Erst, wenn danach gesucht wird, erkennen Unternehmen, wie bedeutend es ist, produktiv damit umzugehen. Wissen so zu teilen, dass es zum richtigen Zeitpunkt den richtigen Personen zur Verfügung steht. Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt verbunden mit neuen Formen der Zusammenarbeit machen es notwendig, über den Aufbau, Erhalt und die Weitergabe von Wissen ganz neu nachzudenken.
Es kam der Tag, an dem sie wegging. Und das Spezialwissen ging mit ihr. Der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Peter Leidel kann sich noch gut an den Auslöser erinnern, der ihm den Wert des Wissensschatzes einer Kanzlei vor Augen führte. Damals verließ eine angestellte Steuerberaterin seine Kanzlei im niederbayerischen Regen. Sie war Fachfrau für öffentliche Finanzierungen und Zuschüsse – das Expertenwissen, was sie auf diesem Gebiet erworben hatte, fehlte der Kanzlei nun. „Spätestens an dem Punkt war mir klar, dass wir in unserer Kanzlei ein professionelles Wissensmanagement etablieren müssen“, erzählt Leidel.
Es wurde mir klar, dass wir in unserer Kanzlei ein professionelles Wissensmanagement etablieren müssen.
In der Tat hat sich Wissen zum eigenständigen Produktionsfaktor neben den klassischen Faktoren wie Personal und Betriebsmittel entwickelt. Vor allem in Branchen, die stark Know-how-abhängig sind, ist es entscheidend, Wissen möglichst effektiv und effizient in Arbeitsprozessen einzusetzen. Spezifisches Wissen, aber auch Wissen über die eigene Organisation und natürlich über Kunden und Mandanten gewinnen an Bedeutung. Und selbst wenn Unternehmen und Kanzleien kein aktives Wissensmanagement verfolgen, verfügen sie über ein solches: „Der Unterschied besteht darin, dass bei einer aktiven Auseinandersetzung mit dem Thema systematisch auf eine Optimierung abgezielt wird, während dies bei einer weniger fokussierten Herangehensweise nicht der Fall sein muss“, erklärt Erik Steinhöfel. Er leitet das Competence Center Wissensmanagement am Fraunhofer IPK in Berlin. Bereits Ende der 1980er-Jahre, mit dem Übergang von der Informations- zur Wissensgesellschaft, hat sich das Thema in den Vordergrund geschoben. „Während zuvor bei der Entwicklung von Informationssystemen das Hauptaugenmerk auf Daten und Informationen lag, rückten mit dem Wissensmanagementansatz Lern- und Innovationspotenziale in den Fokus“, sagt Steinhöfel. Heute gibt es eine Fülle von Akteuren und Institutionen, die sich mit Wissensaufbau, -erhalt und -weitergabe befassen – sowohl in der Forschung als auch in der unternehmerischen Praxis. Dabei lässt sich das Wissensmanagement auf unterschiedlichen Ebenen betrachten: Im strategischen Sinne ist Wissen intellektuelles Kapital und gilt als strategischer Erfolgsfaktor, um Wettbewerbsvorteile zu generieren. „Auf dieser Ebene sollten Kompetenzen, Fähigkeiten und Motivation der Mitarbeiter, alle Strukturen sowie alle Beziehungen zu externen Personen und Gruppen so entwickelt werden, dass die Unternehmensziele erreicht werden können“, erklärt Steinhöfel. Das intellektuelle Kapital lasse sich mit einer sogenannten Wissensbilanz strukturiert und zielgerichtet bewerten und handhaben. Auf der operativen Ebene gehe es hingegen darum, wie Wissen in Arbeitsprozessen generiert, gespeichert, verteilt und angewandt wird. „In diesem Zusammenhang spielen sowohl der einzelne Mensch, verfügbare Technologien als auch die Organisation eine wichtige Rolle.“
Steuerberater geben ein typisches Beispiel für Wissensarbeiter mit sehr heterogenen Vorgängen. Kein Fall ist wie der andere – und dennoch können Teilaufgaben von vergangenen Fällen profitieren. Prof. Dr. Andreas Dengel, Leiter des Bereichs Smarte Daten & Wissensdienste am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern, bringt hierfür recht konkrete Vorstellungen ins Spiel: „Der Steuerberater muss frühere, ähnliche Sachverhalte effizient finden, gleichzeitig aber große Aktenmengen in kurzer Zeit korrekt und vollständig aufnehmen und beurteilen können. Automatisierte Ablage und Suche, Vorverarbeitung von Dokumenten und zielgerichtete Informationsextraktion aus Texten, Datensammlungen, Bildern und Filmen im Kontext der aktuellen Aufgabe, aber auch Dokumentation der untersuchten Informationen als Mittel der Qualitätssicherung sind Beispiele für erfolgversprechende Ansätze.“ Damit könnten unnötige Zeitfresser verringert sowie die Vollständigkeit und Korrektheit der Entscheidungsgrundlagen verbessert werden.
