GAIA-X - 30. Juli 2020

Göttliches Ökosystem für Europa

Gaia, die Urmutter aller griechischen Götter, ist, und das mag auch für die gegenwärtige Situation bezeichnend sein, aus dem vorweltlichen Chaos hervorgegangen. Auch darüber, wie es mit ihr weiterging, sind sich Hesiod und die anderen Mythografen keineswegs einig. Sicher ist darum nur eines: Wer für ein europäisches Projekt bei ihr eine Namensanleihe nimmt, will ein sehr großes Rad drehen und Grundlagen schaffen für eine künftige Ordnung und Struktur.

„Das Ziel ist ein digitales Ökosystem in Europa“, so Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire am 4. Juni 2020, „das Innovationen und neue datengetriebene Dienste und Anwendungen hervorbringt. Wir laden alle europäischen und internationalen Partner, die unsere Leitprinzipien wie Offenheit und Transparenz, Vertrauen, Souveränität und Selbstbestimmtheit teilen, zur Mitarbeit ein.“

Am Anfang stand die Einsicht, dass Europas Dateninfrastruktur gegenwärtig vor allem drei gravierende Defizite aufweist.

Datenverfügbarkeit

Es gibt einstweilen noch keine gut funktionierende europäische Digitalökonomie, die europäischen Werten verpflichtet ist, in der etwa öffentliche Datensätze im Government-to-business(G2B)-Bereich EU-weit und unter gleichen Bedingungen zentral verwaltet werden und berechtigten Interessenten zur Verfügung stehen. Auch die gemeinsame Nutzung von Daten zwischen den Unternehmen hat sich bisher kaum etabliert, was nicht nur an mangelndem Vertrauen, sondern auch einer erheblichen Rechtsunsicherheit liegt, wer was mit welchen Daten tun darf. Auch die Politik benötigt zur Beschlussfindung innerhalb ihrer Gestaltungsspielräume zusätzlich zu den amtlichen Statistiken anonymisierte Daten aus dem Privatsektor, die derzeit nicht zugänglich sind.

Interoperabilität und Qualität

Die Kombination von Daten aus verschiedenen Quellen und aus verschiedenen Wirtschaftssektoren, deren Interoperabilität also, ist derzeit noch aufwendig und mit vielen Hürden versehen. Hinzu kommt, dass die Güte der Daten (Struktur, Authentizität, Integrität) höchst uneinheitlich ist, was ihren Wert zusätzlich mindert.

Dateninfrastruktur und -technologie

Und schließlich gibt es EU-weit noch keine eigenen, für den digitalen Umbau der Gesellschaft erforderlichen gesicherten, energieeffizienten, erschwinglichen und hochwertigen Datenverarbeitungskapazitäten. Stattdessen ist der Kontinent von den Cloud-Services weniger sogenannter Hyperscaler aus Übersee oder Fernost abhängig (Amazon Web Services, IBM, Microsoft, Google, Alibaba), Computing-Netzwerken also, die zwar sämtliche Dienste im Bereich Cloud Computing und Big Data einschließlich künstlicher Intelligenz anbieten können, über die aber außereuropäische Instanzen die Hoheit haben. Diese Cloud-Anbieter unterliegen zudem nur eingeschränkt europäischem Recht, was Ungewissheiten hinsichtlich der Einhaltung von EU-Recht etwa zum Datenschutz mit sich bringt.

Die anvisierte Lösung

Bereits im Oktober 2019 wurde daher unter dem Namen ­GAIA-X eine deutsch-französische Initiative auf den Weg gebracht mit dem Ziel, ein eigenes europäisches Datenökosystem auf die Beine zu stellen. Es geht darum, eine souveräne europäische Dateninfrastruktur aufzubauen, innerhalb derer bestehende europäische Angebote über Open-Source-Anwendungen und offene Standards miteinander vernetzt werden können. Gleichzeitig soll die Abhängigkeit von den großen internationalen Internetunternehmen aus den USA und der Volksrepublik China beendet werden. Zu diesem Zweck werden noch dieses Jahr 22 Unternehmen aus Deutschland und Frankreich, die insbesondere aus dem Kontext von Industrie 4.0 kommen, eine internationale, nicht gewinnorientierte Organisation nach belgischem Recht gründen (unter anderem Deutsche Telekom, SAP, Siemens, Bosch, BMW, Fraunhofer-Gesellschaft), begleitet von rund 300 weiteren Unternehmen und Organisationen, die in das Projekt eingebunden sind, „vom Start-up über den Mittelständler bis hin zum Großkonzern“, so Altmaier. Letztlich also geht es um Souveränität, Datenverfügbarkeit, Interoperabilität, Portabilität, Transparenz und faire Teilhabe an einem von heterogenen Playern betriebenen europäischen Markt.

