Vorsteuerabzug - 28. Oktober 2021

Impuls von außen

Nachdem der Europäische Gerichtshof eine Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs korrigiert hatte, war das höchste deutsche Finanzgericht ein weiteres Mal gezwungen, die Vorgaben aus Brüssel im Rahmen seiner Rechtsprechung umzusetzen.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Rechtssache (Rs.) Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG mit der Klarstellung zum unmittelbaren und direkten Zu­sammenhang als Bedingung für den Vorsteuerabzug erging auf Vorlage des Bundesfinanzhofs (BFH). In seiner Nachfolgeent­scheidung setzte der BFH die Vorgaben des EuGH um und ge­währte konsequenterweise – in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung – der AG zum einen den Vorsteuerabzug aus den Eingangsleistungen betreffend die Erschließung der Ge­meindestraße zum Neuaufschluss und Betrieb eines Kalkstein­bruchs. Zum anderen verneinte er eine Steuerbarkeit gemäß § 3 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 Umsatzsteuergesetz (UStG) aus der unentgelt­lichen Überlassung der errichteten Straße an die Gemeinde un­ter wörtlicher Wiedergabe der vom EuGH in dessen Urteil vom 16. September 2020 getroffenen Ausführungen. Darüber hinaus hat der BFH jedoch in eigener Verantwortung die Rechtsfortbil­dung der EuGH-Rechtsprechung vorgenommen und die Ant­worten des EuGH auf seine Vorlagefragen in der Rs. Mitteldeut­sche Hartstein-Industrie AG in einem bedeutsamen Punkt noch erweitert. Der BFH rückt damit nicht nur von seiner bisherigen Rechtsauffassung ab, sondern eröffnet durch die Erweiterung der Voraussetzungen erneut den Spielraum für die Finanzverwaltung, den Vorsteuerabzug letztlich doch zu versagen. Weite­re Streitigkeiten sind unweigerlich vorprogrammiert.

Umfang der Vorteilszuwendung gegenüber Dritten

Zwar erfolgten die Aussagen des EuGH auf Grundlage des kon­kreten Sachverhalts und dieser war gekenn­zeichnet von einer wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen, die im Betrieb eines Kalksteinbruchs bestand. Unweigerlich leuchtete es ein, dass der Ausbau der Straße durch diese wirtschaftliche Tätigkeit ausge­löst und geprägt war. Die wirtschaftliche Tä­tigkeit spiegelte sich unter anderem in der Nutzung der Straße. Die Nutzung der Straße auch durch die Allgemeinheit konnte unbe­achtlich bleiben. Mangels weiter gehender formulierter Einschränkungen des EuGH, insbesondere zur Nutzungsmöglichkeit auch durch Dritte (hier die Allgemeinheit), hätte damit eigentlich einer generalisieren­den Nutzbarmachung der vom EuGH getroffenen Aussagen auch zum Fall einer wirtschaftlichen Tätigkeit zum Beispiel in Form der Veräußerung baureifer Grundstücke, die ebenfalls eine erschlossene Gemeindestraße verlangt, nichts im Wege ge­standen. Zu bedenken ist aber, dass – anders als beim Kalkstein­bruch – die wirtschaftliche Tätigkeit mit Verkauf der baureifen Grundstücke beendet ist, bevor die anschließende Nutzung der Straße durch die Allgemeinheit im Rahmen einer ausschließli­chen Nutzung erfolgt. Während in der Rs. Mitteldeutsche Hart­stein-Industrie AG die wirtschaftliche Nutzung der Gemein­destraße durch den Steuerpflichtigen und die Allgemeinheit zeitgleich erfolgte, ist die Nutzung der Gemeindestraße durch die Allgemeinheit im Fall der Veräußerung baureifer Grundstü­cke die nachgeordnete Folge der wirtschaftlichen Tätigkeit des Verkaufs der Grundstücke und folgt der wirtschaftlichen Tätig­keit nach.

