Das aktuelle Insolvenzgeschehen gibt Anlass zur Sorge. Daher sollten Unternehmen sowie ihre externen Berater nun wieder an eine Liquiditätsplanung denken und die insolvenzrechtlichen Sorgfaltspflichten beachten.
Die 2022 bei den Unternehmensinsolvenzen erkennbare Trendwende setzte sich auch im ersten Halbjahr 2023 fort – allerdings in bisher kaum gekanntem Ausmaß. Laut aktuellen Erhebungen von Creditreform war eine höhere prozentuale Zunahme der Unternehmensinsolvenzen gegenüber dem Vorjahreshalbjahr zuletzt im Jahr 2002 zu beobachten. In absoluten Zahlen ausgedrückt, beliefen sich die Unternehmensinsolvenzen im ersten Halbjahr 2023 auf circa 8.400, wohingegen im selben Zeitraum 2022 lediglich 7.230 Insolvenzen zu verzeichnen waren. Dementsprechend sind die prozentualen Zuwächse bei den Unternehmensinsolvenzen über alle Hauptwirtschaftsbereiche hinweg deutlich erhöht ausgefallen, wobei das Baugewerbe mit einem Zuwachs von 9 Prozent das Schlusslicht und das verarbeitende Gewerbe mit einem Zuwachs von 22,6 Prozent den Spitzenreiter bilden. Gegenüber dem Vorjahreshalbjahr waren auch deutlich mehr Insolvenzen großer und mittlerer Unternehmen festzustellen (Zuwächse um 67 beziehungsweise 133,3 Prozent), weshalb im ersten Halbjahr 2023 auch signifikant mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen waren. Verantwortlich für diese Entwicklung ist nach Einschätzung der Experten eine ganze Reihe von Gründen. Besonderes Gewicht komme aber vor allem den gestiegenen Energie- und Rohstoffpreisen sowie der durch die Europäische Zentralbank (EZB) eingeläuteten Zinswende zu. Auch das eher zurückhaltende Konsumverhalten der Verbraucher habe in der aktuellen Situation zu den schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Unternehmen beigetragen. Ein Absinken der Insolvenzzahlen für das zweite Halbjahr 2023 sei daher nicht zu erwarten. Nicht zuletzt geben diese Entwicklungen für Geschäftsleitungs- und Aufsichtsorgane von Unternehmen Anlass, sich detailliert mit krisenbezogenen Pflichten bei der Unternehmensführung und Überwachung auseinanderzusetzen. Dies gilt insbesondere im Zusammenhang mit Insolvenzantragspflichten. Dabei ist seit dem 1. September 2023 zu berücksichtigen, dass gesetzliche Lockerungen im Rahmen der insolvenzrechtlichen Prüfung der Überschuldung gemäß § 19 Insolvenzordnung (InsO) nach überwiegender Auffassung nicht mehr zur Anwendung kommen. Nachfolgend soll daher ein kompakter Überblick über die Hintergründe sowie die Auswirkungen der aktuell maßgeblichen Regelungen und der damit zusammenhängenden Pflichten gegeben werden, insbesondere der Geschäftsleitungsorgane von Unternehmen.
Verkürzung des Prognosezeitraums
Den Anstieg der Energie- und Rohstoffpreise im Zuge des Ukraine-Konflikts sowie die damit einhergehenden Unsicherheiten über Art, Ausmaß und Dauer des eingetretenen Krisenzustands nahm der Gesetzgeber zum Anlass, bestimmte Modifikationen im Insolvenz- und Sanierungsrecht vorzunehmen. Am 9. November 2022 ist das Gesetz zur vorübergehenden Anpassung sanierungs- und insolvenzrechtlicher Vorschriften zur Abmilderung von Krisenfolgen, das Sanierungs- und insolvenzrechtliche Krisenfolgenabmilderungsgesetz (SanInsKG), in Kraft getreten. Dieses Gesetz hat zugleich das im Rahmen der Corona-Pandemie eingeführte Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVInsAG) fortgeschrieben und dessen Bezeichnung abgelöst. Eine wesentliche und äußerst praxisrelevante Ausprägung des SanInsKG war die Verkürzung des Prognosezeitraums bei der Überschuldungsprüfung. Nach § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SanInsKG tritt in dem Zeitraum vom 9. November 2022 bis einschließlich 31. Dezember 2023 an die Stelle des in § 19 Abs. 2 S. 1 InsO genannten Zeitraums von zwölf Monaten ein Zeitraum von vier Monaten.
