Best Practices - 24. November 2022

Zwei Kanzleien, zwei Ansätze

Mit der Digitalisierung hat sich die Arbeitswelt verändert – technisch und strukturell, aber auch das erforderliche Wissen und die Fähigkeiten, um die täglichen Aufgaben zu bewältigen. Zwei innovative Kanzleien geben hier einen Einblick in ihre Strategie im Wissensmanagement.

Kanzlei 1

DATEV magazin: Herr Grau, seit wann und warum beschäftigt Sie das Thema Wissensmanagement?

MARTIN GRAU: Schon einige Jahre. Zunächst vor allem mit Fachwissen und Prozesswissen. Ab 2009 haben wir unser Dokumenten-Managementsystem (DMS) sukzessive ausgebaut. Die Dokumente enthalten selbst zum Teil Wissenselemente, die idealerweise verknüpft sein sollten mit den Mandatsbesonderheiten. 2014 hatten wir eine Prozessberatung von DATEV-Consulting gebucht und mit Eigenorganisation und ProCheck unsere Prozesse dokumentiert. Das vorhandene Fachwissen wurde in der Kanzlei aber nur sporadisch und ungenau weitergegeben. Es gab wenig gezielte Fortbildung und kaum Spezialistinnen und Spezialisten für bestimmte Themen im Haus. Das wollte ich dringend ändern, auch um mich selbst zu entlasten. Ich hatte für uns eine Flatrate für alle möglichen Online-Seminare von DATEV bestellt und vierteljährlich ein bis zwei Leute damit zum Wissens-Update geschickt. Wissen war damit zwar individuell vorhanden, aber es fand noch kein Austausch zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern statt. 2018 haben wir Frau Müzel eingestellt, mit dem Auftrag, unsere Mitarbeiter und die Prozesse zukunftsfähig zu machen. Dazu gehört auch, möglichst alle zum selbstständigen, auch zum selbstbestimmten Arbeiten und zu mehr Austausch zu befähigen. JANET MÜZEL: Die ersten sechs Monate habe ich mich mit allen Arbeitsprozessen und Stationen der Kanzlei vertraut gemacht. Ich habe viele Expertengespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Fachbereiche, von Lohn über Fibu und Jahresabschluss, und mit den beiden Kanzleiinhabern geführt. Ich musste erst einmal die Tätigkeiten und die Kanzleistruktur kennenlernen, um zu wissen, worauf es genau an dieser Stelle ankommt, wenn wir gemeinsam Verbesserungen für den Change erarbeiten.

Was sollte anders werden?

JANET MÜZEL: Jede einzelne Mitarbeiterin sollte ermächtigt und befähigt werden, möglichst gute Arbeit für die Kanzlei zu leisten. Dazu ist es wichtig, in Aufgaben, Rollen und Fähigkeiten zu denken, nicht in Bereichen. Also mehr: Wer kann was besonders gut, wie kann ich die Person fördern. Zu den Rollen gehören Skills, die dazu befähigen, diese Rolle auch auszufüllen. Dafür haben wir die Teams in einer Art Lab ausprobieren lassen, wie unter diesen Voraussetzungen die Zusammenarbeit aussehen könnte – ohne die Chefs, nur mit dem eigenen Know-how. Unsere Rollen sind zum Beispiel Fachverantwortliche Lohn beziehungsweise Fibu, Mandatskoordinatoren, Berufsträger, Service, Controlling oder Vertrieb. MARTIN GRAU: Wir wollen weniger Chefs als vielmehr Mentoren, Innovatoren, Unterstützer und Befähiger sein. Wichtig ist auch, dass in den regelmäßigen Kurz-Meetings nicht beschrieben wird, was man gerade arbeitet, sondern was das eigene Handlungsziel ist und wen oder was man braucht, um es zu erreichen. Corona gab uns nochmal einen großen Schub nach vorne in Bezug auf strukturiertes und selbstorganisiertes Arbeiten.

Welche Tools sind dafür wichtig?