Skepsis in der Digitalbranche

Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass die Digitalbranche selbst das Projekt GAIA-X mit einer gewissen Skepsis begleitet. So hält der Deutschlandchef der Unternehmensberatung Accenture, Frank Riemensperger die bereits etablierten Hyperscaler für schlechterdings uneinholbar. Allein Amazon, Google und Microsoft investieren zusammen jedes Jahr 50 Milliarden Dollar in ihre Cloud-Infrastruktur. Niemand aus der EU, so Riemensperger, bewege sich „auch nur annähernd in dieser Größenordnung.“

Kooperation als Alternative zu den etablierten Hyperscalern. Dennoch kompromittiert diese Skepsis nicht den Grundgedanken an sich, denn de facto wächst bei den Mittelständlern der Anteil von cloud-gehosteten Anwendungen gegenüber reinen On-Premises-Lösungen ständig. Nur noch 17 Prozent der Unternehmen in Deutschland und Frankreich setzen ausschließlich auf letztere. Auch die gegenwärtige Corona-Krise hat einer Umfrage von Hewlett Packard Enterprise zufolge cloud-basierten Anwendungen nochmals einen gewaltigen Schub gegeben, wodurch – Stand heute – die Abhängigkeit von ausländischen Plattformen weiter gewachsen ist. Wenn also die europäische Wirtschaft nicht dem Cloud-Oligopol aus Amazon, Microsoft und Alibaba (gemeinsamer Marktanteil 71 Prozent) ausgeliefert bleiben will, ist die Errichtung einer eigenen europäischen Dateninfrastruktur quasi unverzichtbar. Die EU brauche, so Riemensperger „Souveränität in Zugang und Zugriff“ – das müsse „eine der ersten Aufgaben werden, die GAIA-X löst“. Ob es also gelingen kann, in Europa die nächste Phase der Digitalisierung mitzugestalten, ob Europa bei künstlicher Intelligenz, Quanten-Computing und Industrie 4.0 vorne mitspielt, bleibt abzuwarten. In jedem Fall soll die europäische Industrie auch digital selbstständig agieren können und die Wahl haben zwischen günstigen, unsicheren Cloud-Diensten und qualitativ hochwertigen „hosted in Europe“. GAIA-X wird dabei nicht selbst zum Hyperscaler werden, sondern kann und soll nur den Standard of Standards erarbeiten und damit den Zusammenschluss oder die Kooperation kleinerer und mittlerer europäischer Cloud-Anbieter fördern. Und hier kommt eben auch die DATEV ins Spiel. DATEV begleitet die GAIA-X-Initiative auf politischer Ebene sowie in ausgesuchten Arbeitsgruppen von Anfang an. In welchem Maße wir uns aber bei der weiteren Ausgestaltung und Aufstellung einbringen werden, ist noch nicht abschließend entschieden. Sicher ist aber, dass sich die DATEV weit genug engagieren wird, um relevante Standards in Europa voranzutreiben beziehungsweise diese nicht zu verpassen. Schon weil auch europäische Standards für Identity & Trust erarbeitet werden sollen, ist trotz der bisherigen Industriefokussierung von GAIA-X und zahlreicher offener Fragen das gesamte Projekt auch für die DATEV von hoher Wichtigkeit. Sollte GAIA-X trotz aller nachvollziehbarer Skepsis erfolgreich sein, werden wir uns weiterhin und auch breiter an der Ausgestaltung (Architektur, Governance, gegebenenfalls Anpassung des eigenen Produkt- und Dienstleistungsportfolios) beteiligen, damit wir mit unserer eigenen Cloud jederzeit anschlussfähig bleiben. Aber auch einzelne Ergebnisse der Standardisierungsbemühungen können für die europäischen Unternehmen und ­DATEV verwertbare Mosaikbausteine sein, um zumindest Teilziele des groß angelegten Projekts zu erreichen. 

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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