Schwierige Rechtsangleichung - 22. Dezember 2021

Der steinige Weg zum vereinigten Europa

Mit der Harmonisierung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten schaffen die EU-Organe meist im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mit qualifizierter Mehrheit auf Basis der EU-Verträge (Primärrecht) bindendes sekundäres Gemeinschaftsrecht. Wo sind die Grenzen und welche Herausforderungen stellen sich?

Neben den typischen Richtlinien, die von den Mitgliedstaaten mit einem gewissen Spielraum noch umgesetzt werden müssen, erlässt die Europäische Union vermehrt Verordnungen als allgemein verbindliche, die Einzelnen unmittelbar berechtigende und verpflichtende EU-Gesetzgebung [Art. 288 Abs. 2 und 3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)]. Bekanntes Beispiel ist die auf Art. 16 AEUV gestützte Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO), die 2016 die Datenschutzrichtlinie abgelöst hat. Öffnungsklauseln erlauben den Mitgliedstaaten auch hier Anpassungsmöglichkeiten.

Ermächtigungen und Zuständigkeiten

Weil die EU kein institutioneller Staat ist, dürfen die Organe der EU zur Verwirklichung „einer immer engeren Union“ (Art. 1 S. 2 Vertrag über die Europäische Union – EUV) nicht beliebig Recht setzen, sondern nur nach Maßgabe der ihr in den Verträgen durch die Mitgliedstaaten übertragenen Befugnisse, dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1, 2 EUV). Im Übrigen bleiben die Mitgliedstaaten zuständig (Art. 4 Abs. 1 EUV). Ausschließlich ermächtigt ist die EU für die Zollunion, die Wettbewerbsregeln, die gemeinsame Handelspolitik und für die Währungspolitik (Art. 3 AEUV), allerdings nicht für die allgemeine Wirtschaftspolitik, die bei den Mitgliedstaaten verbleibt und von der EU nur unterstützt oder koordiniert werden darf (Art. 5 AEUV). Die vertragliche Trennung von Währungs- und Wirtschaftspolitik führt zwangsläufig zu Konflikten, wie aktuell zwischen der EU und Deutschland, weil das Bundesverfassungsgericht das Staatsanleiheankaufprogramm, das sogenannte Public Sector Purchase Program (PSPP), der Europäischen Zentralbank – entgegen der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs – für kompetenzwidrig erklärt hatte. Konkurrierend mit den Mitgliedstaaten (Art. 4 AEUV) zuständig ist die EU unter anderem für das Funktionieren des Binnenmarkts, aktuell zum Beispiel dessen Digitalisierung, sowie die Landwirtschafts-, Umwelt-, Asyl- und Migrationspolitik. In den Bereichen, in denen die EU nicht ausschließlich zuständig ist, darf sie nach dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2, 3 EUV) nur tätig werden, sofern die Aufgaben auf EU-Ebene besser zu verwirklichen sind. Aktuell steht die EU vor einigen sinnvoll nur gemeinschaftlich zu bewältigenden Herausforderungen, wie nachfolgend am Beispiel von Klimaschutz, Covid-Bekämpfung sowie Asyl und Migration gezeigt wird. Unterschiedliche Rechtstraditionen und Interessen der Staaten erschweren es allerdings, 27 Mitgliedstaaten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Soweit die Verträge in sensiblen Bereichen, etwa Steuern nach Art. 113 und 115 AEUV, Einstimmigkeit vorsehen, kommt die Harmonisierung nur schleppend voran. Staaten, die eine Unternehmensansiedlungspolitik über ihr Steuersystem betreiben, wie zum Beispiel Luxemburg, Irland oder die Niederlande, lehnen Vorschläge zur Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung ab. Ein Übergang zur qualifizierten Mehrheit wird trotz der Bemühungen der EU-Kommission von den meisten Staaten abgelehnt.

