Für viele ist der strenge deutsche Kündigungsschutz die Jobbremse schlechthin. Wäre er der gängigen Streitpraxis angepasst, könnten Tausende unnötige Kündigungsschutzverfahren jährlich vermieden werden.
Viele Arbeitnehmer richten ihr Augenmerk im Kündigungsschutzprozess nicht mehr auf den gesetzlich vorgeschriebenen Bestandsschutz, also den Erhalt des Arbeitsplatzes, sondern zielen bei Ausscheiden darauf, eine Abfindung zu erhalten. Dies wurde jedoch als gesetzliche Ausnahme konzipiert. Häufig dienen die Probleme des deutschen Kündigungsrechts also nur noch als Hebel, um eine möglichst hohe Abfindung zu erreichen. Je höher das Risiko für den Arbeitgeber, umso größer ist seine Bereitschaft zur Abfindungszahlung, die im Verlauf eines Prozesses regelmäßig steigt, um das Risiko von Annahmeverzug (Entgeltanspruch ohne Arbeitsleistung) zu vermeiden. Tatsächlich endeten schon im Jahr 2012 76 Prozent aller Kündigungsschutzverfahren durch Vergleich, nur fünf Prozent durch Urteil (Destatis, Rechtspflege 2013). Der Bestandsschutz ist mittlerweile zur Ausnahme, der Abfindungsschutz zur Regel geworden. Gleichwohl sieht der Kündigungsschutz in Deutschland vor, dass der Arbeitgeber schon vor Ausspruch der Kündigung die Bestimmungen des besonderen und des allgemeinen Kündigungsschutzes zu beachten hat, um nicht nur die Kündigung möglichst rechtssicher, sondern auch eine hohe Abfindungszahlung unwahrscheinlich werden zu lassen.
Allgemeiner Kündigungsschutz
Der allgemeine Kündigungsschutz ist derzeit zweigeteilt: Arbeitnehmer, die am 31. Dezember 2003 in einem Betrieb mit mehr als fünf regelmäßig Beschäftigten tätig waren, sind kündigungsgeschützt, solange im Betrieb zum Kündigungszeitpunkt insgesamt mehr als fünf Alt-Arbeitnehmer beschäftigt werden. Alle anderen Arbeitnehmer haben Kündigungsschutz nur, wenn der Betrieb regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer mit Ausnahme der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten hat, wobei hier nicht kopfmäßig gezählt wird. Teilzeitbeschäftigte mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden sind mit 0,5 und mit nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen. Diese zahlenmäßige Hürde wird üblicherweise als Kleinbetriebsklausel bezeichnet. Unterhalb dieser Schwelle kann eine Kündigung nur treuwidrig sein oder gegen die guten Sitten sowie ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme verstoßen und damit allenfalls ausnahmsweise unwirksam sein. Greift der allgemeine Kündigungsschutz (nach Ablauf einer Wartezeit von sechs Monaten in demselben Betrieb oder Unternehmen) ein, ist die zentrale Vorschrift des § 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zu beachten. Der Gesetzgeber bringt hier in bemerkenswert knapper und generalklauselartiger Form zum Ausdruck, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses nur rechtswirksam ist, wenn sie sozial gerechtfertigt ist. Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist (personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Kündigung).
Besonderer Kündigungsschutz
Neben dem allgemeinen greift ein besonderer, weiter gehender Kündigungsschutz, unter anderem für
- Schwangere und Mütter nach der Entbindung (§ 9 Mutterschutzgesetz [MuSchG]),
- Arbeitnehmer in Elternzeit (§ 18 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz [BEEG]),
- Schwerbehinderte (§§ 85 ff. Sozialgesetzbuch [SGB] IX) sowie Mitglieder kollektiver Organe (§§ 15 ff. KSchG, § 103 Betriebsverfassungsgesetz [BetrVG]).
Unternehmen und allgemeiner Kündigungsschutz
Wenn die Statistik nicht trügt, fallen von den im Mai 2014 in Deutschland tätigen 3.881.417 Betrieben jedenfalls 3.467.291 unter die Kleinbetriebsklausel (Destatis, Unternehmensregister), weitere 326.359 haben nur zehn bis 49 Beschäftigte, wobei diese Zahlen die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 2012 wiedergeben und nicht gleichzustellen sind mit der Berechnung nach dem KSchG. Ein näherungsweiser Vergleich sei dennoch gestattet. Mithin wird deutlich, dass ein Großteil der Kleinbetriebe zumindest an der KSchG-Schwelle kratzt.
Reformbedarf
Auch wenn sich die bisherige Praxis zumeist mit der eingangs aufgezeigten Abfindungslösung behilft und so die Probleme löst, ist eine Abschaffung oder jedenfalls eine grundlegende Überarbeitung des Herzstücks des deutschen Kündigungsschutzes 50 Jahre nach dessen Inkrafttreten immer noch nicht in Sicht, auch wenn die Einsicht in die Reformbedürftigkeit verbreiteter denn je sein dürfte. Ziel sollte es sein, den gesetzlich eröffneten Rechtsschutz und das ganz überwiegend verfolgte Rechtsschutzziel wieder übereinstimmend auszugestalten. Derzeit fallen – wie aufgezeigt – theoretischer und praktischer Kündigungsschutz auseinander.
Bestandsschutzprinzip
Soll der Bestandsschutz gänzlich abgeschafft und für jede Kündigung eine Abfindungspflicht vorgesehen werden?