Wesen der Überschuldungsprüfung
Eine Überschuldung im Rechtssinne des § 19 Abs. 2 InsO liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners bei Ansatz von Liquidationswerten die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt (rechnerische Überschuldung), es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist – innerhalb der nächsten zwölf Monate, so die Gesetzeslage zunächst seit dem 1. Januar 2021 – nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Eine Überschuldung ist also dann nicht gegeben, wenn nach überwiegender Wahrscheinlichkeit die Finanzkraft des Unternehmens mittelfristig zur Fortführung ausreicht. Es besteht demzufolge grundsätzlich eine zweistufige Prüfungsreihenfolge. Zum einen bedarf es einer bilanziellen Betrachtung, zum anderen muss eine Fortbestehensprognose gestellt werden. In diesem Zusammenhang setzt eine positive Fortbestehensprognose voraus, dass sich anhand der dokumentierten Ertrags- und Finanzplanung die überwiegende Wahrscheinlichkeit ergibt, dass die Gesellschaft mittelfristig Einnahmeüberschüsse erzielen wird, aus denen die gegenwärtigen und künftigen Verbindlichkeiten gedeckt werden können. Die Fortbestehensprognose ist insoweit im Kern eine Zahlungsfähigkeitsprognose. Betrachtet werden muss dabei der jeweilige Prognosezeitraum.
Eingriff durch den Gesetzgeber
Am Element des Prognosezeitraums hat der Gesetzgeber mit dem SanInsKG angesetzt und den gemäß § 19 Abs. 2 S. 1 InsO maßgeblichen Prognosezeitraum für die Zeit vom 9. November 2022 bis einschließlich 31. Dezember 2023 von zwölf auf vier Monate verkürzt. Relevant war fortan, ob sich in dem lediglich vier Monate währenden Prognosezeitraum die Fortführung des Unternehmens als überwiegend wahrscheinlich darstellte, was letztlich eine Prüfung der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens im entsprechenden Zeitraum erforderte. Die Verkürzung des Prognosezeitraums sorgte in der Praxis bei einer Vielzahl von Fällen dafür, dass Unternehmen trotz fortgeschrittener Krise und einer angespannten Liquiditätslage weiterhin von einer positiven Fortbestehensprognose ausgehen konnten. Insbesondere Rückzahlungsverpflichtungen im Zusammenhang mit endfälligen Krediten und Tilgungen, unter anderem bei Förderkrediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die außerhalb des verkürzten Prognosezeitraums lagen, blieben bei der Bewertung der Durchfinanzierung außer Betracht. Zugleich wurden die Zugangsvoraussetzungen für die Instrumente des Gesetzes über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG) faktisch herabgesetzt, da für viele Unternehmen durch die Verkürzung des Prognosezeitraums das Vorliegen obligatorischer Insolvenzgründe verneint werden konnte.
Ende des Regelungszeitraums
Bereits kurz nach Inkrafttreten des SanInsKG stellte sich in Wissenschaft und Praxis die Frage, wie lange sich Unternehmen bei der Überschuldungsprüfung des verkürzten Prognosezeitraums bedienen können. Neben dem Gesetzeswortlaut, der einen Geltungszeitraum bis zum 31. Dezember 2023 vermuten lassen könnte, ist zur Beantwortung dieser Frage auch die Gesetzesbegründung heranzuziehen. Der Gesetzgeber hat insoweit bereits ausgeführt, dass zu berücksichtigen sei, dass die Regelungen schon vor dem Ablauf der Geltungsdauer einen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit einbüßen könnten. Denn wenn für ein Unternehmen weniger als vier Monate vor Ablauf der Geltungsdauer feststünde, dass es unmittelbar nach Ablauf der Geltungsdauer unter dem dann wieder maßgeblichen Überschuldungsbegriff des § 19 InsO überschuldet sein würde, könne dieser Befund auch für die unter § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SanInsKG zu erstellende Prognose relevant sein. Generell müssen beim Aufstellen einer Prognose diejenigen Maßstäbe herangezogen werden, die in diesem Zeitpunkt gelten. Allerdings sprechen Zweckmäßigkeitserwägungen für die Einschränkung des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 4 SanInsKG. Sofern bereits ab September 2023 absehbar gewesen sein sollte, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine dauerhafte Liquiditätsunterdeckung ab dem Jahresbeginn 2024 – in dem von nun an wieder geltenden zwölfmonatigen Zeitraum – eintreten wird, wäre es schlichtweg widersinnig, ohne Weiteres das Vorliegen einer Überschuldung gemäß § 19 InsO zu verneinen. Insoweit ist bereits ab September 2023 eine Erweiterung des Planungszeitraums erforderlich gewesen. Dabei ist der voranstehende Hinweis des Gesetzgebers nach überwiegender Auffassung so zu verstehen, dass ein zwölfmonatiger Zeitraum anzusetzen sei, sofern der Viermonatszeitraum in das Jahr 2024 hineinragt. Allerdings dürfte es bei der Beschränkung auf zwölf Monate bleiben, sodass erst ab dem 1. Januar 2024 das gesamte Jahr 2024 zu berücksichtigen wäre. Der Zweck des SanInsKG, Unternehmen in einer wirtschaftlich angespannten Situation zu unterstützen und insbesondere Planungsunsicherheiten abzumildern, würde anderenfalls ins Gegenteil verkehrt, wenn der Prognosezeitraum ab dem 1. September 2023 sogar über einen zwölfmonatigen Zeitraum hinausginge. Im Ergebnis ist daher anzuraten, die Prüfung einer etwaigen Überschuldung bereits ab dem 1. September 2023 wieder anhand des zwölfmonatigen Prognosezeitraums in § 19 Abs. 2 S. 1 InsO vorzunehmen, auch wenn die Lektüre des Wortlauts von § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SanInsKG Gegenteiliges nahelegen mag. Dies sollte insbesondere auch durch eingebundene Berater beachtet werden. Gemäß § 102 StaRUG haben Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer und Rechtsanwälte ihre Mandanten auf das Vorliegen eines möglichen Insolvenzgrunds hinzuweisen, wenn entsprechende Anhaltspunkte offenkundig sind.