MARTIN GRAU: Wir haben DMS-Dokumente und Microsoft OneNote verwendet. Was man dafür wählt, ist im Prinzip unerheblich. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir die Kanzleiziele klar kommunizieren, dass allen die Struktur und die Arbeitsmethoden bekannt sind und dass alle wissen, wo sie alle nötigen Informationen finden, nämlich bei uns im selbst erarbeiteten Mitarbeiterhandbuch. JANET MÜZEL: Das Arbeiten nach Standards ist ein wichtiger Faktor. Was automatisiert werden kann, wird auch automatisiert. MARTIN GRAU: Deshalb arbeiten wir auch mit Dienstleistungskatalog, Angeboten und Pauschalen.

Welche Rolle spielen Wissen und Fähigkeiten in der Kundenbeziehung?

JANET MÜZEL: Wir wollen kundenzentriert arbeiten. Wir sind Dienstleister, danach setzen wir unsere Teams zusammen. Wir schauen, wer ist fachlich gut und kann trotzdem gut erklären. So jemand kann etwa sehr gut als eine Art Dolmetscher im Kundenkontakt arbeiten. Andere sind besonders gut im Handling von Zahlen. Daneben gibt es noch ein spezielles Serviceteam, das nicht fachgebunden arbeitet. Die Arbeitspräferenz der Einzelnen im Team ist wichtig. Wenn man Aufgaben hat, die den eigenen Stärken entsprechen und die man daher gerne übernimmt, ist natürlich die Selbstmotivation ungleich stärker. Daraus entwickelt sich auch die Freiheit, Dinge nicht mehr zu tun, die man nicht tun möchte. Damit jede und jeder in der Kanzlei weiß, wer was kann und macht, werden die Profile in einem Poesiealbum festgehalten. MARTIN GRAU: Und wir wollen ein positives Arbeitsklima haben, wo jeder laut sagen kann: Das weiß ich jetzt nicht, das kann ich nicht. Und so um Unterstützung bitten kann. Bei uns hat es sich inzwischen etabliert, dass man bei beruflichen Problemen nicht einfach zum Chef geht und es von ihm lösen lässt. Wir wollen eine konkrete Frage hören und dann auch Lösungsansätze sehen, über die man reden kann: Die Mitarbeiterin hat idealerweise schon über A, B und C nachgedacht und möchte wissen, ob ihre bevorzugte Lösung im Detail auch richtig ist. Kanzleien, die ihren Mitarbeitern nicht erlauben, eigenständig zu denken und zu arbeiten, können sich auch nicht weiterentwickeln. Es gibt Mitarbeitern ganz viel Sicherheit, wenn wir ihnen erlauben, selbst zu entscheiden, was sie für ihre Arbeit brauchen. Ich glaube, dass wir unseren Kunden mehr bieten müssen als das, was sie an kostenlosen Infos im Internet finden. In der Steuerberatung sollten wir stattdessen unser Wissen besser verkaufen, indem wir den Inhalt einer Tätigkeit zeigen und sie benennen, damit der Kunde sieht, welchen Nutzen er davon hat. Zum Beispiel, dass wir Datenströme in der Kanzlei managen und leiten: vom Unternehmen zu den Banken und umgekehrt, zu den Krankenkassen, Sozialversicherungen, Ämtern.

Gab es auch Rückschläge?

MARTIN GRAU: Natürlich läuft bei so einer Entwicklung nicht immer alles rund. Es kommt auch vor, dass etwas nicht funktioniert oder dass wir Fehler nicht rechtzeitig gesehen oder nicht richtig hingehört haben. Fehler muss man besprechen, ohne dass jemand an den Pranger gestellt wird. Aber benennen muss man sie schon, damit andere nicht denselben Fehler wiederholen.

Kanzlei 2

Herr Schmale, wie sieht Ihr Ansatz zur Organisation des Wissensmanagements aus?

MIRCO SCHMALE: Wir prüfen regelmäßig, was wir für die Arbeit brauchen. Die Menge des benötigten Wissens nimmt ständig zu, und nicht nur bei den Fachthemen. Deshalb lässt sich das Wissensmanagement niemals abschließen. Einmal pro Jahr ziehen wir uns in ein Hotel zurück und veranstalten dort unsere Orga-Tage, bei denen wir gemeinsam überlegen, wo stehen wir jetzt, wo wollen wir hin und wie können wir was erreichen. Wir schauen uns auch unserer Mandantschaft genauer an. Wer ist neu dazugekommen, welche Berührungspunkte gibt es zwischen den Mandantinnen und Mandanten, gibt es Netzwerke, die man nutzen kann, oder Rivalitäten, die man kennen sollte? Wir sind als Berater ja zur Verschwiegenheit verpflichtet, auch wenn es da einmal einen Interessenskonflikt geben könnte. Wichtig ist auch, dass wir alle über die Entwicklung der jeweiligen Branche informiert sind.

