

Gesetzgeber in der Pflicht

Der aktuelle Zinssatz von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen ab 2014 ist verfassungswidrig. Doch nach der entsprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleiben viele Fragen offen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 8. Juli 2021, veröffentlicht am 18. August 2021, die steuerliche Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen (sogenannte Vollverzinsung) für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 für verfassungswidrig erklärt. Der Zinssatz von 0,5 Prozent monatlich, also sechs Prozent im Jahr, sei ab diesem Zeitpunkt nicht mehr mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vereinbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2019 eine gesetzliche Neuregelung zu schaffen. Dafür hat er eine Frist bis zum 31. Juli 2022 erhalten.

Steuerliche Vollverzinsung

Die steuerliche Vollverzinsung gemäß § 233a der Abgabenordung (AO) soll einen Ausgleich dafür schaffen, dass bei den einzelnen Steuerpflichtigen die Steuern für denselben Veranlagungszeitraum zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Die Verzinsung beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist und endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird. Betroffene Steuerarten sind die Einkommen- und Körperschaftsteuer, die Vermögensteuer (wird derzeit nicht erhoben), sowie die Umsatz- und Gewerbesteuer. Maßgebend für die Verzinsung ist der Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Steuer und bestimmten Abzugsbeträgen, insbesondere Vorauszahlungen.

Ausgangslage

In den letzten Jahren wurden vermehrt Einsprüche gegen die Zinshöhe der Verzinsung von Steuernachforderungen eingereicht, die zu anhängigen Verfahren bei den Gerichten führten. Die Finanzverwaltung hat deshalb bereits seit einigen Jahren Zinsbescheide nur noch vorläufig ergehen lassen. Auf Antrag konnte auch eine Aussetzung der Vollziehung bewilligt werden. In der Praxis stellen Betriebsprüfungen einen der größten Anwendungsfälle der steuerlichen Vollverzinsung dar. Steuernachzahlungen aufgrund einer vorausgegangenen Betriebsprüfung unterliegen ebenfalls der Verzinsung gemäß § 233a AO. Nachdem bei einer Betriebsprüfung teilweise Veranlagungszeiträume aus weit zurückliegenden Jahren geprüft werden, können sich die Nachzahlungszinsen zu großen Beträgen summieren. 

Beschluss des BVerfG

Das BVerfG kommt in seinem Beschluss vom 8. Juli 2021 zu dem Ergebnis, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen mit einem Zinssatz von jährlich sechs Prozent ab dem Jahr 2014 verfassungswidrig ist. Die Zinshöhe von 0,5 Prozent im Monat beziehungsweise sechs Prozent im Jahr sei für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014 nicht mehr mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2013 bewegt sich der Zinssatz von 0,5 Prozent monatlich dagegen noch im angemessenen Rahmen. Die Verfassungswidrigkeit begründet das BVerfG unter anderem damit, dass sich nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 die wirtschaftlichen Verhältnisse zu einem strukturellen Niedrigzinsniveau entwickelt haben.

Auswirkungen

Die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem GG führt nicht automatisch zur Nichtigkeit der Regelung. Das BVerfG kann den Gesetzgeber verpflichten, bis zu einem vorgegebenen Zeitpunkt den Verfassungsverstoß zu beseitigen und eine gesetzliche Neuregelung zu schaffen, die rückwirkend anzuwenden ist. Grundsätzlich erstreckt sich die Verpflichtung zur Neuregelung auf den gesamten von der Unvereinbarkeitserklärung betroffenen Zeitraum. In diesem Fall wären das die Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2014. Das BVerfG hat aus Gründen der verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung allerdings nun eine Fortgeltungsanordnung des bisherigen Rechts für die Verzinsungszeiträume 2014 bis einschließlich 2018 ausgesprochen. Für Verzinsungszeiträume bis einschließlich 2018 kann die bisherige Verzinsung weiter vorgenommen werden. Für Verzinsungszeiträume ab dem 1. Januar 2019 darf das bisherige Recht bis zur gesetzlichen Neuregelung nun aber nicht mehr angewendet werden. Laufende Verfahren sind auszusetzen.

Was können Unternehmen jetzt tun?

