Überfüllte Krankenhäuser, medizinisches Personal am Ende der Kräfte, Ärzte und Forscher ohne wirksame Medikamente, Krankheitsherde auf der ganzen Welt – was Covid-19 gerade in vielen Regionen der Welt mit sich bringt, haben Menschen vor über 100 Jahren schon einmal erlebt. Damals grassierte eine schwerwiegende Influenza, bekannt als die Spanische Grippe. Sie forderte zwischen 1918 und 1919 weltweit etwa 50 Millionen Tote und damit beinahe doppelt so viele wie der Erste Weltkrieg.
Der Name führt auf eine falsche Fährte, denn Spanien war nicht der Ursprungsort. Die dortige Presse berichtete lediglich als Erstes über die tödliche Krankheit, nämlich im Mai 1918. Im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern unterlagen die spanischen Zeitungen keiner Zensur. In Deutschland hingegen, das sich zu diesem Zeitpunkt noch im Krieg befand, erschienen Artikel über die Krankheit nicht nur erst einen Monat später, sie beinhalteten auch nur wenige Informationen. Die Devise lautete: Bloß keine unnötige Aufregung. Der Krieg und dessen wirtschaftliche wie soziale Folgen verursachten bereits genug Probleme.
Verbreitung über eine Zoonose
Beinahe zeitgleich begann die Verbreitung über den gesamten Globus. Der Ursprung der Spanischen Grippe lässt sich nicht mehr mit Sicherheit ausfindig machen. Belegt ist, dass im März 1918 in einem US-Militärausbildungscamp in Kansas die Krankheit in einem Ausmaß auftrat, das bisher noch nirgendwo dokumentiert worden war. Ein in der Nähe ansässiger Geflügelzüchter wurde zu diesem Zeitpunkt als Koch in das Camp eingezogen, wenige Tage später zeigte er Symptome. Mittlerweile steht fest, dass sich das Virus über eine Zoonose – der Krankheitsübertragung von Tier auf Mensch – verbreitet hat. Eine Ansteckung des Farmers bei seinen Vögeln ist wahrscheinlich. Drei Wochen nach seiner Rekrutierung waren 1.100 Männer infiziert, 38 davon starben. Von den Ausbildungscamps im Mittleren Westen der USA gelangte das Virus mit den Soldaten schließlich nach Europa.
Rasante Vermehrung
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Fälle an der Westfront auftraten und sich rasant vermehrten. Denn hier waren die Soldaten auf engstem Raum zusammengepfercht, egal ob in den Unterkünften oder in den Schützengräben. Binnen 40 Tagen waren vermutlich 20 Millionen Menschen infiziert. Das Virus mutierte unter diesen Bedingungen zu einer äußerst aggressiven Form. Die Militärärzte waren ratlos. Kurz nachdem die Betroffenen grippeähnliche Symptome wie Fieber und Schüttelfrost aufwiesen, verschlechterte sich ihr Zustand akut: Dunkle Verfärbungen zeichneten sich auf dem Gesicht ab, einige bluteten aus Nasen und Ohren. Das Immunsystem war überfordert und griff nicht nur die Viren an, sondern auch alle betroffenen körpereigenen Zellen.
Da waren reihenweise Leichen, wirklich reihenweise, Hunderte … Es
war gespenstisch.
Die Patienten bekamen schwere Lungenentzündungen, die nicht behandelt werden konnten. Nach wenigen Tagen erstickten die Opfer. Ein britischer Militärarzt notierte in seinem Tagebuch: „Da waren reihenweise Leichen, wirklich reihenweise, Hunderte von ihnen […]. Es war gespenstisch, sie dort liegen zu sehen, getötet durch etwas, wogegen ich keine Behandlung hatte.“ Die Moral unter den Soldaten sank, viele machten die schlechte Kost und sexuelle Abstinenz für die Krankheit verantwortlich. Doch nicht nur die Militärlager waren von der Krise gebeutelt. Fronturlauber, Gefangene und gegen Ende 1918 auch Kriegsheimkehrer trugen das Virus in ihre Heimat.
Es hat vor allem die Jüngeren getroffen
Die Pandemie traf Deutschland und den Rest der Welt in drei Wellen vom Frühjahr 1918 über eine massive Ausbreitung im Herbst bis hin zu schwächeren Ausprägungen Anfang 1919. Das Rätsel für Zeitzeugen: Anders als bei den übrigen Grippeerkrankungen starben bei dieser Pandemie nicht etwa ältere Menschen, sondern vor allem die 20- bis 40-Jährigen. Heute wissen wir: Es geht bei diesem Virus nicht um ein geschwächtes, sondern um ein starkes Immunsystem, das überreagiert. Die Folgen waren verheerend, starb doch sowohl während des Ersten Weltkriegs als auch durch die Spanische Grippe zum Großteil die jüngere Bevölkerung.
Zum menschlichen Leid kam das wirtschaftliche
Die meisten Staaten zeigten sich mit der Situation überfordert. Eindämmende Aktionen, die zum Stillstand des öffentlichen Lebens geführt hätten, gab es in Deutschland nicht. Diese stünden laut Reichsgesundheitsrat nicht in Relation mit den wirtschaftlichen Konsequenzen. Weil viele Schüler erkrankten, wurden zwar einige Schulen geschlossen, aber Theater und Kinos blieben beispielsweise weiterhin geöffnet. In der Folge waren vor allem Städte von der Spanischen Grippe betroffen. Zu dem menschlichen Leid kam das wirtschaftliche: In Bergwerken, Fabriken und der Landwirtschaft kam es zu Produktionsausfällen. Das reale Bruttoinlandsprodukt aller betroffenen Länder sank im Durchschnitt um sechs Prozent. Damals brach der Konsum ein, ähnlich erging es den Renditen von Aktien und Staatspapieren. Übrig blieb eine Welt, die sich nur langsam von den Folgen erholen konnte. Ausläufer des Virus brachen in den folgenden Jahrzehnten regelmäßig in verschiedenen Teilen der Welt wieder aus, weswegen Forscher die Spanische Grippe als „Mutter der Pandemien“ bezeichnen. Eine ihrer Mutationen war die Schweinegrippe, die unter anderem für den Börsencrash 2009 verantwortlich war.
Mehr dazu
Barro, Robert et al.: The Coronavirus and the Great Influenza Pandemic. Lessons from the „Spanish Flu“ for the Coronavirus‘s Potential Effects on Mortality and Economic Activity (NBER Working Paper Series 26866). Cambridge 2020.
Michels, Eckard: Die „Spanische Grippe“ 1918/19. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 58/1 (2010), S.1–33.
Taubenberger, Jeffery K.; Morens, David M.: 1918 Influenza: The Mother of All Pandemics. In: Emerging Infectious Diseases 12/1 (2006), S.15–22.
Vasold, Manfred: Spanische Grippe, 1918/19. In:
www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Spanische_Grippe,_1918/19Bayerns.