Plädoyer für Disruption - 27. Oktober 2022

Den Kurs wechseln

Seit knapp drei Jahren folgt eine Krise auf die nächste. Experten erwarten längst eine Insolvenzwelle, die durch staatliche Hilfen bisher verhindert wurde. So leben wir derzeit in einer trügerischen Sicherheit, denn die Prognosen verheißen nichts Gutes, sofern wir nicht endlich gegensteuern.

Bis Ende 2019 sah es so aus, als stünden wir vor rosigen Zeiten. Der deutschen Industrie ging es gut, die Umsätze im In- und Ausland stimmten. Die Insolvenzzahlen befanden sich auf einem niedrigen Niveau. Das Land war stabil, die Herausforderungen der Flüchtlingskrise 2015 hatte man bemerkenswert souverän bestanden und man war dabei, endlich dem Klimawandel mit Taten zu begegnen, durch einen längst überfälligen Einstieg in die Elektromobilität. Und dann kam wie aus dem Nichts auf einmal die Covid-Pandemie, gefolgt von anhaltenden Lieferkettenproblemen, und schließlich der unselige Ukraine-Krieg, dessen Folge eine weltweite Energiekrise ist, die nachhaltig sein dürfte – nicht zuletzt auch mit Blick auf den nun angestoßenen Klimaschutz. Zudem stehen wir vor einem rapiden Anstieg der Inflation, verbunden mit steigenden Zinsen. Russland wird langfristig als Marktteilnehmer für weite Teile der Weltwirtschaft ausfallen. Und dennoch bleiben die Insolvenzzahlen niedrig. Das überrascht so manche Expertinnen und Experten.

Corona-Pandemie

Das Covid-19-Virus hat die Welt vor unglaubliche Herausforderungen gestellt. Niemand kann derzeit eine Prognose wagen, wann die Pandemie endlich und tatsächlich überwunden sein wird. Die Unsicherheit ist überall groß. Begonnen hatte es 2020 mit einer langen Kette von pandemiebedingten Lockdowns. Die Wirtschaft stand in letzter Konsequenz für einige Wochen in weiten Teilen still, aber es regulierte sich doch zügig. Gleichwohl wurden die Lieferketten wegen der weltweiten Stillstände unterbrochen. Im Sommer 2020 aber war schon wieder alles entspannt. Die Politik half zuverlässig mit dem Kurzarbeitergeld, auch in Branchen, die eigentlich nicht wirklich lange von Covid betroffen waren. Überbrückungshilfen, KfW-Kredite und Hilfsfonds unterstützten die Unternehmen, ohne wirkliche Prüfung der Validität des Geschäftsmodells sowie der Auswirkungen, die Covid auf die Unternehmen hatte.

Lieferkettenprobleme und Ukraine-Krieg

Zur Corona-Pandemie kamen schließlich noch weitere unterbrochene Lieferketten sowie der Ukraine-Krieg hinzu. Die Politik bietet der deutschen Industrie jedoch auch hier wieder Lösungen über KfW-Kredite, Hilfsfonds und natürlich Kurzarbeit. Galeria Karstadt Kaufhof zum Beispiel erhält dieses Jahr zum zweiten Mal Hilfen in dreistelliger Millionenhöhe. Offensichtlich will man mit entsprechenden Konzepten verhindern, dass die Industrie gezwungen ist, Arbeitsplätze in hoher Zahl abzubauen. Damit würde es der Wirtschaft nämlich bald nur noch schlecht gehen und der Gesellschaft in letzter Konsequenz auch. Die Stabilisierungsmaßnahmen sollen dafür sorgen, dass es in gewohnter Art und Weise nach einer jeden Krise weitergeht.

Das Handwerk floriert

Ein Blick auf das Handwerk, das seit der Corona-Krise floriert: Ein Bau- und Renovierungsboom jagt den nächsten. Pleiten im Handwerk, die sonst sehr häufig waren, gibt es faktisch nicht mehr. Früher musste ein Handwerker rechnen können, um seine Preise auskömmlich zu kalkulieren, was nicht wirklich jeder hinbekam oder zumindest nicht beim Kunden durchsetzen konnte. Jetzt gilt das nicht mehr. Er verlangt einfach einen hohen Preis und dieser wird in aller Regel auch bezahlt. Insolvenzen gibt es im Handwerk nur noch, wenn etwas grob schiefgeht oder man wiederholt vergisst, Steuern oder Sozialabgaben zu zahlen. Steigende Materialpreise werden einfach eins zu eins an den Kunden weitergegeben und mit Schulterzucken kommentiert. Der Kunde kann sowieso nichts machen, wenn er bauen oder renovieren will beziehungsweise muss.

