Staatliche Hilfen und Insolvenzen - 29. Juli 2021

Der Schein trügt

Durch die weltweite Corona-Pandemie ist die deutsche Wirtschaft im Jahr 2020 um etwa fünf Prozent geschrumpft. Mit dem Rückgang der Wirtschaftsleistung ging jedoch keine Zunahme der Unternehmensinsolvenzen einher. Paradoxerweise war vielmehr das Gegenteil der Fall.

Während 2009 rund 18.300 Unternehmensinsolvenzen zu verzeichnen waren, sank diese Zahl im Corona-Krisenjahr 2020 laut Informationen der Creditreform auf 16.300 Fälle, was einem Rückgang von etwa 13 Prozent entspricht. Im Oktober 2020 haben die deutschen Amtsgerichte laut Statistischem Bundesamt 1.084 Unternehmensinsolvenzen und damit 31,9 Prozent weniger als im Oktober 2019 gemeldet. 2020 stieg die Zahl der eröffneten Regelinsolvenzverfahren erstmals in den Monaten November (fünf Prozent) und Dezember 2020 (18 Prozent). Im Januar 2021 kehrte sich dieser Trend allerdings schon wieder um: Im Vergleich zum Vormonat sank die Zahl der Unternehmensinsolvenzen um fünf Prozent und lag um 34 Prozent niedriger als im Januar 2020.

Insolvenzen nach Umsätzen

Ein anderes Bild zeigt sich jedoch, wenn man die Unternehmensinsolvenzen nach Umsätzen differenziert: Wachsend ist laut Creditreform die Zahl der Insolvenzen von Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als fünf Millionen Euro. Entgegen dem allgemeinen Trend stieg die Zahl der Insolvenzen bei den Unternehmen mit Umsätzen zwischen fünf und 25 Millionen Euro um 26,4 Prozent und bei den Unternehmen mit Umsätzen zwischen 25 und 50 Millionen Euro um 36,4 Prozent. Die Zahl der Insolvenzen von Unternehmen mit mehr als 50 Millionen Euro Umsatz verdoppelte sich sogar im vergangenen Jahr. Da der Anteil von Unternehmen mit mehr als fünf Millionen Euro Umsatz nur etwa 7,6 Prozent der Unternehmensinsolvenzen ausmacht, schlagen sich diese Steigerungen bei der Gesamtzahl von Unternehmensinsolvenzen nicht nieder. Der Anteil von Unternehmen mit mehr als fünf Millionen Euro Umsatz an den Unternehmensinsolvenzen hat sich zugleich erhöht (2019: 4,9 Prozent). Gleichzeitig sind mehr Unternehmen mit einer Beschäftigtenzahl über 100 Personen in die Insolvenz gegangen. Hier erhöhte sich der Anteil von 0,8 Prozent auf 1,5 Prozent. Dadurch sind auch mehr Arbeitsplätze von Unternehmensinsolvenzen betroffen. Während 2019 geschätzt 218.000 Arbeitsplätze durch Unternehmensinsolvenzen bedroht beziehungsweise bereits weggefallen sind, waren es ein Jahr später bereits 332.000 Arbeitsplätze. Auch die Schäden der Gläubigerinnen beziehungsweise der Gläubiger stiegen bedingt durch die Großinsolvenzen auf gut zwei Millionen Euro je Insolvenzfall.

Prominente Insolvenzen

In den Medien wurde insbesondere über die Insolvenzverfahren der Galeria Karstadt Kaufhof GmbH, das zwischenzeitlich bereits beendet werden konnte, sowie der Modehändler Esprit, SiNN (ehemals SinnLeffers), Bonita, Tom Tailor und Hallhuber berichtet. Eher einem Wirtschaftskrimi glich hingegen die Insolvenz der Wirecard AG. Auch einige Automobilzulieferer wie die Veritas AG und die KSM Castings Group GmbH fanden sich unter den größeren Unternehmensinsolvenzen. Das Regelverfahren stellte in diesen Fällen die Ausnahme dar. In den Großinsolvenzen wurde häufig Gebrauch gemacht von den Möglichkeiten der Eigenverwaltung, des Insolvenzplans sowie des Schutzschirmverfahrens, durch das unter anderem Zwangsvollstreckungsmaßnahmen gegen den Schuldner untersagt oder einstweilen eingestellt werden können.

