Compliance - 28. Juli 2022

Von den Regeln des Zusammenlebens

Die Regeltreue von Unternehmen und Institutionen gegenüber Gesetzen, Richtlinien und freiwilligen Selbstbeschränkungen ist das Schwerpunktthema dieses Hefts. Doch worin hat die Erwartung, dass wir uns an Regeln halten, eigentlich ihren Ursprung?

Oder anders gefragt: Warum sind Regeln des Zusammenlebens nötig und warum halten wir uns an die allermeisten von ihnen? Aus Einsicht? Reiner Gewohnheit? Oder doch eher zur Vermeidung von Sanktionen, die uns bei Regelverstößen treffen würden?

Anarchie – Schreckgespenst oder Paradies?

Die Frage scheint in ihrem Kern leicht beantwortbar zu sein: Die Alternative zu einem geordneten Zusammenleben wäre ein chaotisches Neben- und Gegeneinander aller gegen alle. Wo es keine Regeln gibt oder ihre Gültigkeit nicht durchgesetzt wird, herrscht Anarchie. Doch ganz so einfach ist es nicht. Denn diese Position, obschon spontan einleuchtend, ist nicht unumstritten. In Opposition zu ihr stehen jene Gegenmodelle, die das Gefüge der Regeln, der Ge- und Verbote verdächtigen, in erster Linie der Wahrung der bestehenden Eigentums- und ökonomischen Verhältnisse zu dienen; mithin seien sie ein Macht- und damit ein Unterdrückungsinstrument in den Händen der jeweils herrschenden Eliten. Ihr Bruch wäre ein Akt der Emanzipation. Vorstellungen dieser Art haben eine gewisse Tradition und ihre prominenten Vordenker, etwa den Franzosen Pierre-Joseph Proudhon (1809 bis 1865) oder auch Michail Bakunin (1814 bis 1876), der wohl bekannteste russische Anarchist, der nicht nur gegen jede Form von Herrschaft angeschrieben, sondern sich auch aktiv an der 1848er-Revolution beteiligt hat.

Der Weg zur Utopie …

Zumeist münden Entwürfe einer Herrschaftsfreiheit, die ohne sanktionsbewehrte Regeln für das Miteinander auskommen, freilich in mehr oder minder realitätsfernen Sozialutopien. Stets basieren sie zudem auf gewagten sozialanthropologischen Prämissen, etwa der, dass der Mensch als soziales Wesen an und für sich gut oder zumindest zum Guten erziehbar sei, gerecht und verantwortungsbewusst handele, wenn denn nur die Verhältnisse, unter denen er lebt, es zulassen würden – und dass er sich dann auch keinerlei Zwang mehr fügen müsse. Freie Übereinkunft und Selbstorganisation, so die Idee, sollten jede Machtausübung ersetzen können, ohne dass darum die Welt im Chaos versinke. Denn „Anarchie ist Ordnung ohne Herrschaft“, wie Proudhon es formulierte.

… führt nicht in die Freiheit

Interessanterweise führte der Weg zu ebendiesem gesellschaftsutopischen Ziel bisher in das genaue Gegenteil von Herrschaftsfreiheit, nämlich in die – für nur vorläufig erforderlich erklärte – strenge Reglementierung des Zusammenlebens. So ist eine konsequente Unterordnung des Einzelinteresses gegenüber dem herbeidefinierten höheren Interesse der Sozialgemeinschaft unabdingbar. Der Anspruch auf Durchsetzung wird mit der Verheißung begründet, dass am Ende die Befreiung des Individuums von aller Fron, aller Bevormundung, allem Zwang, kurzum die innerweltliche Erlösung warten würde. Bis es so weit ist, haben wir es mit einer bevormundenden Obrigkeit, wenn nicht gleich mit einem totalen Staat zu tun, wie ihn Thomas Morus (1478 bis 1535) in seinem Werk „Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia“ (1516) erstmalig und zugleich als Gegenmodell zum England seiner Zeit entworfen hat.

Aus heutiger anthropologischer und gesellschaftspsychologischer Sicht darf das Bild des Menschen als eines aus sich selbst heraus umfassend sozial- und organisationsfähigen und darum keiner verbindlichen äußeren Ordnung bedürftigen Wesens als überholt gelten. Auch historisch dürfen wir alle Versuche einer Vergesellschaftung als Mittel zur Emanzipation des Individuums getrost als gescheitert ansehen. Regeln, Grenzen und Gebote repräsentieren nicht nur Macht, sie begrenzen sie zugleich und rehabilitieren damit den zuvor kompromittierten Anspruch, den Menschen in ihrem Miteinander verbindliche Leitplanken zu setzen. Über das Zustandekommen jener Regeln, die, geschrieben oder ungeschrieben, unser aller Leben bestimmen, hat kaum jemand gründlicher nachgedacht als der Soziologe Norbert Leo Elias (1897 bis 1990). Er entfaltet ein Panorama kulturellen Fortschritts vom europäischen Mittelalter bis in unsere Tage, das er aus einem Wandel der menschlichen Persönlichkeitsstruktur ableitet. Charakteristisch hierfür sei ein Vorrücken von Scham- und Peinlichkeitsschwellen, was bedeutet, dass im Laufe der Jahrhunderte immer mehr eigene und fremde Handlungen Unbehagen auslösen. Dies führe zu einem Erstarken der Impuls- und Affektkontrolle, zur Tabuisierung bestimmter Verhaltensweisen und ganzer Lebensbereiche sowie zur Verfeinerung der Sitten durch eine Vielzahl von (Höflichkeits-)Regeln, deren Durchbrechung den eigenen Status beschädigt. Gleichzeitig konstatiert er ein Erstarken der Psychologie, der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, und eine zunehmende Rationalisierung des Handelns, also das Vermögen und den Willen, die Folgen eigenen Handelns zu antizipieren. Dies wiederum fördert die Beilegung von Konflikten auf friedliche Weise als deren heute einzig tolerierte Austragungsform. Der zivilisatorische Fortschritt ist damit gleichbedeutend mit der Verfeinerung des Regelwerks zur Entstörung unseres Miteinanders. Dieser Fortschritt ist jedoch, das betont Elias selbst, keineswegs unumkehrbar und stets bedroht.

Neben dieser sozialanthropologischen Herleitung der Regeln unseres Zusammenlebens gibt es freilich noch eine ganze Reihe weiterer: eine religiöse etwa, die uns die Verantwortung für unser Handeln vor einer überweltlichen Instanz auferlegt, oder auch eine säkulare, rein pragmatisch-utilitaristische, die sich aus der nüchternen Frage ableitet, welcher Regeln es bedarf, damit das gewaltige Räderwerk einer Gesellschaft ökonomisch, sozial, rechtlich und politisch möglichst konfliktarm funktionieren kann. Darüber hinaus und nicht an letzter Stelle steht eine sozialethische Herleitung, die sich an einem allgemeinen Gerechtigkeitsbegriff orientiert. Aus diesem wiederum leiten sich Pflichten, Ge- und Verbote ab und eine Reihe von Ansprüchen, die das aufgeklärte und mündige Individuum billigerweise an die Gesellschaft richtet und umgekehrt die Gesellschaft hinsichtlich ihres Wohlverhaltens an die Einzelnen richten darf. Chancengleichheit etwa repräsentiert einen solchen Anspruch. Sie ist eine regulative Idee von eminenter Wichtigkeit. Ihre Institutionalisierung durch Rechte und Regeln, die den Zugang zu Bildung und damit Aufstiegschancen für jedermann sichern, ist gewiss ein, wenn nicht der Grundpfeiler unseres sozialen Friedens.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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