Umwelt- und Klimapolitik

Grundsätzlich ist die Notwendigkeit einer europäischen Umwelt- und Klimaschutzpolitik anerkannt. Der Anteil der europäisch beeinflussten Rechtsetzung liegt hier bei circa 80 Prozent. Aufgrund Art. 192 AEUV hat die EU zum Beispiel die Richtlinie zum Schutz der Erdatmosphäre über Stoffe, die zum Abbau der Ozonschicht führen, erlassen. Zudem spielt der Umwelt- und Klimaschutz im Rahmen der weitreichenden Binnenmarktkompetenz nach Art. 114 und 115 AEUV eine wichtige Rolle, etwa bei der EU-Ökodesign-Richtlinie. Nach der Klimaschutzverordnung müssen bis 2030 Treibhausgasemissionen um mindestens 30 Prozent im Vergleich zu 2005 reduziert werden (VO 2018/842 und RL 2018/2001). Einige Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament hielten das Vorgehen der EU allerdings für zu zögerlich. Dänemark und Schweden plädierten für 65 Prozent weniger Treibhausgas bis 2030, das EU-Parlament will den CO₂-Ausstoß der EU um 60 Prozent drücken. Im Dezember 2020 einigten sich die Mitgliedstaaten im Rahmen des Green Deals, Klimaneutralität anzustreben und Treibhausgasemissionen von 40 Prozent auf netto 55 Prozent unter dem Niveau von 1990 zu senken, was eine Anpassung der bisherigen Regelungen erfordert. Im Entwurf einer Lastenteilungsverordnung werden den Mitgliedstaaten neue strengere Emissionssenkungsziele für Gebäude, Verkehr, Landwirtschaft, Abfallwirtschaft und kleine Unternehmen zugewiesen. Die EU-Kommission schlägt unter anderem die Senkung von Emissionen bis 2030 von Pkw um 55 Prozent und von Lkw um 50 Prozent sowie emissionsfreie Neuwagen bis 2035 vor. Außerdem soll der Energieverbrauch durch Steuerregelungen (CO₂- und Energiesteuern) sowie die weitere Sicherung der Energieeffizienz und des Energiesparens über die bestehenden Richtlinien (2012/271, Kraft-Wärme-Kopplung 2010/31, Ökodesign 2009/125) hinaus gebremst werden. Polen, Ungarn und Tschechien wollen entsprechenden Maßnahmen wenn überhaupt nur zustimmen, wenn sie Milliardenhilfen für den Umbau ihrer Energieversorgung erhalten. Dafür benötigt die EU zusätzliches Geld. Doch woher nehmen? Kredite sind keine Dauerlösung. Private und öffentliche Investitionen in die neue grüne Technologie sind ein Beitrag, aber nicht ausreichend. Deutschland und andere Nettozahler leisten ungern höhere Beiträge. Ein möglicher Beitrag ist der Ausbau der EU-Eigenmittel (Art. 311 AEUV), wie die vom Europäischen Rat befürwortete EU-Kunststoffabgabe. Zu einer wirklichen Fiskalunion sind die Staaten allerdings nicht bereit.

Bekämpfung der Corona-Pandemie

Pandemiebekämpfung in der EU und weltweit erscheint auf den ersten Blick am sinnvollsten auf Unionsebene zu funktionieren. Eine effektive Bewältigung der Corona-Krise gelang in der EU dennoch nicht. Ursache waren nicht nur Interessendivergenzen zwischen den Staaten, sondern auch Kompetenzgrenzen. Obwohl „gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ (Art. 4 Abs. 2k AEUV) grundsätzlich zu den zwischen EU und Mitgliedstaaten geteilten Kompetenzen zählen, ist die Bekämpfung von Pandemien von der schmalen EU-Gesundheitsermächtigung des Art. 168 Abs. 4 AEUV nicht erfasst. Gemäß Art. 168 Abs. 5 AEUV besteht sogar ein Harmonisierungsverbot. Somit ist die EU gemäß Art. 6 S. 2 lit. a, Art. 168 Abs. 1 und 2 AEUV auf fördernde oder koordinierende Tätigkeiten beschränkt und auf die konsensuale und freiwillige Mitwirkung der Mitgliedstaaten angewiesen. Eine Harmonisierungskompetenz der EU zur Pandemiebekämpfung könnte nur durch eine Vertragsänderung ergänzt werden. Allerdings ist angesichts der Glaubwürdigkeitsverluste der EU während der Covid-Krise ein Konsens derzeit nicht greifbar, sodass die EU im bestehenden Kompetenzrahmen zunächst weitere Erfahrungen sammeln wird. Soweit Harmonisierungsvorschriften für das Funktionieren des Binnenmarkts und der Freizügigkeit erforderlich sind, hat die EU zumindest einen selektiven Einfluss auf das Gesundheits- und Infektionsschutzrecht der Mitgliedstaaten. So muss sie bei Zulassung und Vertrieb von Impfstoffen im Binnenmarkt gemäß Art. 114 Abs. 3 AEUV für einen hohen europäischen (Mindest-)Standard im Hinblick auf den Gesundheitsschutz sorgen. Zudem fordern die Querschnittsklauseln der Art. 9 und Art. 168 Abs. 1 AEUV bei allen EU-Maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau. Entsprechend dient die auf Art. 21 Abs. 2 AEUV gestützte Verordnung über ein gemeinsames digitales Covid-Impfzertifikat neben der Freizügigkeit auch dem sicheren Reisen der Unionsbürgerinnen und -bürger in Zeiten der Pandemie.

