Nachdem der Europäische Gerichtshof eine Rechtsauffassung des Bundesfinanzhofs korrigiert hatte, war das höchste deutsche Finanzgericht ein weiteres Mal gezwungen, die Vorgaben aus Brüssel im Rahmen seiner Rechtsprechung umzusetzen.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Rechtssache (Rs.) Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG mit der Klarstellung zum unmittelbaren und direkten Zusammenhang als Bedingung für den Vorsteuerabzug erging auf Vorlage des Bundesfinanzhofs (BFH). In seiner Nachfolgeentscheidung setzte der BFH die Vorgaben des EuGH um und gewährte konsequenterweise – in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung – der AG zum einen den Vorsteuerabzug aus den Eingangsleistungen betreffend die Erschließung der Gemeindestraße zum Neuaufschluss und Betrieb eines Kalksteinbruchs. Zum anderen verneinte er eine Steuerbarkeit gemäß § 3 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 Umsatzsteuergesetz (UStG) aus der unentgeltlichen Überlassung der errichteten Straße an die Gemeinde unter wörtlicher Wiedergabe der vom EuGH in dessen Urteil vom 16. September 2020 getroffenen Ausführungen. Darüber hinaus hat der BFH jedoch in eigener Verantwortung die Rechtsfortbildung der EuGH-Rechtsprechung vorgenommen und die Antworten des EuGH auf seine Vorlagefragen in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG in einem bedeutsamen Punkt noch erweitert. Der BFH rückt damit nicht nur von seiner bisherigen Rechtsauffassung ab, sondern eröffnet durch die Erweiterung der Voraussetzungen erneut den Spielraum für die Finanzverwaltung, den Vorsteuerabzug letztlich doch zu versagen. Weitere Streitigkeiten sind unweigerlich vorprogrammiert.
Umfang der Vorteilszuwendung gegenüber Dritten
Zwar erfolgten die Aussagen des EuGH auf Grundlage des konkreten Sachverhalts und dieser war gekennzeichnet von einer wirtschaftlichen Tätigkeit des Steuerpflichtigen, die im Betrieb eines Kalksteinbruchs bestand. Unweigerlich leuchtete es ein, dass der Ausbau der Straße durch diese wirtschaftliche Tätigkeit ausgelöst und geprägt war. Die wirtschaftliche Tätigkeit spiegelte sich unter anderem in der Nutzung der Straße. Die Nutzung der Straße auch durch die Allgemeinheit konnte unbeachtlich bleiben. Mangels weiter gehender formulierter Einschränkungen des EuGH, insbesondere zur Nutzungsmöglichkeit auch durch Dritte (hier die Allgemeinheit), hätte damit eigentlich einer generalisierenden Nutzbarmachung der vom EuGH getroffenen Aussagen auch zum Fall einer wirtschaftlichen Tätigkeit zum Beispiel in Form der Veräußerung baureifer Grundstücke, die ebenfalls eine erschlossene Gemeindestraße verlangt, nichts im Wege gestanden. Zu bedenken ist aber, dass – anders als beim Kalksteinbruch – die wirtschaftliche Tätigkeit mit Verkauf der baureifen Grundstücke beendet ist, bevor die anschließende Nutzung der Straße durch die Allgemeinheit im Rahmen einer ausschließlichen Nutzung erfolgt. Während in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG die wirtschaftliche Nutzung der Gemeindestraße durch den Steuerpflichtigen und die Allgemeinheit zeitgleich erfolgte, ist die Nutzung der Gemeindestraße durch die Allgemeinheit im Fall der Veräußerung baureifer Grundstücke die nachgeordnete Folge der wirtschaftlichen Tätigkeit des Verkaufs der Grundstücke und folgt der wirtschaftlichen Tätigkeit nach.