Allenfalls nebensächlicher Vorteil des Dritten

Der BFH hat – gleichsam ohne Not und für den zu entscheiden­den Sachverhalt ohne Bedeutung – die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG weiter­entwickelt und die vom EuGH in der Rs. Vos Aannemingen for­mulierte Einschränkung eines für den Dritten allenfalls neben­sächlich zugutekommenden Vorteils zur Voraussetzung für den Vorsteuerabzug und/oder die Nichtsteuerbarkeit der unentgelt­lichen Wertabgabe gemacht: „(Tz. 38) 3. Der Senat versteht die Ausführungen des EuGH (…) dahingehend, dass die Gefahr ei­nes unversteuerten Endverbrauchs, den unter anderem § 3 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 UStG und § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG verhindern wollen (…), unter folgenden Voraussetzungen nicht droht: Die Eingangsleistung wird vor allem für Bedürfnisse des Steuer­pflichtigen genutzt, sie ist für das Unternehmen erforderlich und geht darüber nicht hinaus, die Kosten der Eingangsleistung sind kalkulatorisch im Preis der getätigten Ausgangsumsätze enthalten und der Vorteil des Dritten – hier der Allgemeinheit – ist allenfalls nebensächlich.“ Letztlich wendet der BFH die vom EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG getroffe­nen Feststellungen verallgemeinernd nur in den Fällen an, in denen der durch die Eingangsleistung auch dem Dritten (der Allgemeinheit) eingeräum­te Vorteil „allenfalls nebensächlich“ ist.

Umschreibung des allenfalls nebensächlichen Vorteils

Bemerkenswert an diesen Aussagen ist zum einen, dass in der Entscheidung des EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Indust­rie AG der Aspekt eines „allenfalls neben­sächlichen Vorteils des Dritten (hier: der All­gemeinheit)“ nicht ausdrücklich angesprochen wird. Es finden sich in den Ausführungen des EuGH lediglich allenfalls inter­pretationsfähige Aussagen wie:

  • Tz. 37: „(…), dass die Arbeiten zum Ausbau dieser Straße nicht für die Bedürfnisse der betreffenden Gemeinde oder des öffentlichen Verkehrs durchgeführt wurden, sondern um die in Rede stehende Gemeindestraße an den Schwerlastver­kehr anzupassen, der vom Betrieb des Kalksteinbruchs (…) hervorgerufen wird.“
  • Tz. 65: „Die Arbeiten zum Ausbau dieser Straße wurden je­doch ausgeführt, um den Bedürfnissen der Klägerin (…) nach­zukommen, und das Ergebnis dieser Arbeiten – die Straße, die erschlossen wurde, um den Schwerlastverkehr aufzuneh­men, der vom Betrieb des Kalksteinbruchs hervorgerufen wird – wird vor allem für ihre Bedürfnisse genutzt.“
  • Tz. 67: „Selbst wenn die in Rede stehende Gemeindestraße dem öffentlichen Verkehr offen steht, ist nämlich der tatsäch­liche Endverbrauch dieser Straße zu berücksichtigen.“

Zum anderen definiert der BFH selbst nicht, was ein „allenfalls nebensächlicher Vorteil des Dritten (hier: der Allgemeinheit)“ ist und wann ein solcher Vorteil nicht mehr nebensächlich ist. Da sich der BFH hierzu ausdrücklich auf die Entscheidung des EuGH in der Rs. Vos Aannemingen bezieht, gelten aber die dort getroffenen Aussagen zur Beschreibung eines nicht mehr ne­bensächlichen Vorteils des Dritten: „(Tz. 28) Ist erwiesen, dass ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen den dem Steuerpflichtigen erbrachten Dienstleistungen und seiner wirtschaftlichen Tätigkeit besteht, kann der Umstand, dass auch ein Dritter von diesen Dienstleistungen profitiert, es nicht recht­fertigen, dem Steuerpflichtigen das entsprechende Abzugsrecht für diese Dienstleistung zu versagen (…), vorausgesetzt aller­dings, dass der dem Dritten durch diese Dienstleistungen ent­stehende Vorteil gegenüber dem Bedarf des Steuerpflichtigen nur als nebensächlich anzusehen ist“, „Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der dem Dritten entstehende Vorteil nur dann als nebensächlich eingestuft werden kann, wenn er sich aus einer Dienstleistung ergibt, die im eigenen Interesse des Steuer­pflichtigen liegt“.