Schlussfolgerungen

Der allgemeine Rückgang der Unternehmensinsolvenzen dürfte in erster Linie durch die zeitweise Aussetzung der Insolvenzantragspflicht begründet sein. Durch das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz war die Insolvenzantragspflicht zunächst für den Zeitraum vom 1. März 2020 bis zum 30. September 2020 ausgesetzt worden, und zwar sowohl für den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit als auch den der Überschuldung. Voraussetzung war allerdings, dass die Insolvenzreife auf der Corona-Pandemie beruhte und Aussichten auf Beseitigung einer Zahlungsunfähigkeit bestanden. Diese Regelungen dürften auch viele Geschäftsführer von bereits vor der Corona-Pandemie insolvenzreifen Gesellschaften von der Stellung eines Insolvenzantrags abgehalten haben.

Gefahr einer Haftungswelle

Ende September 2020 wurde die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht bis zum 31. Dezember 2020 verlängert, allerdings nur für den Insolvenzgrund der Überschuldung. Unter Berücksichtigung der damals noch einheitlich maximal dreiwöchigen Antragspflicht und der Bearbeitungszeiten der Insolvenzgerichte mag sich daher die zunächst leichte Steigerung der Insolvenzen im November 2020 und die dann stärkere Steigerung im Dezember 2020 erklären. Zum 1. Januar 2021 wurde die Insolvenzantragspflicht sowohl für den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit als auch den der Überschuldung erneut ausgesetzt. Die erneute Aussetzung sollte zunächst bis zum 31. Januar 2021 gelten und wurde später bis zum 30. April 2021 verlängert. Sie galt allerdings nur, wenn ein Antrag auf die Gewährung finanzieller Hilfeleistungen im Rahmen staatlicher Hilfsprogramme gestellt wurde oder ein berechtigter Antrag aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausgeblieben ist. Hintergrund waren die sogenannten November- und Dezemberhilfen für diejenigen Unternehmen, die von dem sogenannten zweiten Lockdown betroffen waren, bei deren Beantragung und Auszahlung es zu Problemen und Verzögerungen kam. Es drängt sich teilweise jedoch der Eindruck auf, dass die engen Voraussetzungen in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise untergegangen sind und viele Geschäftsführer deshalb schlicht nicht wussten oder wissen, dass nicht allgemein die Aussetzung der Antragspflicht verlängert wurde. Dies gilt umso mehr für kleinere Gesellschaften, die sich in geringerem Umfang oder jedenfalls nicht durchgehend betriebswirtschaftlich und insolvenzrechtlich beraten lassen. Beides mögen Gründe dafür sein, dass die Insolvenzzahlen im Januar 2021 bereits wieder gesunken sind. Jedenfalls besteht hier die Gefahr einer Haftungswelle für die antragspflichtigen Geschäftsführer, sobald die aufgestaute Masse an insolvenzrelevanten Fällen einmal aufgearbeitet werden kann.

Insolvenzreife trotz erfolgter Hilfen

Die Zunahme der Insolvenzen unter den größeren Unternehmen mag spiegelbildlich mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der regelmäßigen und umfassenderen Beratung zu erklären sein. Da die Insolvenzantragsgründe weiterhin unverändert fortbestehen, haben größere Unternehmen möglicherweise auch in größerem Umfang die Insolvenz als Sanierungsinstrument bereits zu einem früheren Zeitpunkt genutzt, als bereits absehbar war, dass eine Restrukturierung erforderlich sein würde. Dafür spricht wohl auch, dass die Großinsolvenzen häufig nicht im Regelverfahren erfolgt sind, sondern sich hier gehäuft gerade der Instrumente bedient wurde, die der Gesetzgeber in den letzten Jahren zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen zur Verfügung gestellt hat. In zweiter Linie hatten sicherlich auch die staatlichen Hilfen Einfluss auf die Insolvenzzahlen. Zum einen konnten in personalintensiven Branchen Kosten durch das Kurzarbeitergeld externalisiert werden. Auch Fixkostenzuschüsse sowie umsatzabhängige Zuschüsse dürften ihren Beitrag dazu geleistet haben, die Insolvenzzahlen niedrig zu halten. So war 2020 der Rückgang der Insolvenzzahlen mit 16,3 Prozent überdurchschnittlich stark ausgerechnet im Handel, zu dem auch der besonders von den Schließungsanordnungen betroffene Bereich des Einzelhandels zählt. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass der Liquiditätszufluss an die Unternehmen in manchem Fall lediglich eine anderenfalls eingetretene Zahlungseinstellung des Schuldners verhindert hat, das Unternehmen aber gleichwohl insolvenzreif geblieben ist. Vorstellbar ist beispielsweise, dass mit dem Liquiditätszufluss gerade die alten, besonders drückenden Schulden beseitigt und gleichzeitig neue Verbindlichkeiten in einem Umfang eingegangen wurden, die realistischerweise nicht nachhaltig bedient werden können.

