Begriffsgeschichte - 23. September 2021

Den Letzten beißen die Hunde

Als Motor des Fortschritts und Garant für wirtschaftliche Stabilität ist der deutsche Mittelstand berühmt. Rund 99 Prozent der Unternehmen in Deutschland gehören zu den sogenannten KMU, den kleinen und mittleren Unternehmen. Seit wann und warum nennen wir die mittelgroßen Unternehmen Mittelstand?

„O selig leben auf dem Lande / O großes Glück im Mittelstan­de!“, so beschrieb der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim 1764 seine Idealvorstellung eines geruhsamen Lebens. Nur wenige Jahre später, 1773, nahm Johann Georg Krünitz den Begriff Mittelstand in seine ökonomische Enzyklopädie auf. Sie verzeichnet unter Mittelstand den mittleren Zustand einer Person, „besonders in Ansehnung des Vermögens und des bürgerlichen Ranges, derjenige Stand, welcher zwischen reich und arm, zwischen vornehm und geringe in der Mitte ist“. Krünitz richtete sich in seiner Definition nach der mittelal­terlichen Auffassung des Mittelstands als der Schicht, die sich zwischen den Ständen des Adels und des einfachen Volkes, des Plebs, herausgebildet hatte. Das Verhältnis des Mittel­stands zu diesen beiden Polen ist jedoch nicht recht trenn­scharf. Krünitz erkennt in seiner Enzyklopädie an, dass der Mittelstand in Deutschland an Zahlen stetig zunahm, „beson­ders in Ansehnung der Gelehrten“. Man müsse jedoch darauf bedacht sein, „ihm eine Ableitung zu verschaffen, um das Gleichgewicht in dem Verhältnisse der Einwohner nicht zu sehr zum Nachtheile der producirenden Classe zu verrücken“. Der Mittelstand des 18. Jahrhunderts war demnach eine Schicht, die vor allem das produzierende Gewerbe, also Hand­werk und Bauern, aber auch Gelehrte, wie beispielsweise Be­amte, umfasste.

Zustände im Grimm’schen Wörterbuch

Die Gebrüder Grimm brachten die Schwierigkeiten bei der Be­griffsbestimmung des Mittelstands auf den Punkt. Im Deut­schen Wörterbuch, das im Jahr 1838 begonnen wurde, ist der Mittelstand in seiner ursprünglichen Bedeutung als „status me­diocris“, als mittlerer Zustand zwischen zwei Konzepten, ange­geben. Als Beispiele nennt das Wörterbuch den Mittelstand zwischen Sklaverei und Freiheit oder zwischen Traum und Wachzustand. Der Mittelstand, der sich auf das Ansehen einer Person in der Gesellschaft bezieht, wird bereits als Mittelklasse bezeichnet und markiert somit den Übergang von der Stände-zur Klassengesellschaft. Darüber hinaus ordnen die Gebrüder Grimm den Mittelstand des 19. Jahrhunderts in den Kontext der Nation ein, er ist „Kern und die Kraft der Staaten“. Dazu gehö­ren „die Bewohner kleiner Städte, alle Beamten und Unterbe­amten daselbst, Handelsleute, Fabricanten, vorzüglich Frauen und Töchter solcher Familien, auch Landgeistliche insofern sie Erzieher sind“.

Die Enzyklopädien von Johann Georg Krünitz und der Gebrü­der Grimm nehmen vorweg, was die Sozialwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts in einen alten und neuen Mittelstand unterschieden. Kern des alten Mittelstands waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Bauern als prägende soziale Schicht europäischer Gesellschaften. Auch Deutschland war bis dahin eine Agrargesellschaft. Erst im Zuge der Industrialisierung wurden die Bauern als dominante Schicht durch eine neue Ar­beiterklasse verdrängt, die sich in städtischen Fabriken ver­dingen musste. Jene Umschichtungen der Sozialstruktur ha­ben die Philosophen und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx und Friedrich Engels kritisiert. In ihrem Manifest der kom­munistischen Partei identifizierten Marx und Engels den Mittelstand als kleine Industri­elle, Kaufleute und Rentiers, als Handwerker und Bauern. Diese Klasse, so befürchteten beide, würde alsbald „ins Proletariat“ hinabfallen, „teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapi­talisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Ge­schicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird“.