Asyl- und Migrationspolitik

Seit Jahren streiten die EU-Mitgliedstaaten über Reform und Entwicklung der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik. Auf Grundlage des Art. 78 Abs. 1 AEUV gelten in der EU harmonisierte Mindeststandards für das Asylverfahren und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Nach der Dublin-III-Verordnung ist in der Regel der Mitgliedstaat zuständig, den ein Geflüchteter als Erstes betritt. Diese Regelung ist nicht mehr geeignet und für die südeuropäischen Ankunftsländer an den Außengrenzen wie Griechenland, Spanien, Italien und Malta unangemessen (vgl. den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Art. 5 Abs. 4 EUV). Zunächst als Notmaßnahme (Art. 78 Abs. 3 AEUV) – gegen die Stimmen von Ungarn, Tschechien, Slowakei und Rumänien – eingeführte Quoten wurden von diesen Staaten nicht eingehalten. Dass dies vom EuGH als Vertragsverletzung verurteilt wurde, löst das Problem auf Dauer nicht. Ein allgemeiner, solidarischer und gerechter Verteilungsmechanismus, wie er auf Initiative von Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien vorgeschlagen worden ist, existiert nicht. Weil die Staaten Herren ihrer territorialen Unversehrtheit bleiben (vgl. Art. 4 Abs. 2 EUV), kann die EU nur begrenzt Vorgaben machen. Die EU-Kommission schlägt deshalb zur Reform des Dublin-Systems neben schnelleren Asylverfahren an den Außengrenzen lediglich finanzielle Solidarität im Wege flexibler Beiträge und Ausgleichszahlungen vor. Dulde und liquidiere oder wer nicht aufnimmt, bezahlt den aufnehmenden Staat. Ob in Asylzentren an der Außengrenze schnellere Asylverfahren durchgeführt werden und diese den menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Standards der EU-Grundrechtecharta sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) entsprechen werden, ist nach den bisherigen Erfahrungen in Griechenland und Italien zweifelhaft. Ein alternatives, wirksames Mittel gegen irreguläre Migration kann eine gut regulierte Arbeitsmigration sein. Der Union stehen Harmonisierungskompetenzen zur Festlegung von Aufenthaltsbedingungen zu (Art. 79 Abs. 2 AEUV). Ein Beispiel ist die Blue Card für Fachkräfte aus Drittländern (RL 2009/50/EG). Die auf Art. 79 Abs. 2 lit. a und b AEUV gestützte „Richtlinie über die blaue Karte“ soll künftig die Einreise und den Aufenthalt von „hoch qualifizierten“ Drittstaatsangehörigen weiter erleichtern. Sie ist jedoch zu restriktiv und sollte auch andere Fachkräfte, etwa Pflegeberufe einschließen. Allerdings verbleibt den Mitgliedstaaten die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sowie nach Art. 79 Abs. 5 AEUV die Entscheidung, wie viele Arbeitssuchende aus Drittländern einreisen dürfen. Längerfristig dürften aber Abschreckung und Abweisung in der Migrationspolitik angesichts eines zu erwartenden Arbeits- und Fachkräftemangels nicht im Interesse der Mitgliedstaaten liegen.

Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit

Während die Entwicklung einer EU-Beschäftigungspolitik und Sozialunion noch aussteht, ist der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit von Anfang an essenzielle Basis der EU als Rechtsgemeinschaft. Er sichert insbesondere auch die Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. In letzter Zeit ist seine Achtung in einigen Staaten in Gefahr. Polen, Ungarn und Tschechien verstoßen zum Teil gegen rechtsstaatliche Prinzipien wie die Unabhängigkeit der Justiz, Gewaltenteilung und Medienfreiheit. EU-Sanktionsmaßnahmen (Art. 7 EUV) scheitern an der hierfür notwendigen Einstimmigkeit. Dem neuen Verfahren, wonach EU-Aufbaumittel gekürzt werden können, wenn wegen Rechtsstaatsverstößen ein Missbrauch der Gelder droht, wird von den osteuropäischen Staaten entgegengehalten, dass es keinen unionsrechtlichen Begriff der Rechtsstaatlichkeit gebe und die EU insoweit keine Kompetenz habe. Zwar muss die EU die nationale Identität und die grundlegenden verfassungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedsländer achten (Art. 4 Abs. 2 EUV). Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit ist aber im Primärrecht (Art. 2 EUV) verbindlich festgeschrieben. Es gilt von Anfang an als allgemeiner Rechtsgrundsatz aufgrund der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten und ist Voraussetzung für den Beitritt in die EU (Art. 49 Abs. 1 EUV). Rechtsstaatliche Inhalte werden auch in der EU-Grundrechtecharta (Art. 20 ff., 47 ff.) sowie im Sekundärrecht geregelt. Es gibt also einen unionsrechtlichen Begriff der Rechtsstaatlichkeit, den der EuGH auslegt und wahrt (vgl. Art. 19 Abs. 1 EUV). Er prüft zum Beispiel, ob die nationalen Gerichte, die das EU-Recht anwenden, wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz ermöglichen, insbesondere unabhängig sind. Auf diese Weise wird der Inhalt des Rechtsstaatsprinzips in der EU materialisiert und gesichert. Dies ist dringend erforderlich, da anderenfalls alle Integrations- und Harmonisierungsbemühungen nichtig sind.

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DATEV-Fachbuch: EU-Datenschutz-Grundverordnung

Zum Autor

AE
Prof. Dr. Angelika Emmerich-Fritsche

Rechtsanwältin und Partnerin in der Kanzlei Dr. Maeder & Partner in Fürth sowie außerplanmäßige Professorin der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FAU (Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Steuer- und Öffentliches Recht)

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