Zukunft - 24. Juni 2021

Smarte Resilienz – der europäische Weg?

Die Digitalisierung wesentlicher Lebensbereiche ist ein globales Phänomen und könnte als eine Phase des Übergangs dereinst durchaus zur Signatur unseres Zeitalters werden. Welche Werte geben diesem unumkehrbaren, weltweiten Prozess die Richtung vor?

Diese Frage ist angesichts der Vormachtstellung amerikanischer und chinesischer Daten-Ökosysteme und Cloud-Lösungen nicht nur von akademischem Interesse, sondern eine höchst grundsätzliche: Es geht dabei um nichts Geringeres als das Selbstverständnis und die digitale Zukunft Europas, sofern uns daran gelegen ist, nicht auf Dauer bloße Datenzulieferer außereuropäischer Player zu bleiben, die Wertschöpfung auf dem Kontinent zu halten und die digitalen Spielregeln zumindest mitzubestimmen. Die Bertelsmann Stiftung, seit ihrer Gründung ein maßgeblicher Bannerträger der Idee einer europäischen Integration, hat 2020 eine von Dr. Annegret Bendiek und Prof. Dr. Jürgen Neyer erarbeitete Studie zu der Frage vorgelegt, wie Europas Werte in der Digitalisierung gestärkt werden können. Sie propagiert als ihr Ergebnis die Verfolgung einer regulativen Idee: der smarten Resilienz, wie die Autorin und der Autor sie nennen, begrifflicher Repräsentant eines Konzepts, das einer Digitalpolitik den Weg weisen will, die auf der Grundlage eines europäischen Wertekanons steht.

Zwischen USA und China

Die Frage nach einem solchen Wertegefüge hat auch eine ganz unmittelbare praktische Bedeutung, weil dieses für die rechtliche Ausgestaltung einer europäischen, von der US-amerikanischen Marktmacht und der chinesischen Staatsräson unabhängigen Digitalwirtschaft die Maßstäbe und Leitplanken festlegen muss. Die Notwendigkeit, hier Verbindlichkeit herzustellen, hat auch die Politik erkannt und mit dem Projekt GAIA-X die Initiative ergriffen, ein eigenständiges, dem Gemeinwohl verpflichtetes europäisches Ökosystem aufzubauen, das allen eine gleichberechtigte Teilhabe an der Digitalisierung ermöglichen will. Welchen Erfolg diese Initiative haben wird, bleibt abzuwarten, auch DATEV ist unter den mitwirkenden Unternehmen vertreten. Unabhängig davon beschäftigt sich die genannte Studie, deren Ergebnisse hier kurz umrissen werden sollen, mit der Möglichkeit eines solchen von den USA und China emanzipierten dritten Wegs, der einerseits dem Gemeinwohl eine höhere Priorität einräumt, als US-Konzerne es tun, und andererseits auf dem Erhalt unserer individuellen Freiheits- und informationellen Selbstbestimmungsrechte beharrt, wie sie wiederum in China keine Gültigkeit haben. Es geht darum, den digitalen Wandel auf ein ethisches Fundament zu stellen, das Innovation nicht behindert und zugleich ein Wertebündnis schafft, das zum Alleinstellungsmerkmal einer europäischen Datenkultur werden soll.

Für welche Werte steht das postmoderne Europa?

Nur: Von welchen Werten reden wir hier überhaupt? Geht es lediglich darum, die hehren Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention oder die Grundrechte-Charta der Europäischen Union in eine gangbare Digitalpraxis zu übersetzen? Eine Praxis, die insoweit jeder Fundamentierung stets voraus ist, als diese durch eine neue App, ein erfolgreiches Start-up gleichsam über Nacht eine neue Wendung, eine Kursänderung erfahren kann? Das Autorenduo entwickelt nun seine zentralen Begriffe und seinen Lösungsansatz vor dem Hintergrund einer bestimmten Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität, wie sie der Kultursoziologe Andreas Reckwitz als die Krise des Allgemeinen beschreibt. Diese zeichnet sich durch eine weitestgehende soziale Fragmentierung, Individualisierung und Wertschätzung des Besonderen, des Einzigartigen aus – um den Preis des Verlusts gesellschaftlich verbindlicher Orientierungspunkte und Werte. Das Streben nach Singularität ist dabei nicht nur ein subjektiver Wunsch, sondern repräsentiert paradoxerweise eine gesellschaftliche Erwartung, indem der Grad ihrer sichtbaren und zur Schau gestellten Verwirklichung zugleich zum Gradmesser des sozialen Erfolgs avanciert. In einer Welt, in der Individualismus zur sozialen Norm geworden ist, in der Gewissheiten weitgehend dekonstruiert sind, die Bindekräfte geschwunden und Unsicherheiten an die Stelle tradierter Rationalitäten und Institutionalisierungen getreten sind, sind normative Vorstellungen eines gesellschaftlichen Fortschritts, solche einer gerichteten allgemeinen Bewegung also, final verabschiedet. Das radikale Regime des Neuen, wie Reckwitz es nennt, macht natürlich auch vor der Politik nicht halt und stellt die Regeln der demokratischen Willensbildung infrage: Postdemokratie als Schwundstufe ihrer selbst, ein Bild der Erschöpfung, nicht das einer Entwicklung.