Aus Ständen werden Klassen

Der Wunsch nach einem revolutionären gesellschaftlichen Wandel durch das Proletariat, den Marx und Engels hegten, sollte sich nicht erfüllen. Die Diagnose, dass Stände zu Klassen geworden waren, dass also der europäische Feudalismus an Ge­wicht verloren hatte und dies die Grundlage für die Entstehung neuer Klassen war, war indes richtig. Die Entwicklungslinien dieser neuen Klassengesellschaft verliefen entlang des grund­besitzenden Adels, des Großbürgertums und des in Bewegung geratenen Mittelstands. Neben den alten Mittelstand der Hand­werker, Händler und Bauern waren einerseits das Bildungs-und Besitzbürgertum getreten, andererseits hatte sich ein neu­er Mittelstand aus Angestellten, kleinen und mittleren Beamten ausgebildet. Der Mittelstand sollte sich damit von den Unter­schichten, vor allem von der Industriearbeiterschaft, abgren­zen. Aber das war bald zu unscharf. Gegen Ende des 19. Jahr­hunderts wurde dieser Mittelstand ausdifferenziert, es gab ei­nen bäuerlichen Mittelstand, einen handwerklichen, einen ge­bildeten, einen wohlhabenden, einen gewerblichen und viele mehr. Für die folgenden Jahrzehnte wurde Mittelstand meist gesellschaftlich verwendet – in Abgrenzung nach unten.

Marktmacht in der jungen Bundesrepublik

Das änderte sich in den 1950er-Jahren des 20. Jahrhunderts. In der jungen BRD kam die Diskussion auf, ob die großen Kaufhäuser und Versandhäuser – wer erinnert sich noch an Quelle und Neckermann? – mit ihrer Marktmacht eine Gefahr für mittelgroße Händler darstellten. Die Abgrenzung zwischen groß und mittel in der Wirtschaft wurde diskutiert. Vereinzelt tauchte der Begriff „mittelständische Industrie“ in jener Zeit auf. Ende der 1950er-Jahre veränderte sich die Diskussion: Waren Kartelle und große Industriekonzerne die Zukunft der deutschen Wirtschaft oder drohten sie das Erfolgsmodell zu zerstören? Sollte eventuell der Staat selbst als großindustriel­ler Produzent auftreten? In einem Interview erklärte der Erfin­der der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, damals Bun­deswirtschaftsminister (CDU): „Und der Mittelstand? Je mehr der Staat in den Besitz des Produktivkapitals gelangt, umso mehr wird der Zug zum Großbetrieb und sogar zu großen Kon­zernen hingehen; denn den vielschichtigen Kapitalbedarf der sogenannten mittelständischen Wirtschaft wird der Staat nie befriedigen können; – den Mittelstand werden dann immer die Hunde beißen.“ Mittelstand war jetzt nicht mehr nur eine Be­schreibung einer Gesellschaftsschicht – der Mittelstand sollte ein Schutzdamm gegen eine „Vermassung“ des Volks sein, be­tonte 1958 Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU). Mittel­stand konnte jetzt auch ohne definierendes Adjektiv die heuti­ge Kategorie der KMU beschreiben.

Mehr dazu

Deutsches Wörterbuch. „Mittelstand“. In: Deutsches Wörterbuch online, unter: http://dwb.uni-trier.de/de/

Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 5., durchgesehene Auflage, Wiesbaden 2008.

Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der kommunistischen Partei, London 1848.

Zu den Autoren

LN
Laura Niederhoff

Neumann & Kamp Historische Projekte

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MG
Dr. Matthias Georgi

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