Aus der verbreiteten Abfindungspraxis wollen manche Stimmen gar die Konsequenz ziehen, den Bestandsschutz gänzlich abzuschaffen und für jede Kündigung eine Abfindungspflicht vorzusehen. Bei der Betrachtung dieser Situation ist ein Blick ins europäische Umland interessant: In zehn Mitgliedsstaaten steht dem Arbeitnehmer von Gesetzes wegen – jedenfalls bei gerechtfertigter Kündigung seitens des Arbeitgebers – eine sogenannte Abfertigung und gerade kein Bestandsschutz zu, ohne dass diese Länder im Verdacht stehen, besonders arbeitnehmerfeindlich zu sein.
Ein Blick über die Grenzen
Das französische Recht sieht eine Regelung vor, die jedem gekündigten Arbeitnehmer, der dem Betrieb mindestens zwei Jahre angehört hat, im Falle einer Kündigung eine Grundabfindung zuspricht (gesetzliche Grundabfindung). Bei fehlender sozialer Rechtfertigung erhöht sich dieser Grundbetrag um einen zusätzlichen Entschädigungsbetrag. Letzteren muss der Arbeitnehmer mit einer Kündigungsschutzklage einklagen. Eine weniger weitreichende Lösung liegt etwa dem schweizerischen und belgischen Kündigungsschutz zugrunde. Dort wird dem Arbeitnehmer insgesamt nur dann ein Geldbetrag zugesprochen, wenn die Kündigung nachweislich sozial nicht gerechtfertigt ist (finanzielle Sanktion einer sozialwidrigen Kündigung). Auch bei dieser Ausgestaltung werden die Probleme des gegenwärtigen bestandsschutzorientierten Kündigungsschutzes sodann im Rahmen eines Abfindungsprozesses erörtert und geprüft. Demgegenüber hat der Arbeitgeber in Spanien bei Unwirksamkeit der Kündigung eine Auflösungsmöglichkeit des Arbeitsverhältnisses, die an keine Voraussetzungen gebunden ist. Der Arbeitnehmer kann die Kündigung direkt angreifen und eine Überprüfung der sozialen Rechtfertigung im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses begehren (einseitige Auflösungsmöglichkeit des Arbeitgebers). Stellt das Gericht fest, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist, so kann der Arbeitgeber für diesen Fall die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung verlangen. Wichtigste Konsequenz: Dem Arbeitgeber wird mit der Zubilligung eines Auflösungsantrags das Risiko langwieriger Kündigungsschutzprozesse genommen – ohne besondere Voraussetzungen wie im deutschen Recht, das einen Auflösungsantrag nur ausnahmsweise kennt (vgl. §§ 9, 10 KSchG).
In Deutschland diskutierte Abfindungskonzepte
Eine Spielart des Abfindungsprinzips ist die Kombination der Abfindungspflicht mit dem eingeschränkt zulässigen Verzicht auf Kündigungsschutz. Hier könnten die Vertragsparteien bei Abschluss des Arbeitsvertrags – etwa wenn der Arbeitnehmer bei Beginn des Arbeitsverhältnisses das 50. Lebensjahr vollendet hat – vereinbaren, auf den kündigungsrechtlichen Bestandsschutz gegen Zahlung einer Abfindung von vornherein zu verzichten (disponibler Kündigungsschutz und Abfindungspflicht). Gerade in Bezug auf ältere Arbeitnehmer ist nicht auszuschließen, dass ihr Verzicht auf einen ansonsten äußerst dominanten sozialen Kündigungsschutz die Bereitschaft steigen lässt, sie einzustellen.
Denkbar ist letztlich auch eine Regelung, bei der es im Fall der betriebsbedingten Kündigung überhaupt nicht mehr auf die soziale Rechtfertigung der Kündigung ankommt (generelle Abfindung im Falle betriebsbedingter Kündigung). Bei dieser Ausgestaltung wäre weder zu prüfen, ob ein dringendes betriebliches Erfordernis vorliegt, noch, ob der Arbeitgeber aus einem Kreis vergleichbarer Arbeitnehmer den sozial stärksten ausgewählt hat. Die Höhe der zu zahlenden Abfindung könnte sich etwa allein danach richten, welches Lebensalter und welche Betriebszugehörigkeit der Arbeitnehmer hat. Durch diese Regelung würde der Kündigungsschutz zwar stark betriebswirtschaftlich ausgerichtet, allerdings wäre aufgrund des Umstands, dass sich der Arbeitgeber die Beendigung der Arbeitsverhältnisse erkaufen muss, ein gewisser Kündigungsschutz bewirkt.
Fazit
Die Beurteilung der beschäftigungspolitischen Dimension des derzeitigen deutschen Kündigungsschutzes erweist sich mangels entpolitisierter empirischer Untersuchungen als schwierig. Studien der OECD zeigen jedoch, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem Grad der Arbeitsmarktregulierung und der Beschäftigung besteht, sodass der Schluss zulässig sein müsste, dass die Kleinbetriebsklausel vor allem einstellungs- und nicht nur entlassungshemmend wirkt. Der strenge deutsche Kündigungsschutz wirkt als Jobbremse. Er gehört daher auf den Prüfstand, der Streitpraxis angepasst und (endlich) politisch entmystifiziert. So könnten jährlich Tausende unnötige Kündigungsschutzverfahren vermieden, die Justiz entlastet und allen Beteiligten Zeit und Kosten erspart werden. Davon würde ein zusätzlicher Impuls ausgehen, wieder mehr unbefristete Arbeitsplätze zu schaffen, da Arbeitgeber die eventuell später notwendig werdende Kündigung (rechts-)sicherer kalkulieren könnten.
Für wen gilt welcher Kündigungsschutz?
Für wen gilt welcher Kündigungsschutz?