Existenzielle Herausforderungen

Also ist doch eigentlich alles gut. Nein, denn die Unternehmen können sich nicht selbstständig auf Krisen oder externe Veränderungen einstellen. Und so wird das langfristige Wohl eines Unternehmens überwiegend dem kurzfristigen Gewinn geopfert. Das gilt in jedem Fall für die Mehrzahl der Konzerne. In vielen mittelständischen Unternehmen sieht man das sicher anders, dort fehlt aber oft die wirtschaftliche Macht, um auf externe Anforderungen schnell genug reagieren zu können. Und so stehen wir eigentlich seit Jahren vor existenziellen Herausforderungen sowohl für unser Wirtschafts- als auch unser Gesellschaftssystem. Die Zahl der Erwerbsfähigen wird in den nächsten 20 Jahren massiv abnehmen und viele Unternehmen werden aufgrund der anstehenden Erfordernisse zur Bewältigung der Klimakrise ihre Geschäftsmodelle einschneidend und sehr schnell ändern müssen. Innovation und nicht nur Evolution von Bestehendem ist daher gefragt.

Richtungswechsel dringend geboten

Deshalb sollten wir allmählich beginnen, die Hilfen für Unternehmen zu stoppen, zum einen, um die staatlichen Ausgaben nicht noch weiter in die Höhe zu schrauben, und zum anderen, um vor allem den Firmen und Betrieben auch die Chance zu geben, ihre Geschäftsmodelle auf Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit hin zu überprüfen. Eine Ausnahme hiervon sollte bei Unternehmen gemacht werden, die für die Energieversorgung relevant sind, energieintensive Produkte herstellen oder solche, die von besonderer Bedeutung für die Bevölkerung sind; gemeint sind zum Beispiel Arzneimittel und Produkte des täglichen Bedarfs. Zudem müssen Privathaushalte vor steigenden Energiekosten abgesichert werden, um ein weiteres soziales Ungleichgewicht zu verhindern.

Arbeitslosigkeit droht nicht

Die Aussetzung sonstiger staatlicher Hilfen wird die Beschäftigungsperspektive für das Personal dabei nach meiner Überzeugung ganz überwiegend nicht gefährden und auch nicht zu langer Arbeitslosigkeit führen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass selbst bei erheblichem Personalabbau auch die gering qualifizierten und älteren Mitarbeiter in der Produktion sehr schnell eine neue Beschäftigung gefunden haben. Inmitten der Corona-Krise haben wir beispielsweise in mehreren Gießerei-Unternehmen viele Hundert Produktionsarbeitsplätze abbauen müssen, weil einzelne Geschäftsbereiche nicht mehr rentabel waren. Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass auch die überwiegende Zahl älterer Mitarbeiter unter den stetig schwindenden Erwerbsfähigen eine neue Beschäftigung gefunden haben, und zwar unabhängig davon, ob sie hoch oder niedrig qualifiziert waren. Mitarbeiter in der Administration finden ohnehin sehr kurzfristig in dem immer kleiner werdenden Pool von qualifizierten Erwerbsfähigen eine neue Beschäftigung. Hier ist es in einer Restrukturierung oft schon schwer, die qualifizierten Mitarbeiter zu halten, weil Personalvermittler sehr aktiv versuchen, das Verwaltungspersonal abzuwerben. Ohne aktive Kommunikation eines überzeugenden Restrukturierungsplans beenden viele administrative Mitarbeiter schon in den ersten Wochen von selbst das Arbeitsverhältnis.

Disruption ist das Gebot

Natürlich werden einige Geschäftsmodelle vom Markt verschwinden, nicht zuletzt auch, um Platz für Neues zu machen. Und wir brauchen dieses Neue auch aus vielerlei Gründen, mehr als je zuvor. Das moderne Insolvenz- und Restrukturierungsrecht kann einen Beitrag zu dieser Neuordnung leisten. Es bietet die Möglichkeit für eine schnelle und geordnete Zerschlagung nicht mehr funktionierender Geschäftsmodelle in Teile, die abgewickelt werden, und andere, die mit neuen innovativen Ideen von anderen weitergeführt werden können. Wir brauchen eine Disruption, um aus einem Status der Gemütlichkeit noch rechtzeitig aufzuwachen, bevor wir schlichtweg vollständig abgehängt werden. Gerade die sich aktuell vollziehende Neuordnung von Lieferketten weltweit und auch das Nachdenken über Abhängigkeiten, beispielsweise von China, geben uns genug Gelegenheit, eine Neuaufstellung zu wagen.

