Die Digitalisierung des Justizwesens wird seit Langem auf nationaler und europäischer Ebene vorangetrieben. Ungeachtet offener Fragen zu den verfolgten Zielen, darauf angepasster Technik sowie einer Technikfolgenabschätzung besteht Innovationsdruck, dem sich Politik und Anwender nicht entziehen.
Insoweit unterscheidet sich die Rechtspflege nicht von anderen gesellschaftlichen Feldern. Unbestreitbar hat die Corona- Pandemie vor Augen geführt, dass Alternativen zur persönlichen Kommunikation und zu Gerichtsverhandlungen vor Ort notwendig sind. In Schulen, Universitäten, auf dem Arbeitsmarkt und im Justizwesen werden seitdem die zuvor stiefmütterlich behandelten Techniken zur Ausführung von Videokonferenzen eingerichtet. Immer wieder treten dabei Konfliktlinien zwischen der Ausreizung technischer Möglichkeiten, den Anforderungen der Anwenderinnen und Anwender und den rechtlichen Rahmenbedingungen auf. Prozessrechtliche Fragen, technische Möglichkeiten und Datensicherheit sowie Datenschutz werden erkennbar nicht zusammengedacht.
Prozessrecht
Das Verfahrensprozessrecht hat sich dabei als stilbildend und in der Praxis als robust und belastbar erwiesen. Bereits 2001 wurde der § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) eingeführt. Mit einer Gesetzesänderung im Jahr 2013 sollte die Vorschrift breitere Anwendung finden, indem auf das Einverständnis der Parteien verzichtet wurde. Nach § 128a ZPO kann das Gericht den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Gleiches gilt für die Befragung von Zeugen, Sachverständigen oder die Vernehmung einer Partei. Dem § 128a ZPO entsprechende Regelungen finden sich im Wesentlichen gleichlautend in allen Verfahrensordnungen wieder. Ein Anspruch auf eine Verhandlung im Wege einer Videokonferenz besteht indes nicht. 2020 wurde etwa aus Gründen des Gesundheitsschutzes mit § 114 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) und in der Sozialgerichtsbarkeit eine Reduzierung des richterlichen Ermessens normiert. Dies sollte die Verhandlung in Distanz erleichtern und ehrenamtlichen Richtern die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen trotz der Infektionsgefahr ermöglichen. Danach sollte das Gericht den Parteien dies im Falle einer epidemischen Notlage im Sinne von § 5 Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestatten. Eine Ermessensreduzierung auf null lag damit nicht vor. Das Gesetz war zudem beschränkt auf den Zeitraum Juli bis Dezember 2020. Eine entsprechende Regelung hielt der Gesetzgeber für die ZPO nicht für erforderlich. Schon aus diesen Gründen muss ein allgemeiner Anspruch auf eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung verneint werden.
Öffentlichkeit und Mündlichkeit
Ein wesentlicher Grundsatz des modernen Prozessrechts ist die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens. Eine Distanzverhandlung muss im Gegensatz zur mündlichen Verhandlung die Beteiligung der Öffentlichkeit gewährleisten. Dies kann nur durch Öffnung der Übertragung von Bild und Ton, durch das Angebot einer Aufzeichnung des Verfahrens oder schließlich durch Öffnung des Sitzungssaals erfolgen. Eine technische Beteiligung der Öffentlichkeit in sitzungsgleichen Videokonferenzräumen für alle ist, soweit ersichtlich, bisher von niemandem ins Spiel gebracht worden. Teilweise wird aus Platzgründen bei besonderem Interesse an größeren Verfahren die Verhandlung in einen anderen Sitzungssaal des Gerichts gestreamt. Eine virtuelle Beteiligung der Öffentlichkeit an der Videokonferenz selbst dürfte vermutlich nicht nur aus technischen Gründen, etwa an der Übertragungsbandbreite, scheitern, sondern auch an dem Mangel eines adäquaten Saaldienstes im digitalen Raum. Bekannt wurden etwa massive Störungen von Videokonferenzen als Zoom-Bombings, benannt nach den Angriffen auf die damals ungesicherten Videokonferenzen des zu Beginn der Pandemie erfolgreichen Start-ups Zoom. Nicht nur als vermeintliche Spaßattacken sind derlei Angriffe vorstellbar. Bei einem ungehinderten Zugang zu öffentlich digital verhandelten Gerichtsverhandlungen droht die massive Störung in jeder Art von Prozessen, in denen ein Übergewicht an personellem oder wirtschaftlichem Aktivierungspotenzial zu erwarten ist, von Querdenkern bis zu organisierter Kriminalität. Möglich wäre die Nutzung separierter Teamräume, die von einigen Anbietern ermöglicht wird. Diese Rückzugsräume