Die Reinterpretation der Werte

Nun geht es nicht darum, den postmodernen Menschen zum Patienten zu stilisieren oder gar in Kulturpessimismus zu verfallen, sondern nur darum, wie sich vor dem Hintergrund dieser Diagnose gesellschaftlichen Wandels überhaupt so etwas wie ein fruchtbarer Begriff europäischer Werte herausarbeiten lässt. Wie lässt sich ein Wertekanon legitimieren, der eine europaweite Gültigkeit beanspruchen und der zur Richtschnur einer Digitalpolitik werden kann? Die Antwort kann nur in einer positiven Adaption des Vorfindlichen liegen, einer Reinterpretation unseres Freiheitsbegriffs also in einem sich individualisierenden Europa. In ihm werden zentrale, wertstiftende Begriffe wie Verantwortung, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zwar zunehmend als höchst individuell auszudeutende Werte verstanden, dennoch verbindet sie eines: ihre Schutzwürdigkeit. Sicherheit kommt im Zeitalter der digitalen Transformation darum eine neue Bedeutung zu als Schutz der digitalen Infrastruktur um jeden Preis – aber nicht mit allen Mitteln. Insofern also muss diese Infrastruktur resilient, widerstandsfähig sein gegenüber An- und Übergriffen aller Art, Kaperungs- und Monopolisierungsversuchen von Interessengruppen, Konzernen, Individuen, Kriminellen, und muss den Werten von Humanismus und Aufklärung verpflichtet bleiben. Gleichzeitig aber muss eine zukunftsfähige europäische Werteordnung smart sein, das bedeutet: adaptions- und lernfähig, Innovationen zulassend, wo technologische Rahmenbedingungen sich wandeln. In der Kombination beider Begriffe ergibt sich eine Wertegebundenheit ohne Beharren auf Überkommenem, aber auch ohne normative Beliebigkeit gegenüber dem Kommenden und somit – wie eingangs erwähnt – eine regulative Idee im Sinne Kants, die zugleich als Angebot an die Politik zu verstehen ist.

• Freiheit wird so von einer bloßen Abwesenheit von Überwachung zu einer Freiheit zur weitestgehenden Selbstentfaltung des Individuums und wird von einem nachgelagerten Thema der Sozialpolitik zu einem solchen des Datenschutzes.

• Verantwortung mutiert von der Gewährleistung einer territorialen Ordnung und Sozialstaatlichkeit zu einer solchen für den Bestand der Meritokratie, der Vorrangstellung derer, die sich durch Leistung und Verdienst für das Allgemeinwohl auszeichnen.

• Die Nachhaltigkeit geht in der digitalen Gesellschaft über das Momentum des nur Bewahrenden hinaus und wird zur langfristigen Gestaltungskraft im Wissen um die Folgen eigenen Tuns und Lassens. • Und die Sicherheit schließlich wird von einer Abwehrbereitschaft gegenüber dem Erwartbaren, einem bloßen Zustand der Alarmbereitschaft, zu einem Prozess, der vor einem Horizont genereller Erwartungsunsicherheit bestmöglich gegen das Unerwartete wappnet und widerstandsfähig macht. So weit die Ergebnisse der Studie, die eher Denkanstoß und Handreichung für Entscheidungsträger als ein Lösungsheft für die Aufgaben in einem digitalisierten Europa sein kann und will. Bei alldem eignet ihr der Gestus des Tastenden, doch ist dies kein Manko, sondern im Gegenteil Ausweis der Ernstnahme des Themas. Denn die digitale Zukunft des Kontinents ist ja nun wahrlich eine gewaltige Herausforderung.

MEHR DAZU

Die vollständige Studie „Smarte Resilienz – Wie Europa Werte in der Digitalisierung gestärkt werden können“ von Dr. Annegret Bendiek und Prof. Dr. Jürgen Neyer steht als kostenloser Download der Bertelsmann Stiftung unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/20200706_Smarte_Resilienz.pdf  zur Verfügung. Der Text dieser Publikation ist urheberrechtlich geschützt, darf aber vervielfältigt und weiterverbreitet werden, solange angemessene Urheber- und Rechteangaben gemacht werden.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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