Auswirkungen der sog. Missbrauchsrechtsprechung des EuGH
BMF, Schreiben (koordinierter Ländererlass) III C 3 – S-7134 / 19 / 10003 :001 vom 25.06.2020
I. Anwendung der sog. Missbrauchsrechtsprechung des EuGH bei Ausfuhrlieferungen
Der EuGH hat zuletzt mehrfach entschieden, dass einerseits die Missbrauchsrechtsprechung zu innergemeinschaftlichen Lieferungen grundsätzlich auch auf Ausfuhrlieferungen zu übertragen sei und andererseits, dass es bei Vorliegen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung unschädlich sein kann, wenn einzelne formelle Kriterien des Buch- und Belegnachweises nicht erfüllt sind.
Hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weist der EuGH darauf hin, dass eine nationale Maßnahme dann über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, wenn sie das Recht auf Umsatzsteuerbefreiung im Wesentlichen von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig macht, ohne dass materielle Anforderungen berücksichtigt würden und insbesondere ohne, dass in Betracht zu ziehen wäre, ob diese erfüllt sind. Die Umsätze sind nämlich unter Berücksichtigung ihrer objektiven Merkmale zu besteuern (EuGH-Urteile vom 17.10.2019; C-653/18, Unitel Sp, vom 08.11.2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28.03.2019, C-275/18, Milan Vin?).
Sind die materiellen Voraussetzungen erfüllt, erfordert ferner der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Umsatzsteuerbefreiung gewährt wird, auch dann, wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (EuGH-Urteile vom 17. 10. 2019; C-653/18, Unitel Sp; Rn. 28; vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, Rn. 39).
Nach der Rechtsprechung des EuGHs gibt es lediglich zwei Fälle, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Umsatzsteuerbefreiung nach sich ziehen kann:
Zum einen kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (EuGH-Urteile vom 17.10.2019; C-653/18, Unitel Sp; Rn. 30; vom 08.11.2018, C-495/17, Cartrans Spedition, Rn. 42; und vom 28.03.2019, C275/18, Milan Vin?, Rn. 35).
Zum anderen kann sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt hat, nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen.
Sollte der Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern, müsste ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden (vgl. EuGH-Urteile vom 17.10.2019; C-653/18, Unitel Sp; Rn. 33; vom 08.11.2018, C495/17, Cartrans Spedition, Rn. 41, und vom 28.03.2019, C-275/18, Milan Vin?, Rn. 33).
II. Änderung des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder wird der Umsatzsteuer-Anwendungserlass (UStAE) vom 1. Oktober 2010, BStBl I S. 864, der zuletzt durch das BMF-Schreiben vom 17. Juni 2020 – III C 3 – S-7160-c / 20 / 10001 :001 (2020/0590350), BStBl I S. xxx, geändert worden ist, wie folgt geändert:
1. In Abschnitt 6.5 Abs. 1 werden nach Satz 7 die folgenden Sätze 8 bis 10 angefügt:
„8Kann der Unternehmer den beleg- und buchmäßigen Nachweis nicht, nicht vollständig oder nicht zeitnah führen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nicht erfüllt sind. 9Etwas anderes gilt im Falle der Nichteinhaltung einer formellen Anforderung ausnahmsweise dann, wenn nach objektiven Kriterien zweifelsfrei feststeht, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit der Ausfuhrlieferung vorliegen, insbesondere, wenn objektiv erkennbar feststeht, dass der Gegenstand der Lieferung das Gemeinschaftsgebiet tatsächlich verlassen hat (Grundsatz der Steuerneutralität und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, vgl. EuGH-Urteile vom 17. 10. 2019, C-653/18, Unitel Sp, vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vin?, und vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition). 10Allerdings kann sich der liefernde Unternehmer nicht auf die Grundsätze steuerlicher Neutralität und der Verhältnismäßigkeit berufen, wenn
1. sich der liefernde Unternehmer vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt hat bzw. davon Kenntnis hatte oder nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns hätte haben müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden, zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern (vgl. EuGH-Urteile vom 17. 10. 2019, C-653/18, Unitel Sp, vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vin?) oder
2. der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung erfüllt wurden (vgl. EuGH-Urteile vom 17. 10. 2019, C-653/18, Unitel Sp, vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vin?).“
2. Abschnitt 6.6 Abs. 6 wird wie folgt geändert:
a) Satz 1 wird wie folgt gefasst:
„1Ist der Nachweis der Ausfuhr durch Belege mit einer Bestätigung der Grenzzollstelle oder der Abgangsstelle nicht möglich oder nicht zumutbar, z. B. bei der Ausfuhr von Gegenständen im Reiseverkehr an Flughäfen, an denen die Zollverwaltung nicht im gesamten Transit- bzw. Sicherheitsbereich präsent ist, durch die Kurier- und Poststelle des Auswärtigen Amts oder durch Transportmittel der Bundeswehr oder der Stationierungstruppen, kann der Unternehmer den Ausfuhrnachweis auch durch andere Belege führen.“
b) Nach Satz 6 wird folgender Satz 7 angefügt:
„7Können die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung anhand objektiver Kriterien zweifelsfrei nachgewiesen werden, gebietet es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Steuerbefreiung für die Ausfuhrlieferung zu gewähren ist, selbst wenn der liefernde Unternehmer bestimmten formellen Anforderungen nicht genügen konnte (vgl. EuGH-Urteile vom 17. 10. 2019, C-653/18, Unitel Sp, vom 8. 11. 2018, C-495/17, Cartrans Spedition, und vom 28. 3. 2019, C-275/18, Milan Vin?).“
3. Abschnitt 6.11. Abs. 7 Satz 1 wird wie folgt gefasst:
„1Die Verbringung des Liefergegenstands in das Drittlandsgebiet muss grundsätzlich durch eine Ausfuhrbestätigung der den Ausgang des Gegenstands aus dem Gemeinschaftsgebiet überwachenden Grenzzollstelle eines EU-Mitgliedstaats (Ausgangszollstelle) nachgewiesen werden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStDV, Abschnitt 6.6 Abs. 3).“
4. In Abschnitt 6.11. Abs. 8 wird nach Satz 3 folgender Satz 4 angefügt:
„4Ist der Ausfuhrnachweis durch Belege mit einer Bestätigung der Grenzzollstelle nicht möglich oder nicht zumutbar, kann der Nachweis im begründeten Einzelfall auch durch geeignete Alternativbelege geführt werden (vgl. Abschnitt 6.6 Abs. 6).“
5. Abschnitt 6.11. Abs. 12 Satz 4 wird wie folgt gefasst:
„4Absatz 8 Sätze 2 und 4 sind für Abnehmerbestätigungen entsprechend anzuwenden.“
III. Anwendung
Die Grundsätze dieses Schreibens sind auf alle offenen Fälle anzuwenden.
Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.