können etwa auch Kollegialgerichten zur notwendigen Beratung dienen. Für die Öffentlichkeit wäre dies jedoch kein gangbarer Weg, da im Fall der Störung des Verfahrens durch die Öffentlichkeit dieser öffentliche Raum vollständig geschlossen werden müsste und dies einem Ausschluss der Öffentlichkeit gleichkäme. Denkbar wäre die Beteiligung der Öffentlichkeit über eine Aufzeichnung der Verhandlung, sodass eine Kontrolle der Organe der Rechtspflege zeitlich unabhängig ermöglicht werden würde. § 128a Abs. 3 ZPO normiert hingegen, dass die Übertragung nicht aufgezeichnet wird. Ausdrücklich untersagt wird dies allerdings nicht. Die Anwendungsprogramme, insbesondere die Cloud-basierte Software as a Service (SaaS), halten die Aufzeichnung häufig als Funktion vor. Auch über parallel laufende Software wäre die Speicherung der Übertragung möglich. Dadurch drängen sich Konflikte mit dem Verbot von Bild- und Tonaufnahmen aus § 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) auf. Dieses Verbot wird in der Regel mit der Funktionalität der Verhandlung gerechtfertigt, die gestört wäre, wenn das Gericht sich zusätzlich auf die Aufzeichnung der Verhandlung konzentrieren müsste. Gelöst wird die Beteiligung der Öffentlichkeit daher nach wie vor mit der On-Premises-Lösung: der Möglichkeit einer Teilnahme an der Verhandlung im Sitzungssaal. Nachdem die Verhandlung vom Sitzungssaal ausgehen muss (§ 128a Abs. 1 S. 2 ZPO), steht dem nichts im Weg – außer die Technik.
Technik
Grundsätzlich sind die technischen Übertragungsmöglichkeiten von Ton und Bild aus dem Sitzungssaal in On-Premises- (eigenständige Technik und Software im Haus) und Cloud-Services (SaaS) zu sortieren, wobei belastbare Zahlen über die genaue Nutzung nicht vorliegen. Die Gerichte halten häufig mehrere Möglichkeiten vor. Es gibt fest eingerichtete technische Lösungen mit größeren Monitoren und Videotechnik, die mit Software aus den Gerichten heraus betrieben werden. Daneben haben sich in den letzten Jahren die Anbieter von Cloud-Services wie Microsoft Teams, Cisco Webex und Zoom etabliert, die auf den Servern der Anbieter laufen. Während die On-Premises-Lösungen in den Gerichten gebucht und dann gegebenenfalls in den jeweiligen Sitzungssaal verbracht werden müssen und damit nur begrenzt verfügbar sind, können die Cloud-Lösungen unabhängig von bereits belegten Terminen im Prinzip jederzeit auf jedem Laptop ohne großen Aufwand betrieben werden. Viele der bekannten Anbieter von SaaS-Lösungen bieten eine Aufzeichnung als Service an. Das soll nicht nur den Anwendungsspielraum erweitern, etwa für Nachkontrollen, Proctoring in Prüfungssituationen oder ein Monitoring sowie Verhaltensanalysen der Mitarbeiter. Die umfassende Sammlung der Nutzerdaten während der Ton- und Bildübertragung dient nach den Herstellerangaben auch der Suche nach Software-Fehlern, der Entwicklung von Software und dem User-Experience-Design. Bekannt ist die Übertragung von Telemetriedaten, aus denen wiederum die Anwenderdaten isoliert werden können, etwa bei Microsoft Windows 11 und Teams. Die administrative Möglichkeit der Einschränkung dieser Analysefunktionen sowie der Übertragung von Telemetriedaten steigt mit dem Umfang der Lizenzen und folglich mit den laufenden Kosten der Software. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik rät dringend zur Deaktivierung der Übertragung von Telemetriedaten. Zwischen diesen beiden Extremen On-Premises und SaaS findet sich eine Reihe alternativer Anwendungen, von der einfachen Open-Source-Software bis zu behördlich für die Verwaltung eingerichteten Plattformen. So hat das bayerische Kultusministerium für Schulen die Videokonferenzlösung Visavid ins Leben gerufen. Ebenfalls in Bayern existiert ein Portal, das über die Anwendung im Justizwesen hinaus von weiteren Staatsministerien genutzt werden kann. Andererseits werden von kleinen Anbietern günstige, einfache und schlanke Software-Lösungen für Videokonferenzen auf der Basis etwa von Jitsi oder BigBlueButton angeboten, die dem Stand der Sicherheitstechnik entsprechen und durch radikale Datenminimierung auch den Anforderungen des Datenschutzes. Die unterschiedliche Technik hat daher erhebliche Auswirkungen auf das Schutzniveau. Denn allen digitalen Varianten der Bild- und Tonübertragungen gemeinsam ist die notwendige Konformität mit den Vorschriften zur Datensicherheit und zum Datenschutz.
