Einkommensteuer - 29. Dezember 2023

Kindergeldberechtigung eines im Inland lebenden EU-Ausländers trotz möglichem Verstoß seines Arbeitgebers gegen das Mindestlohngesetz

FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 29.12.2023 zum Gerichtsbescheid 1 K 2050/22 vom 30.03.2023 (rkr - Revision III R 12/23 zurückgenommen)

  1. Ein möglicher Verstoß des Arbeitgebers gegen arbeitnehmerschützende Vorschriften (hier: Mindestlohngesetz) kann nicht zur Versagung von Kindergeld für einen freizügigkeitsberechtigten EU-Staatsangehörigen in Deutschland führen.
  2. Auch eigene strafrechtliche Verurteilungen des Arbeitnehmers alleine würden nicht dazu führen, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt werden kann.

Sachverhalt

Der Kläger ist südosteuropäischer EU-Staatsangehöriger und der leibliche Vater eines Kindes, für das er seit März 2016 Kindergeld erhält. Das Kind ist bei der Mutter in Südosteuropa, wo auch der Kläger lebt, wenn er nicht in Deutschland arbeitet. Der Kläger ist seit April 2014 in Deutschland nichtselbstständig tätig und lebt in der Zeit seiner Arbeitstätigkeit in einem Wohncontainer, welchen die Arbeitgeberin zur Verfügung stellt. Ein schriftlicher Mietvertrag liegt nicht vor. Als Entgelt für die Nutzung wird pauschal vom Lohn ein Abzug vorgenommen. In welcher Höhe, ist nicht bekannt. Der Kläger erhält von der Arbeitgeberin keine Lohnabrechnungen. Die wöchentliche Arbeitszeit des Klägers liegt bei mindestens acht Stunden pro Tag bei einer Sieben-Tage-Woche. In den Monaten, in denen sich der Kläger in Südosteuropa aufhält, hat er seiner Arbeitgeberin keine Miete zu zahlen, da er in diesen Monaten auch keinen Arbeitslohn (Urlaubsentgelt) erhält und auch bei der Sozialversicherung (Versicherung) abgemeldet wird.

Die beklagte Familienkasse (Beklagte) hob die Kindergeldfestsetzung von Januar 2019 bis einschließlich April 2020 sowie von Februar bis Dezember 2021 auf und forderte überzahltes Kindergeld i. H. von 3.326,80 Euro zurück. Die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Arbeitnehmer stelle keine Beschäftigung im Sinne der VO Nr. 883/2004 dar, da es sich um ein illegales Beschäftigungsverhältnis handele, mit dessen Durchführung Straf- und Ordnungswidrigkeiten begangen würden. Der Kläger erhob gegen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid erfolglos Einspruch.

Aus den Gründen

Das Finanzgericht gab der Klage statt. Der Kläger sei als freizügigkeitsberechtigter Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaates nach den nationalen Vorschriften kindergeldberechtigt. Freizügigkeitsberechtigt sei ein Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitgliedstaates nach Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland, wenn er Arbeitnehmer ist oder sich zur Berufsausbildung im Inland aufhalte. Vorliegend sei der Kläger Arbeitnehmer gewesen und während seines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland unstreitig einer nichtselbstständigen Arbeit nachgegangen.

Möglicher Verstoß gegen Mindestlohngesetz steht Kindergeldanspruch nicht entgegen

Dass in diesem Arbeitsverhältnis möglicherweise gegen das Mindestlohngesetz verstoßen worden sei und sich die Arbeitgeberin – nach Auffassung der Beklagten – nach § 266a Strafgesetzbuch strafbar gemacht haben könnte, ändere daran nichts. Schon vom Schutzzweck der genannten Vorschriften – nämlich die Interessen des Arbeitnehmers zu wahren – wäre es nicht zulässig, den Kläger bei (möglichen) Rechtsverstößen seiner Arbeitgeberin durch die Aberkennung der Kindergeldberechtigung zu sanktionieren. Sei die Beklagte daher davon überzeugt, dass der Arbeitgeberin entsprechende Rechtsverstöße anzulasten seien, habe sie den Sachverhalt näher aufzuklären und/oder durch Mitteilung an die zuständigen Behörden im Rahmen der §§ 30 und 31a Abgabenordnung für eine Verfolgung der Arbeitgeberin zu sorgen (z. B. § 14 Mindestlohngesetz).

Deutschland ist vorrangig zuständiger EU-Mitgliedstaat für Familienleistungen

In den Streitzeiträumen bestehe eine Konkurrenzsituation mit südosteuropäischen Familienleistungen. Die sich daraus ergebene Anspruchskumulierung sei nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 (sog. Grundverordnung) dahingehend aufzulösen, dass Deutschland die Familienleistungen als vorrangig zuständiger EU-Mitgliedstaat nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a VO Nr. 883/2004 zu erbringen habe. Sei nämlich der persönliche und sachliche Geltungsbereich der Grundverordnung eröffnet und lägen konkurrierende Ansprüche in deren Sinne vor, dann seien die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung sei gegenüber § 65 Einkommensteuergesetz vorrangig. Der Kläger unterliege in den streitigen Monaten gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO i. V. m. Art. 1 Buchst. a Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften Deutschlands als dem Beschäftigungsstaat. Wie bereits oben ausgeführt könne ein möglicher Verstoß der Arbeitgeberin gegen arbeitnehmerschützende Vorschriften nicht zur Versagung von Familienleistungen in Deutschland führen. Deutschland bleibe vorrangig zuständiger EU-Mitgliedstaat.

Kein Ordre-Public-Vorbehalt

Auch könne die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU nur aufgrund des Ordre-Public-Vorbehalts in Art. 45 Abs. 3 AEUV eingeschränkt werden. Selbst strafrechtliche Verurteilungen des Arbeitnehmers allein seien dafür nicht ausreichend. Gemäß Art. 27 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (RL 2004/38) i. V. m. § 6 Abs. 2 FreizügG/EU dürften nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Es müsse eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Unter Anwendung dieser Maßstäbe sei ein Rechtsverlust des Klägers, der weder strafrechtlich verurteilt noch einer Straftat verdächtig sei, nicht zu begründen. Wie bereits ausgeführt, werde auch von der Beklagten ein Tatvorwurf nicht gegen den Kläger, sondern gegen seine Arbeitgeberin erhoben. Dem werde die Beklagte im Weiteren mit den geeigneten Maßnahmen nachzugehen haben.

Quelle: Finanzgericht Baden-Württemberg, Newsletter 2/2023