Auswirkungen für Unternehmen
Da die Fortführungsprognose im Wesentlichen eine Prüfung der Zahlungsfähigkeit für den Prognosezeitraum beinhaltet, ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, eine zwölfmonatige Liquiditätsplanung für das Unternehmen zu erstellen. Nur anhand einer fundierten Planung ist ersichtlich, ob eine Durchfinanzierung über den Planungszeitraum gegeben ist beziehungsweise unter welchen Bedingungen oder mit welchen Maßnahmen diese erreicht werden kann. Es bedarf insoweit einer detaillierten, transparenten und technisch sauber geleiteten Liquiditätsplanung. Diese Anforderungen sind in der Praxis aber häufig nur unzureichend umgesetzt. Hier besteht vielerorts dringender Handlungsbedarf. Bei der Erstellung einer Liquiditätsplanung lohnt es sich, die angewandte Systematik auf die tatsächlichen Anforderungen hin zu überprüfen. Eine fortgeschrittene Krise erfordert eine punktgenaue Analyse sowie eine termingerechte Auseinandersetzung mit fälligen Verbindlichkeiten und zur Verfügung stehenden Mitteln. Die erforderliche Planungstiefe kann dabei im Hinblick auf den Planungszeitraum variieren. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass das Vorliegen von Insolvenzgründen auch im Konzernverbund auf der Ebene der jeweiligen Einzelgesellschaft beurteilt werden muss. Insoweit ist es erforderlich, für jede Einzelgesellschaft eine Liquiditätsplanung zu erstellen. Grundsätzlich lassen sich die Phasen einer Liquiditätsplanung in kurz-, mittel- und langfristige Liquiditätsplanungen einteilen. Bei einer sehr weit fortgeschrittenen Krise ist zudem zur Prüfung der Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO ein stichtagsbezogener Liquiditätsstatus erforderlich. Für die Erstellung einer kurzfristigen Liquiditätsplanung hat sich in der Praxis ein Zeitraum von 13 Wochen etabliert. Dabei wird auf Wochenbasis eine Liquiditätsvorschau anhand der direkten Methode durch Gegenüberstellung der erwarteten Ein- und Auszahlungen erstellt. Dadurch wird erhebliche Transparenz geschaffen und die Geschäftsleitung in die Lage versetzt, das Unternehmen auch durch angespannte Zeiten zielgenau zu steuern. Zur Vermeidung von Haftungsrisiken lohnen sich eine erhebliche Detailtiefe und zusätzlicher zeitlicher Aufwand. Sofern hierfür nicht ausreichend Kapazitäten oder Know-how vorhanden sind, sollte zwingend externe Beratung eingeholt werden. Aus der direkten Liquiditätsplanung folgt eine Überleitung in eine indirekte Liquiditätsplanung, um mittel- und langfristige Geschäftsentwicklungen bewerten zu können. Der Grad der planerischen Annahmen wird dabei automatisch weicher. Insofern sollten alle planmäßigen Annahmen ausführlich dokumentiert und mit Eintrittswahrscheinlichkeiten versehen werden. Eine fortlaufende Überprüfung der gesetzten Prämissen ist verpflichtend.
Fazit
Die derzeitige Marktlage sowie die auslaufenden gesetzlichen Erleichterungen führen dazu, dass dem Thema Liquidität besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Die Pflicht zur Implementierung einer zeitraumbezogenen Finanzplanung ergibt sich zudem auch aus § 1 Abs. 1 S. 1 StaRUG, der die Geschäftsleitung eines haftungsbeschränkten Rechtsträgers zur Überwachung von Entwicklungen verpflichtet, die den Bestand des Rechtsträgers gefährden können. Denn die Identifikation und Beobachtung bestandsgefährdender Entwicklungen ist ohne eine entsprechende Unternehmensorganisation gar nicht möglich. Daher ist das Erstellen einer zeitraumbezogenen Finanzplanung auch vor dem Hintergrund der Überwachungspflichten aus § 1 Abs. 1 S. 1 StaRUG geboten.
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