Datensicherheit
Die Gewährleistung der Datensicherheit bei Nutzung von Software-Komponenten versteht sich von selbst. Die Software könnte als Einfallstor für die Infiltration der Gerichts- und Anwalts-Software dienen oder durch Datendiebstahl an verwertbare Informationen kommen. Auch die Übernahme oder Störung der Verhandlung durch Manipulation der Software und dadurch eine Störung des Justizwesens wären denkbar. Nicht fernliegend sind überdies Erwägungen, mittels neuer Techniken wie Deepface Manipulationen der Beteiligten während der Verhandlung vorzunehmen. Längst wird zudem versucht, auch im Justizwesen prädiktive Analysen zu betreiben und ein niederschwelliges Angebot für gerichtliche Entscheidungen durch künstliche Intelligenz zu entwickeln. Hierfür werden zunächst große Mengen an Daten benötigt, um Modelle zu entwickeln. Die großen Datenökonomien sehen nicht nur im Erziehungs- und Gesundheitswesen Potenzial für den Einsatz maschineller Entscheidungsfindung und prädiktiver Maßnahmen, sondern auch im Justizwesen. Der Einsatz der Videokonferenz-Software nimmt an dieser Stelle eine Schlüsselstelle ein, da mittels Spracherkennungs-Software und Gesichtserkennung die umfassendsten Analysen realisierbar sind, wie sie im Predictive Policing bereits zur Anwendung kommen. In Microsoft Teams findet sich eine Software-Entwicklung, die darüber hinaus unter anderem Termin- und Kontaktplanung, Dateiablage und Kurznachrichten integriert. Damit befindet sich Microsoft längst auf dem Weg, den Facebook mit der Umfirmierung in Meta anstrebt: einer umfassenden Verschmelzung der Software mit dem analogen Alltag. Angekündigt hatte Microsoft diese Zielrichtung im Frühjahr 2021 unter dem Label Mesh. Das Schutzniveau für die Datensicherheit ist indessen erheblich. Im Falle des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) hatte der Bundesgerichtshof (BGH) noch entschieden, dass nur eine Sicherheit im Rechtssinne für die anwaltliche Kommunikation mit den Gerichten erforderlich sei, nicht eine Sicherheit, die dem Stand der Technik entspricht (Ende-zu-Ende-Verschlüsselung). Ob dies auch für die Software von öffentlichen Behörden Bestand hätte, die solche umfassenden Datenverarbeitungen vorhalten, erscheint fraglich.
Fazit und Ausblick
Für die Zulässigkeit von Gerichtsverhandlungen in Distanz kommt es erheblich auf die Art des verwendeten Konferenzsystems an. Aufgrund der großen Unwägbarkeit, welche Datenverarbeitungen durch die SaaS-Systeme bei den Auftragsverarbeitern selbst vorgenommen werden, erscheinen diese als höchst problematisch. Hauseigene Anlagen dürften im Hinblick auf Datensicherheit und Datenschutz geeignet sein, solange dort nicht im Hintergrund wieder auf Software zurückgegriffen wird, die Nutzerdaten oder Daten zur Telemetrie außer Haus verarbeitet. Noch kaum im Fokus stehen dagegen Open-Source-Lösungen kleinerer Anbieter, die durch Datenminimierung ein hohes Datenschutzniveau bieten, flexibel auf dem Laptop zu handhaben und in der Regel vergleichsweise kostengünstig sind.
MEHR DAZU
Lesen Sie hierzu auch das Titelthema „Digitalisierung in Recht und Justiz“ im DATEV magazin 03/2022.
DATEV-Consulting „Datenschutz-Beratungen“, www.datev.de/datenschutz-beratungen
Präsenzseminar „Der zertifizierte Datenschutzbeauftragte in der Kanzlei (TÜV)“