FG Baden-Württemberg, Mitteilung vom 26.08.2022 zum Urteil 11 K 1433/20 vom 23.11.2021 (rkr)
- Ermessensfehler hinsichtlich des Erlasses einer Pfändungs- und Einziehungsverfügung kann nur der Vollstreckungsschuldner, nicht aber der Drittschuldner geltend machen. Dementsprechend bedarf es gegenüber dem Drittschuldner keiner Darlegung und Begründung der entsprechenden Ermessenserwägungen.
- Das Vollstreckungsprogramm „Elektronisches Vollstreckungssystem“ (eVS) überlässt dem Sachbearbeiter die Entscheidung über das Vorliegen der Vollstreckungsvoraussetzungen, den Vollstreckungsbeginn sowie die konkrete Vollstreckungsmaßnahme, sodass kein Automatismus vorliegt, der eine Ermessensentscheidung ausschließt.
Sachverhalt
Die Klägerin ist ein Kreditinstitut. Im Jahr 2017 führte das beklagte Hauptzollamt auf Grund entsprechender Vollstreckungsaufträge die Vollstreckung von Beitragsforderungen einer Krankenkasse (Gläubigerin) gegen die A-GmbH (Vollstreckungsschuldnerin) durch. In diesem Zusammenhang erzeugte das Hauptzollamt zwei Pfändungs- und Einziehungsverfügungen über das IT-Verfahren „Elektronisches Vollstreckungssystem“ (eVS), die der Klägerin als Drittschuldnerin zugestellt wurden. Diese enthielten jeweils das Verbot, an den Schuldner zu leisten oder bei einer Verfügung über dessen Ansprüche mitzuwirken, sowie die Aufforderung, innerhalb von zwei Wochen ab Zustellung der Verfügung eine Drittschuldnererklärung abzugeben und sich dabei zu vier gestellten Fragen zu erklären. Im Briefkopf weisen die Verfügungen jeweils den Namen und die Anschrift des Hauptzollamts, den Namen des Bearbeiters, jedoch weder eine Unterschrift noch ein Dienstsiegel auf. Auch eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten diese Ausfertigungen nicht. Sie schließen jeweils mit dem Satz „Dieses Schriftstück ist ohne Unterschrift und ohne Namensangabe gültig“.
Die Sache befindet sich nach Zurückverweisung durch den BFH im zweiten Rechtsgang. Ursprünglich war im Wesentlichen streitig, ob Pfändungs- und Einziehungsverfügungen nach §§ 309 und 314 Abgabenordnung (AO) für ihre Wirksamkeit grundsätzlich der handschriftlichen Unterzeichnung durch einen Amtsträger bedürften. Inzwischen steht im Mittelpunkt des Rechtsstreits die Frage, ob die streitgegenständlichen Pfändungs- und Einziehungsverfügungen wegen Ermessensfehlern rechtswidrig sind und sich die Klägerin hierauf berufen kann. Sie macht geltend, die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien rechtswidrig, da sie formularmäßig ergangen seien, obwohl es sich um Ermessensentscheidungen gehandelt habe und nicht erkennbar sei, dass das Hauptzollamt seinen Ermessensspielraum erkannt habe und von welchen Gesichtspunkten es bei seiner Ermessensentscheidung ausgegangen sei. Das FG wies die Klage ab.
Aus den Gründen
Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der beiden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen.
Schriftform auch bei elektronischer Erzeugung gewahrt
Beide Verfügungen seien mit ihrer Zustellung an die Klägerin wirksam geworden und genügten insbesondere der gesetzlich vorgeschriebenen Schriftform und Inhaltserfordernissen des § 309 Abs. 1 AO. Sie seien zwar mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitungsanlagen erzeugt worden; entscheidend sei jedoch die äußere Form der übermittelten Ausfertigung. Der Klägerin seien die Verfügungen unstreitig nicht in Form von elektronischen Dokumenten i. S. des § 87a Abs. 4 AO übermittelt worden.
Fehlende Unterschrift unschädlich
Zwar würden die Pfändungs- und Einziehungsverfügungen mangels Unterschrift nicht den Formerfordernissen der im maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Durchführung der Vollstreckung nach der AO (Vollstreckungsanweisung – VollstrA – in der bis 14.11.2017 geltenden Fassung, Abschn. 41 Abs. 2 Nr. 7) entsprechen, der zufolge eine Pfändungsverfügung „die Unterschrift eines zuständigen Bediensteten der Vollstreckungsstelle“ enthalten musste. Hierbei handele es sich jedoch um norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, die im gerichtlichen Verfahren keine Bindungswirkung hätten.
Hinreichende Bestimmtheit und Form der Vollstreckungsmaßnahmen
Die beiden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen entsprächen auch den Anforderungen des § 119 AO. Sie seien insbesondere hinreichend bestimmt, ließen die ausstellende Behörde unter Angabe des Sachbearbeiters erkennen und bedürften keiner Unterschrift.