Was hat sich durch Corona verändert?

Wir haben auch vor Corona schon flexibel im Homeoffice gearbeitet. Früher hatten wir öfter Inhouse-Veranstaltungen mit Fachdozenten verschiedener Institutionen, davon ist aber meist nicht viel hängen geblieben. Jetzt ist eine Mitarbeiterin für die fachliche Qualifikation und Fortbildung der Kollegen zuständig. Sie macht Angebote oder die Mitarbeiter wenden sich mit einem Fortbildungswunsch an sie und nicht mehr an die Kanzleileitung. Die Motivation zur Weiterbildung kommt also von den Mitarbeitern selbst. Zusätzlich gibt es eine Person, die für IT-Fragen, Tools und zum Beispiel den DATEV-Marktplatz zuständig ist. Eine weitere Person ist für die Prozesse verantwortlich. Besprechungen werden einberufen, wenn etwas ansteht, nicht weil es im Kalender steht. Unsere Kenntnisse in diesen Bereichen werden als gesammelte Werke zentral im digitalen Arbeitsplatz abgelegt. Jeder weiß, wo das ist, kann darauf zugreifen oder auch eigenes Wissen dazutun. Die Skripte wachsen ständig weiter. Andererseits muss auch niemand alles wissen. Damit die Zuständigkeit für ein Thema nicht zu einer großen Belastung für einzelne Personen wird, schnüren wir kleinere  handhabbare Päckchen, etwa für Unterprozesse. Sollte ein Team feststellen, dass es an einer bestimmten Stelle ein Problem gibt, dann kann es selbstständig einen Verantwortlichen dafür definieren und das Thema angehen.

Und wie gut funktioniert diese neue Arbeitswelt?

Jeder und jede Einzelne kann sich mit den eigenen Kenntnissen und Fähigkeiten viel mehr einbringen. Die Arbeit ist insgesamt für alle interessanter geworden. Wir sind aus den Kinderschuhen der klassischen Kanzlei herausgewachsen. Für diese neuen Arbeitsweisen stellen wir auch die entsprechenden Räume zur Verfügung: keine abgetrennten Zweier- oder Dreierbüros mehr, sondern ein Open Space, der zur Zusammenarbeit einlädt, ein großer Raum mit Tribüne für Town Hall Meetings und eine freie Arbeitsplatzwahl. Clean Desk gilt damit auch für die Kanzleileitung. Wir sind mittendrin und für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leichter persönlich erreichbar. Gleichzeitig befassen wir uns immer weniger mit dem operativen Geschäft und werden als Kanzleileitung davon schon zu circa 50 Prozent entlastet. Wenn es Fragen gibt, sind das meist fachlich berechtigte Fragen auf einem hohen Level, bei denen die Mitarbeiter nicht weiterkommen und für die es eine Entscheidung auf Leitungsebene braucht. Das geht dann meist ziemlich zügig in einer Besprechung mit drei oder vier Leuten.

Wie sorgen Sie dafür, dass die Mitarbeiter in Kontakt bleiben?

Damit die Kolleginnen und Kollegen untereinander wissen, wer sich womit befasst, wer was besonders gut kann oder welche Aufgaben hat, können das alle Mitarbeiter in einem Buch dokumentieren. Wenn sie mögen, auch ihre Hobbys. Auf diese Weise bringen wir die Menschen in Kontakt, man kommt leichter ins Gespräch miteinander, auch wenn man sich nicht mehr so oft in der Kaffeeküche trifft wie früher. Und das Onboarding neuer Mitarbeiterinnen läuft schneller, weil man leichter Anknüpfungspunkte findet – beruflich oder privat. Wir provozieren gerne informelle Gespräche, denn auch beim Kaffee reden die Leute teilweise über fachliche Themen. Einmal im Monat gibt es bei uns einen Kommunikationstag, wo alle zusammentreffen, über interne Fragen diskutieren, miteinander essen oder gemeinsam etwas unternehmen.

Zur Autorin

Martina Mendel

Redaktion DATEV magazin

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