Wir laufen hinterher

Einfach ist das selbstverständlich alles nicht. Veränderung und Wandel sind nicht leicht, denn es heißt, die eigene Komfortzone zu verlassen und beweglich zu sein. Aber das müssen viele der Betroffenen in Kauf nehmen. Es geht schließlich um nachhaltige Lösungen für die Beteiligten. Leider aber muss man konstatieren, dass wir den Anschluss in vielen Arbeits- und Lebensbereichen verloren haben. Mit der aktuellen Transformationsgeschwindigkeit werden wir die Herausforderungen jedenfalls nicht meistern. Deutlich wird das vor allem, wenn man den Status beim Ausbau des schnellen Internets sowie der Digitalisierung in allen Lebens- und Arbeitsbereichen hierzulande betrachtet. Insoweit muss es schnell eine Veränderung geben, wenn wir im weltweiten Wettbewerb weiter bestehen wollen.

Drohende Schieflagen

Aktuell drängt sich aber nicht der Eindruck auf, dass ein Ruck durch Deutschland geht und wir die Zeichen der Zeit erkannt haben. Das wird im Zweifel zu einer weiteren, schleichenden Verschlechterung unserer Lebenssituation führen. Sowohl bei sehr großen als auch bei kleineren und mittleren Unternehmen könnte dies zu Schieflagen führen, beispielsweise dann, wenn durch einen kurzfristigen, kompletten Stopp der Gaslieferungen ein staatlich nicht zu ersetzender Rohstoff fehlt, der schlicht in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft zwangsläufig zu Produktionsstillständen führt und dann kaum noch durch Kurzarbeitergeld oder Staatshilfen abgefedert werden kann.

Fazit und Ausblick

Aktuell unterstützt der Staat aber weiter mit finanziellen Hilfen, um die Wirtschaft vor externen Einflüssen, bedingt durch die skizzierten Krisen, zu schützen. Eigentlich ist das kontraproduktiv, denn so bleiben nicht zuletzt auch Unternehmen am Markt, die womöglich bei normalem wirtschaftlichen Verlauf längst insolvent geworden wären. Zudem häufen wir massive Finanzierungslasten an, die irgendwann gegebenenfalls zum Bumerang werden könnten und schließlich flankiert mit hohen Zinsen zurückbezahlt werden müssen. Zwar ist es verständlich, dass die Politik bestrebt ist, Arbeitsplätze zu sichern, etwa durch Kurzarbeit und entsprechende Hilfsfonds, aber sie greift damit schon seit Langem in die Mechanismen der freien Marktwirtschaft ein. Natürlich sind mit einer Sanierung oder Restrukturierung auch Kündigungen von Mitarbeitern verbunden. Wie oben skizziert, wird dies aber bei den Beschäftigten aus unserer Erfahrung weitestgehend nicht zu langer Arbeitslosigkeit führen. Zudem sollte man eine Restrukturierung oder Sanierung als Chance begreifen, das eigene Unternehmen mit Blick auf die Zukunft neu auszurichten. Das Stigma des Versagens wie bei früheren Firmeninsolvenzen haben die neu geschaffenen Verfahren jedenfalls längst nicht mehr.

Mehr dazu

Informationen, Software-Lösungen und Wissensangebote, die Sie bei der Beratung zu Krise und Krisenfrüherkennung unterstützen, finden Sie unter www.datev.de/entwicklungspfad-liquiditaet, speziell bei den Schritten „Liquidität analysieren und aktiv steuern“, „Unternehmen erfolgreich durch Umsatzschwankungen lotsen“ und „Risiken richtig begegnen“.

Lesen Sie dazu auch den Beitrag „Risiken frühzeitig erkennen“.

Zum Autor

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Dr. Dirk Andres

Fachanwalt für Insolvenzrecht und Partner der überregionalen Kanzlei AndresPartner. Er wird von zahlreichen Insolvenzgerichten in Nordrhein-Westfalen zum Insolvenzverwalter bestellt. Darüber hinaus begleitet er Unternehmen, Geschäftsführer, Gesellschafter sowie Gläubiger bei allen Fragen der finanz- und leistungswirtschaftlichen Restrukturierung sowie insbesondere bei Eigenverwaltungsverfahren.

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