Allenfalls nebensächlicher Vorteil des Dritten
Der BFH hat – gleichsam ohne Not und für den zu entscheidenden Sachverhalt ohne Bedeutung – die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG weiterentwickelt und die vom EuGH in der Rs. Vos Aannemingen formulierte Einschränkung eines für den Dritten allenfalls nebensächlich zugutekommenden Vorteils zur Voraussetzung für den Vorsteuerabzug und/oder die Nichtsteuerbarkeit der unentgeltlichen Wertabgabe gemacht: „(Tz. 38) 3. Der Senat versteht die Ausführungen des EuGH (…) dahingehend, dass die Gefahr eines unversteuerten Endverbrauchs, den unter anderem § 3 Abs. 1b S. 1 Nr. 3 UStG und § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG verhindern wollen (…), unter folgenden Voraussetzungen nicht droht: Die Eingangsleistung wird vor allem für Bedürfnisse des Steuerpflichtigen genutzt, sie ist für das Unternehmen erforderlich und geht darüber nicht hinaus, die Kosten der Eingangsleistung sind kalkulatorisch im Preis der getätigten Ausgangsumsätze enthalten und der Vorteil des Dritten – hier der Allgemeinheit – ist allenfalls nebensächlich.“ Letztlich wendet der BFH die vom EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG getroffenen Feststellungen verallgemeinernd nur in den Fällen an, in denen der durch die Eingangsleistung auch dem Dritten (der Allgemeinheit) eingeräumte Vorteil „allenfalls nebensächlich“ ist.
Umschreibung des allenfalls nebensächlichen Vorteils
Bemerkenswert an diesen Aussagen ist zum einen, dass in der Entscheidung des EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG der Aspekt eines „allenfalls nebensächlichen Vorteils des Dritten (hier: der Allgemeinheit)“ nicht ausdrücklich angesprochen wird. Es finden sich in den Ausführungen des EuGH lediglich allenfalls interpretationsfähige Aussagen wie:
- Tz. 37: „(…), dass die Arbeiten zum Ausbau dieser Straße nicht für die Bedürfnisse der betreffenden Gemeinde oder des öffentlichen Verkehrs durchgeführt wurden, sondern um die in Rede stehende Gemeindestraße an den Schwerlastverkehr anzupassen, der vom Betrieb des Kalksteinbruchs (…) hervorgerufen wird.“
- Tz. 65: „Die Arbeiten zum Ausbau dieser Straße wurden jedoch ausgeführt, um den Bedürfnissen der Klägerin (…) nachzukommen, und das Ergebnis dieser Arbeiten – die Straße, die erschlossen wurde, um den Schwerlastverkehr aufzunehmen, der vom Betrieb des Kalksteinbruchs hervorgerufen wird – wird vor allem für ihre Bedürfnisse genutzt.“
- Tz. 67: „Selbst wenn die in Rede stehende Gemeindestraße dem öffentlichen Verkehr offen steht, ist nämlich der tatsächliche Endverbrauch dieser Straße zu berücksichtigen.“
Zum anderen definiert der BFH selbst nicht, was ein „allenfalls nebensächlicher Vorteil des Dritten (hier: der Allgemeinheit)“ ist und wann ein solcher Vorteil nicht mehr nebensächlich ist. Da sich der BFH hierzu ausdrücklich auf die Entscheidung des EuGH in der Rs. Vos Aannemingen bezieht, gelten aber die dort getroffenen Aussagen zur Beschreibung eines nicht mehr nebensächlichen Vorteils des Dritten: „(Tz. 28) Ist erwiesen, dass ein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen den dem Steuerpflichtigen erbrachten Dienstleistungen und seiner wirtschaftlichen Tätigkeit besteht, kann der Umstand, dass auch ein Dritter von diesen Dienstleistungen profitiert, es nicht rechtfertigen, dem Steuerpflichtigen das entsprechende Abzugsrecht für diese Dienstleistung zu versagen (…), vorausgesetzt allerdings, dass der dem Dritten durch diese Dienstleistungen entstehende Vorteil gegenüber dem Bedarf des Steuerpflichtigen nur als nebensächlich anzusehen ist“, „Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der dem Dritten entstehende Vorteil nur dann als nebensächlich eingestuft werden kann, wenn er sich aus einer Dienstleistung ergibt, die im eigenen Interesse des Steuerpflichtigen liegt“.