Zuerst einmal sollten weiterhin alle eingehenden Zinsbescheide sorgfältig geprüft werden. Neue Zinsbescheide dürfen eine Verzinsung für die Jahre ab 2019 nicht mehr enthalten. Dies sollte aber immer noch einmal überprüft werden. Hier muss auch berücksichtigt werden, wie die Finanzverwaltung die Vorgaben des BVerfG technisch umsetzt. Ein Vorläufigkeitsvermerk würde in diesen Fällen nicht mehr ausreichen. Bei bereits vor dem Beschluss des BVerfG vorläufig ergangenen Bescheiden sollte darauf geachtet werden, dass die Finanzverwaltung diese bis zur Neuregelung weiterhin offenlässt.

Weitergehende Fragen

Darüber hinaus sollten nicht nur Fälle der Verzinsung gemäß § 233a AO offengehalten werden. Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 8. Juli 2021 zwar eine Ausweitung auf andere Verzinsungsregelungen, zumindest zulasten des Steuerpflichtigen, im Rahmen dieses Verfahrens nicht vorgenommen. Derzeit sind allerdings gegen eine Vielzahl von Verzinsungsregelungen weitere Verfahren anhängig. Der Ausgang dieser Verfahren muss nicht mit dem Ergebnis zur steuerlichen Vollverzinsung übereinstimmen, da hier auch andere Kriterien zum Tragen kommen. Es kann jedoch damit gerechnet werden, dass der Gesetzgeber im Zuge der gesetzlichen Neuregelung nicht nur die steuerliche Vollverzinsung, sondern auch andere Verzinsungsregelungen, die verfassungswidrig sein könnten, gleich mit angeht. Dem Vernehmen nach werden im Bundesministerium der Finanzen (BMF) derzeit schon Berechnungen der Auswirkungen von anderen Verzinsungsregelungen durchgeführt.

Ausgestaltung der Neuregelung offen

Mit der tatsächlichen Rückzahlung von zu viel gezahlten Zinsen auf Steuernachzahlungen ist dagegen frühestens mit der gesetzlichen Neuregelung zu rechnen. Wenn der Gesetzgeber seine Frist vollständig wahrnimmt, wäre also frühestens nach dem 31. Juli 2022 damit zu rechnen. Somit kann man derzeit nur abwarten, wie sich der Gesetzgeber entscheidet. Eine Prognose, wie die gesetzliche Neuregelung aussehen könnte, ist insbesondere vor der Bundestagswahl 2021 schwer zu treffen. Das BVerfG hat keine Äußerung zur Höhe eines angemessenen Zinssatzes getroffen. So wäre beispielsweise ein variabler Zinssatz unter Anknüpfung an geeignete Referenzzinssätze denkbar. Grundsätzlich hatte das BVerfG aber auch keine Bedenken gegen einen festen Zinssatz, gegebenenfalls mit einem gesetzlich geregelten Überprüfungszeitraum beziehungsweise zumindest eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht. Dieser müsste dann aber für die Verzinsungszeiträume ab 2019 niedriger als 0,5 Prozent pro Monat sein.

Fazit und Ausblick

Die gesetzliche Neuregelung bleibt also abzuwarten. Solange nicht zumindest ein erster Gesetzentwurf vorliegt, kann nicht abgeschätzt werden, ab wann und in welcher Höhe mit Rückzahlungen seitens der Finanzverwaltung zu rechnen ist. Daher bleiben aktuell auch nach der Entscheidung des BVerfG, wonach die Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen mit 0,5 Prozent im Monat beziehungsweise sechs Prozent im Jahr für Verzinsungszeiträume ab 2014 verfassungswidrig sei, viele Fragen offen. Der Gesetzgeber ist nun aber verpflichtet, zumindest teilweise, Abhilfe zu schaffen.

Zum Autor

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Nathalie Noder

Steuerberaterin bei Rödl & Partner im Bereich Wissensmanagement Steuern. Sie ist unter anderem zuständig für die neuesten Entwicklungen aus Gesetzgebung und Rechtsprechung, insbesondere mit Blick auf die laufende Steuerveranlagung von mittelständischen Unternehmen.

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