Rechtsfolgen

Auch soweit mittels des zusätzlichen Merkmals eines „allenfalls nebensächlichen Vorteils des Dritten“ eine weitere Einschrän­kung für die Bejahung des Vorsteuerabzugs und der nicht steu­erbaren unentgeltlichen Wertabgabe verbunden ist, folgt dar­aus aber keine grundsätzliche Abkehr von dem neuen Bewer­tungsansatz des EuGH: Vorsteuerabzug auch bei nur mittelba­rer Verwendung des Eingangsumsatzes für die wirtschaftliche Gesamttätigkeit eines Steuerpflichtigen und keine steuerbare unentgeltliche Wertabgabe mangels einer Entnahmehandlung des Steuerpflichtigen trotz unentgeltlicher Zuwendung an die Gemeinde. Da der dem Dritten zufließende Vorteil nur dann nicht nebensächlich ist, wenn die Eingangsleistung nicht im ei­genen Interesse des Steuerpflichtigen getätigt wurde, kann je­denfalls bei der Errichtung einer Gemeindestraße zwecks Bau­reifmachung von Grundstücken, die nur so beziehungsweise mit Gebäuden bebaut verkauft werden können, das eigene Inte­resse des Steuerpflichtigen an den im Zusammenhang mit der Errichtung der Gemeindestraße angefallenen Kosten bejaht werden. Unbeachtlich ist, ob die Nutzung der Gemeindestraße zeitgleich durch den Steuerpflichtigen im Rahmen seiner wirt­schaftlichen Tätigkeit und durch die Allgemeinheit als Dritte, oder zeitversetzt erst durch den Steuerpflichtigen im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit und anschließend – als unmit­telbare Folge der wirtschaftlichen Tätigkeit – durch die Allge­meinheit erfolgt. Ebenso unbeachtlich ist, ob die Allgemein­heit – zum Beispiel die künftigen Grundstückseigentümer – eine Kostenbeteiligung an der Straßenerrichtung trifft. Auch wenn die Eingangsleistung auch den Dritten (der Allgemeinheit) zu­gutekommt, bleibt sie so lange ein nur nebensächlicher Vorteil des Dritten, wie sie (auch) den Interessen des Steuerpflichtigen dient.

Maßgeblicher Verwendungsumsatz

Die neue EuGH- und ihr folgend die geänderte BFH-Rechtspre­chung verlangt zukünftig eine Stufenprüfung. Zunächst ist zu prüfen (Stufe 1), ob die in Rede stehenden Eingangsleistungen mit ganz konkreten Ausgangsumsätzen im Zusammenhang ste­hen. Auch der Umsatz in Form einer steuerbaren unentgeltli­chen Wertabgabe kann ein solcher Umsatz sein. Unter Beach­tung der Vorgaben in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG führt aber allein eine unentgeltliche Vorteilsgewährung noch nicht zwingend zu einer Entnahme. Entscheidend ist nicht mehr länger die umsatzsteuerliche Beurteilung der Überlas­sung von errichteten oder erschlossenen Straßen. Es fehlt an ei­ner Entnahmehandlung. Der Ausbau einer gemeindlichen Stra­ße mit dem Zweck des Betriebs durch den Steuerpflichtigen, vorliegend eines Kalksteinbruchs, führt noch nicht allein deswe­gen zu einer steuerbaren unentgeltlichen Wertabgabe, weil die ausgebaute Straße auch von der Öffentlichkeit benutzt werden kann.

Maßgebliche wirtschaftliche Gesamttätigkeit

Nur für den Fall, dass die Eingangsleistungen nicht einem kon­kreten steuerbaren Ausgangsumsatz zugeordnet werden kön­nen, ist (Stufe 2) für die Zuordnung der Eingangsleistung auf die wirtschaftliche Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen abzu­stellen. Unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG und der Rs. Vos Aan­nemingen ist für den für den Vorsteuerabzug erforderlichen un­mittelbaren und direkten Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsleistung auf den kausalen Zusammenhang der Veranlassung und nicht mehr länger auf den unmittelbaren Ver­wendungsumsatz abzustellen.

Nur nebensächlicher Vorteil des Dritten

Der Vorsteuerabzug und die Nichtsteuerbarkeit der unentgeltli­chen Zuwendung mangels Entnahmehandlung (Stufe 3) setzen voraus, dass die Eingangsleistung – die nicht einem konkreten Ausgangsumsatz, sondern der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen zuzuordnen ist – nur nebensächlich einen Dritten bevorteilt. Ein nur nebensächlicher Vorteil des Dritten – etwa durch Nutzung der ausgebauten oder errichteten Gemein­destraße – ist immer dann gegeben, wenn die zum Vorsteuerab­zug führende Eingangsleistung „im eigenen Interesse des Steu­erpflichtigen“ erfolgte.

Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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