Rechtsfolgen
Auch soweit mittels des zusätzlichen Merkmals eines „allenfalls nebensächlichen Vorteils des Dritten“ eine weitere Einschränkung für die Bejahung des Vorsteuerabzugs und der nicht steuerbaren unentgeltlichen Wertabgabe verbunden ist, folgt daraus aber keine grundsätzliche Abkehr von dem neuen Bewertungsansatz des EuGH: Vorsteuerabzug auch bei nur mittelbarer Verwendung des Eingangsumsatzes für die wirtschaftliche Gesamttätigkeit eines Steuerpflichtigen und keine steuerbare unentgeltliche Wertabgabe mangels einer Entnahmehandlung des Steuerpflichtigen trotz unentgeltlicher Zuwendung an die Gemeinde. Da der dem Dritten zufließende Vorteil nur dann nicht nebensächlich ist, wenn die Eingangsleistung nicht im eigenen Interesse des Steuerpflichtigen getätigt wurde, kann jedenfalls bei der Errichtung einer Gemeindestraße zwecks Baureifmachung von Grundstücken, die nur so beziehungsweise mit Gebäuden bebaut verkauft werden können, das eigene Interesse des Steuerpflichtigen an den im Zusammenhang mit der Errichtung der Gemeindestraße angefallenen Kosten bejaht werden. Unbeachtlich ist, ob die Nutzung der Gemeindestraße zeitgleich durch den Steuerpflichtigen im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit und durch die Allgemeinheit als Dritte, oder zeitversetzt erst durch den Steuerpflichtigen im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit und anschließend – als unmittelbare Folge der wirtschaftlichen Tätigkeit – durch die Allgemeinheit erfolgt. Ebenso unbeachtlich ist, ob die Allgemeinheit – zum Beispiel die künftigen Grundstückseigentümer – eine Kostenbeteiligung an der Straßenerrichtung trifft. Auch wenn die Eingangsleistung auch den Dritten (der Allgemeinheit) zugutekommt, bleibt sie so lange ein nur nebensächlicher Vorteil des Dritten, wie sie (auch) den Interessen des Steuerpflichtigen dient.
Maßgeblicher Verwendungsumsatz
Die neue EuGH- und ihr folgend die geänderte BFH-Rechtsprechung verlangt zukünftig eine Stufenprüfung. Zunächst ist zu prüfen (Stufe 1), ob die in Rede stehenden Eingangsleistungen mit ganz konkreten Ausgangsumsätzen im Zusammenhang stehen. Auch der Umsatz in Form einer steuerbaren unentgeltlichen Wertabgabe kann ein solcher Umsatz sein. Unter Beachtung der Vorgaben in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG führt aber allein eine unentgeltliche Vorteilsgewährung noch nicht zwingend zu einer Entnahme. Entscheidend ist nicht mehr länger die umsatzsteuerliche Beurteilung der Überlassung von errichteten oder erschlossenen Straßen. Es fehlt an einer Entnahmehandlung. Der Ausbau einer gemeindlichen Straße mit dem Zweck des Betriebs durch den Steuerpflichtigen, vorliegend eines Kalksteinbruchs, führt noch nicht allein deswegen zu einer steuerbaren unentgeltlichen Wertabgabe, weil die ausgebaute Straße auch von der Öffentlichkeit benutzt werden kann.

Maßgebliche wirtschaftliche Gesamttätigkeit
Nur für den Fall, dass die Eingangsleistungen nicht einem konkreten steuerbaren Ausgangsumsatz zugeordnet werden können, ist (Stufe 2) für die Zuordnung der Eingangsleistung auf die wirtschaftliche Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen abzustellen. Unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. Mitteldeutsche Hartstein-Industrie AG und der Rs. Vos Aannemingen ist für den für den Vorsteuerabzug erforderlichen unmittelbaren und direkten Zusammenhang zwischen Eingangs- und Ausgangsleistung auf den kausalen Zusammenhang der Veranlassung und nicht mehr länger auf den unmittelbaren Verwendungsumsatz abzustellen.
Nur nebensächlicher Vorteil des Dritten
Der Vorsteuerabzug und die Nichtsteuerbarkeit der unentgeltlichen Zuwendung mangels Entnahmehandlung (Stufe 3) setzen voraus, dass die Eingangsleistung – die nicht einem konkreten Ausgangsumsatz, sondern der wirtschaftlichen Gesamttätigkeit des Steuerpflichtigen zuzuordnen ist – nur nebensächlich einen Dritten bevorteilt. Ein nur nebensächlicher Vorteil des Dritten – etwa durch Nutzung der ausgebauten oder errichteten Gemeindestraße – ist immer dann gegeben, wenn die zum Vorsteuerabzug führende Eingangsleistung „im eigenen Interesse des Steuerpflichtigen“ erfolgte.