Häufig wissen ein Unternehmen und auch eine Kanzlei aber gar nicht so genau, was sie wissen. Das Wissen ist breit gestreut, kommt nicht über Abteilungsgrenzen hinweg oder wird nicht geteilt. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Betroffenen sich der Problematik durchaus bewusst sind. Als konkrete Folgen einer unvollständigen, veralteten oder fehlerhaften Wissensbasis nennen laut einer Untersuchung der Haufe-Gruppe 82 Prozent der Befragten Mehrarbeit, 69 Prozent falsche Aufgabenerfüllung und 66 Prozent Fehlentscheidungen. Die Ergebnisse der Studie weisen zugleich darauf hin, wo mögliche Knackpunkte im Wissensmanagement liegen: So werden elektronische Medien wie Intranet, E-Mails und Newsletter am häufigsten genutzt, um Wissen weiterzugeben. Informationen werden jedoch überwiegend im persönlichen Austausch mit Kollegen gesucht.
Dass Wissen oft in Gesprächen hängenbleibt, hat Steuerberater Leidel in seiner Kanzlei erfahren: „Auch bei uns wurde Wissen hauptsächlich über Kommunikation geteilt. Das ist im Prinzip nichts Schlechtes, aber eben nichts Bleibendes – und es werden Leute vom Wissen unbeabsichtigt ausgeschlossen.“ Daher habe er nach Lösungen gesucht, um das Wissen für alle zur Verfügung zu stellen – und unterschiedliche Ansätze entdeckt. „Wir wollen unsere Mitarbeiter dazu motivieren, vor allem neu erlerntes Wissen zu teilen. Daher haben wir den Automatismus eingerichtet, dass die Reisekosten für eine Fortbildung erst dann erstattet werden, wenn ein Seminarbericht im System vorliegt.“ Aber auch die Partner der Kanzlei tragen zum Wissensaufbau bei und haben eine FAQ-Liste erstellt. Wichtige Fachaufsätze und aktuelle Literatur teilt Leidel mittlerweile per App und Cloud mit den Berufsträgern. Außerdem werden aktuelle Rechtsfragen, die sich bei bestimmten Mandaten stellen, für die Kanzlei verbindlich beantwortet. „Wir wollen unsere Mitarbeiter dahin führen, dass sie nicht ständig fragen, sondern es sich zur Gewohnheit machen, nachzuschauen und bereits beantwortete Fragen im Wissenssystem zu suchen.“
Wissen bündeln, sinnvoll verwalten – und vor allem sein Potenzial ausschöpfen: Das klingt nach einem einfachen Patentrezept. Aber was für diese Kanzlei passt, ist für jene weniger praktikabel. „Es erfordert einen Wissensingenieur, jemand, der für das Wissensmanagement verantwortlich zeichnet und einen Maßanzug fertigt“, erklärt Professor Dengel. Zudem sei jede Form des Wissensaustauschs gut. „Den Mitarbeitern gezielt Freiräume zu lassen und Orte der Begegnung anzubieten, begünstigt diesen für wissensintensive Arbeiten sehr essentiellen Austausch.“ Finanzielle Anreize seien dagegen meist nur von begrenzter Haltbarkeit. Menschen, die Informationen teilen und beisteuern, müssten Anerkennung erfahren, vor allem von ihren Vorgesetzten. Wissensmanagement ist also auch eine Frage der Unternehmenskultur, die von oben vorgelebt werden muss.
Wichtig ist außerdem ein einheitliches Verständnis – und nicht das Ziel, alle Defizite auf einmal zu beseitigen. Wissensmanagementexperte Erik Steinhöfel rät, einen spezifischen Fokus zu setzen: „Es geht darum, ausgehend vom Iststand erfolgversprechende Schritte zum Umgang mit Wissen abzuleiten, diese dem Aufwand-Nutzen-Prinzip folgend zu priorisieren und dann umzusetzen.“
Wissensmanagement funktioniert letztlich nur, wenn sich alle Nutzer beteiligen. In der Kanzlei Leidel und Partner ist diese Erkenntnis angekommen und eine wissensfreundliche Kultur inzwischen eine Selbstverständlichkeit. „Ohne Wissensaufbau und -management können Steuerkanzleien nicht überleben“, ist Steuerberater Leidel überzeugt. Und strukturiertes Wissensmanagement verhindert letztlich auch, dass Fehler zweimal gemacht werden.
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