Verbraucherinsolvenz

Noch viel deutlicher sind die Verbraucherinsolvenzen zurückgegangen. Die Creditreform schätzt für 2020 einen Rückgang um 27,1 Prozent. Der Hintergrund hierfür dürfte in der Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens zu sehen sein. Mit Wirkung vom 1. Oktober 2020 ist dieses auf drei Jahre verkürzt worden. Für Insolvenzverfahren, die im Zeitraum vom 17. Dezember 2019 bis einschließlich 30. September 2020 beantragt worden sind, wurde zwar eine Überleitungsvorschrift geschaffen, welche die Wohlverhaltensphase monatlich von bislang regulär sechs Jahren auf bis zu vier Jahre und zehn Monate absenkt. Angesichts dessen ist es aber sehr wahrscheinlich, dass viele natürliche Personen, bei denen ein Insolvenzgrund gegeben war, mit ihrem Insolvenzantrag bis zum Oktober 2020 gewartet haben. Aufgrund der üblichen Dauer zwischen Insolvenzantrag und Eröffnungsbeschluss sowie der nachlaufenden statistischen Erfassung ist anzunehmen, dass sich bei den Verbraucherinsolvenzen zeitnah Nachholeffekte einstellen werden. Tatsächlich lag die Zahl der Verbraucherinsolvenzen im ersten Quartal 2021 bereits bei 56,5 Prozent der gesamten Vorjahreszahl. Die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens dürfte auch der Grund dafür sein, dass sich der Anteil von Einzelunternehmen und Berufsträgern aus dem Bereich der freien Berufe unter den Unternehmensinsolvenzen nach Angaben der Creditreform von 40,7 Prozent auf 36,5 Prozent verringert hat. Ebenso wie Verbraucher profitieren Einzelunternehmer und Freiberufler von der Verkürzung der Wohlverhaltensphase.

Ausblick

Da sich die Entwicklung der Insolvenzeröffnungen von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nahezu vollständig abgekoppelt hat, ist kaum zu prognostizieren, wie sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen entwickeln wird. In der Antwort der Bundesregierung vom 25. Januar 2021 auf eine Kleine Anfrage von Abgeordneten der FDP teilte diese mit, dass sich nach ihrer Einschätzung die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2021 deutlich erhöhen wird. Die Bundesregierung verweist auf Experteneinschätzungen, die von einem vier- bis niedrigen fünfstelligen Anstieg der Zahl der Unternehmensinsolvenzen ausgehen. Eine massive Insolvenzwelle in der Breite der Realwirtschaft sei demnach nicht zu erwarten, allerdings seien die Prognosen angesichts fehlender Erfahrungswerte mit hoher Unsicherheit behaftet. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie weist auch auf die historischen Erfahrungen hin: Die höchsten Anstiege der Unternehmensinsolvenzen habe es im Zuge der Ölpreiskrisen von 1974 und 1982, nach der Wiedervereinigung sowie nach dem Platzen der Dotcom-Blase gegeben, und zwar mit prozentualen Anstiegen von bis zu 50 Prozent. Nach der Finanzkrise 2009 – in der die deutsche Wirtschaft übrigens einen stärkeren Rückgang durchlebte als 2020 – seien die Insolvenzen jedoch lediglich um zwölf Prozent gestiegen. Die größte Insolvenzwelle hat es nach der Wiedervereinigung gegeben, als sich über die Jahre die Zahl der Unternehmensinsolvenzen mehr als verdreifachte.

Fazit

Der Blick in die Glaskugel verrät somit nur, dass die Zahl der Insolvenzen sehr wahrscheinlich steigen wird. Unklar ist jedoch, wann und in welchem Ausmaß dies der Fall sein wird. Spätestens mit dem endgültigen Wiederaufleben der Insolvenzantragspflicht seit dem 1. Mai 2021 und dem Auslaufen der staatlichen Hilfsmaßnahmen dürfte uns die Bugwelle an Insolvenzen erreichen.

Zu den Autoren

SL
Dr. Steffen Lorscheider, LL.M.

Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht und Notar. Er ist Managing-Partner bei Spieker & Jaeger Rechtsanwälte Wirtschaftsprüfer Steuerberater PartGmbB in Dortmund.

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JM
Jan Mäkeler, LL.M.

Rechtsanwalt bei Spieker & Jaeger Rechtsanwälte Wirtschaftsprüfer Steuerberater PartGmbB in Dortmund.

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