Beim Thema Digitalisierung herrscht in Deutschland, vor allem auch im internationalen Vergleich, Nachholbedarf. Gerade der Mittelstand agiert hier noch immer zurückhaltend. Wo liegen die Gründe für das Zögern und was ließe sich dagegen tun?

Endlich wird es in den Medien fast flächendeckend aufgegriffen: der deutsche Mittelstand steuert auf ein Problem zu. Es wird von fehlender Innovationskraft und fehlender Digitalisierung berichtet. Und das sind dramatische Erkenntnisse. Denn Deutschland lebt nicht von der Innovationskraft und Beschäftigungswirkung der Konzerne, sondern vom Mittelstand.

72 Prozent der Industriebeschäftigten in Deutschland arbeiten in Unternehmen mit weniger als 1000 Mitarbeitern. Nur wenige Länder der Erde dürften eine solche Ausprägung mittelständischer Unternehmen haben wie Deutschland. Hier finden wir vielfach die „Hidden Champions“, die in ihrem Segment oft den Weltmarkt dominieren. Warum dann aber diese düsteren Aussagen oder Prognosen? Nun, jahrelang volle Auftragsbücher haben offenbar vielen Entscheidern in den Unternehmen etwas den Blick in die Zukunft verstellt. Jetzt beginnen die Probleme sichtbar zu werden.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Fokussierung auf immer bessere Produkte möglicherweise den Erfordernissen des Marktes nicht mehr gerecht werden. Wesentliche Innovationen liegen im Bereich der Digitalisierung. Und dort sind andere Länder weiter. Die vielfach genannten Defizite in der Internetgeschwindigkeit in Deutschland sind nur ein Aspekt. Andere Aspekte liegen in den Firmen selber.

In einer Studie zum Stand der Digitalisierung von Geschäftsprozessen im Mittelstand, die an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) durchgeführt wurde , wurde bei 155 Unternehmen der Digitalisierungsgrad von Kern- und Unterstützungsprozessen abgefragt.

Das Ergebnis hat – freundlich formuliert – gezeigt, dass der Mittelstand hinterherhinkt.

Skepsis gegenüber Investitionen

Betrachten wir hier den Hinderungsgrund Nummer 1: die Kosten der Digitalisierung werden als zu hoch eingeschätzt. Digitalisierung von Geschäftsprozessen ist ein sehr kleinteiliges Geschäft. Ein typisches Industrieunternehmen hat hunderte Einzelprozesse, die hinsichtlich Digitalisierung betrachtet werden können.

Nehmen wir ein naheliegendes Beispiel: die Digitalisierung des Rechnungseingangs, ein Prozess der überall anfällt. In einem betrachteten Unternehmen sind für die Digitalisierung des Rechnungseingangs Investitionskosten von 25.000 ? angefallen. Weiter fallen jährliche Wartungskosten (Software und Servicepauschale) von 5.000 ? an. Bei einem Volumen von 15.000 Rechnungen pro Jahr, die digital erfasst werden, kommt da schnell eine Wirtschaftlichkeit heraus. Hätte das Unternehmen zum Beispiel aber nur 1.000 Rechnungen pro Jahr, wäre das Investitionsvolumen nicht kleiner und Softwarelizenzen und Wartungskosten auch nicht. Eine Wirtschaftlichkeit würde sich dann nicht ergeben.

Ein anderes Beispiel: die horizontale digitale Integration zwischen Kunde und Lieferant mit einem Konsignationslager. Hier werden bei Entnahmen durch den Kunden über einer Tasterlösung mit Cloudanbindung die Entnahmen sofort ins ERP-System des Lieferanten eingespielt, eine Warenbewegung gebucht und eine Rechnung erstellt. Beim Kunden erfolgt mit der Entnahme eine Einkaufsbestellung im ERP-System. Technisch gesehen eine sehr interessante Lösung. Im betrachteten Unternehmen fielen beim Lieferanten Investitionskosten von 20.000 ? und beim Kunden von 9.000 ? an. Da aber weniger als 100 Vorgänge pro Jahr über diesen Weg laufen, ist eine Wirtschaftlichkeit nicht gegeben.

Fehlende Skalierbarkeit

Und hier zeigt sich das Dilemma des Mittelstandes: es gibt im Unternehmen hunderte von einzelnen Prozessen. Für viele davon existieren Digitalisierungslösungen. Da aber die Häufigkeit der Prozessausführung sehr unterschiedlich ist, fehlen oft die Skalen-Effekte für eine Wirtschaftlichkeit. Je größer dann ein Unternehmen ist, desto häufiger werden Prozesse durchgeführt, und umso eher lassen sich Digitalisierungslösungen rechtfertigen.

Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

1. Technische Lösungen zur Digitalisierung müssen so standardisiert und einfach implementierbar werden wie zum Beispiel die typischen Office-Produkte. Dann können auch mittelständische Unternehmen solche Lösungen einsetzen

2. Wenn Mittelständler keine passenden digitalen Lösungen für ihre vielen und komplexen Prozesse finden und einführen, dann fallen sie weiter zurück. Damit einher geht der Verlust der Attraktivität als Arbeitgeber für junge qualifizierte Arbeitskräfte, und eine Negativspirale setzt sich in Gang.

3. Größere Unternehmen gewinnen aufgrund der Skaleneffekt zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit, weil sie digitalisieren können.

Vielleicht können Standards über Verbände und andere Interessengemeinschaften geschaffen werden. Hier müssen Mittelständler dann mitwirken und auch mit anderen Mittelständlern zusammenarbeiten. Ohne Kollaboration wird es schwierig. Es ist enorm wichtig, hier weiter zu kommen. Der deutsche Mittelstand ist es wert!

Autor: Prof. Dr.-Ing. Gerrit Sames

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