Die der Pfändung unterworfenen Forderungen der Vollstreckungsschuldnerin gegenüber der Drittschuldnerin seien genau bezeichnet. Dass die betroffenen Konten der Vollstreckungsschuldnerin nicht unter Angabe der jeweiligen Kontonummer einzeln benannt werden, sei unschädlich. Auch die Angabe des Schuldgrunds gehöre nach der grundsätzlich auch für die Pfändungsverfügung nach § 309 AO geltenden Bestimmung des § 260 AO nicht zum notwendigen Inhalt der Pfändungsverfügung. Zwar enthalte § 309 Abs. 2 Satz 2 AO eine Spezialregelung für die an den Drittschuldner zuzustellende Ausfertigung der Pfändungsverfügung, wonach diese den beizutreibenden Geldbetrag nur in einer Summe, ohne Angabe der Steuerarten und der Zeiträume, für die er geschuldet wird, bezeichnen soll. Das entspreche dem Interesse des Drittschuldners, für den allein die Höhe der Forderung von Bedeutung sei, und schütze die Privatsphäre des Vollstreckungsschuldners. Dem Anspruch des Vollstreckungsschuldners, seinerseits genau und zweifelsfrei zu erfahren, wegen welcher Zahlungsverpflichtung die Pfändung erfolge, werde i. d. R. dadurch genügt, dass die nach § 260 AO geforderten Angaben in einer der Pfändungsverfügung beigefügten Anlage aufgenommen würden, die allein dem Vollstreckungsschuldner mitgeteilt werde. Die Angabe des Schuldgrundes sei daher in der Ausfertigung für die Klägerin als Drittschuldnerin nicht erforderlich.
Wirksamer Erlass mittels elektronischer Einrichtungen ohne Programmautomatismus
Nach § 119 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 AO sei eine Unterschrift oder die Namenswiedergabe nicht erforderlich für Verwaltungsakte (VA), die formularmäßig oder mit Hilfe elektronischer Einrichtungen erlassen werden. Damit werde eine eigenständige Regelung für das Abgabenrecht getroffen, die der allgemeinen Regelung in § 126 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), wonach die Schriftform eine eigenhändige Unterschrift (oder ein notariell beglaubigtes Handzeichen) enthalten müsse, vorgehe. Beide Pfändungs- und Einziehungsverfügungen seien unter Verwendung des IT-Verfahrens eVS erstellt worden. Dieses diene dabei lediglich als Hilfsmittel; die Entscheidungen über den Beginn der Vollstreckung und die Art der Vollstreckungsmaßnahme habe das Hauptzollamt jeweils durch seinen Sachbearbeiter getroffen.
Das FG habe auf Grund der Vorführung durch die Vertreter des Hauptzollamts festgestellt, dass das IT-Verfahren eVS bei der Bearbeitung von Vollstreckungsfällen, insbesondere auch bei der Erstellung von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen, lediglich als Hilfsmittel diene; es bedürfe schon auf Grund seiner Programmierung bei der Erstellung von Pfändungs- und Einziehungsverfügungen stets entsprechender Entscheidungen des jeweiligen Sachbearbeiters. Einen Automatismus bei der Bearbeitung von Vollstreckungsaufträgen, nach dem z. B. in vorbelegten Konstellationen systembedingt eine bestimmte Vollstreckungsmaßnahme angeordnet werde, sehe das Programm nicht vor.
Kein Begründungsmangel wegen fehlender Ermessenserwägungen
Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Pfändungs- und Einziehungsverfügungen wegen eines Begründungsmangels, insbesondere nicht wegen des Fehlens der Darlegung von Ermessenserwägungen.
Das Hauptzollamt hätte trotz des geringen Umfangs der beizutreibenden Forderungen eine vollumfängliche Pfändung sämtlicher Ansprüche aus der Geschäftsbeziehung des Schuldners mit der Klägerin als Kreditinstitut vornehmen dürfen. Einer besonderen Begründung gegenüber der Klägerin bedürfe es dafür nicht. Die Pfändung erstrecke sich grundsätzlich auf die gesamte Forderung des Pfändungsschuldners gegenüber dem Drittschuldner, nicht etwa nur auf den Teilbetrag, welcher der Forderung der Vollstreckungsbehörde gegen den Pfändungsschuldner entspreche; eine Teilpfändung der Forderung des Pfändungsschuldners sei nur ausnahmsweise geboten und müsse ggf. in der Pfändungsverfügung ausdrücklich ausgesprochen werden. Dies gelte auch, wenn die Pfändungswirkung eine Überpfändung im Sinne des § 281 Abs. 2 AO zur Folge habe. Die Vollstreckungsbehörde kenne nämlich i. d. R. weder die Zahlungsfähigkeit des Drittschuldners noch dessen etwaige Einwendungen.
Klägerin kann sich nicht auf mögliche Ermessensfehler gegenüber dem Vollstreckungsschuldner berufen
Dass die Ermessenserwägungen hinsichtlich der gegenüber dem Vollstreckungsschuldner ausgewählten Vollstreckungsmaßnahme der Klägerin als Drittschuldnerin nicht mitgeteilt werden müssen, ergebe sich schon aus den Regelungen des § 309 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 AO, nach der die gegenüber dem Vollstreckungsschuldner und dem Drittschuldner zuzustellenden Pfändungs- und Einziehungsverfügungen unterschiedlichen Inhalt haben sollen. Nach Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift müssen an Drittschuldner und Vollstreckungsschuldner unterschiedliche Verbote ergehen, nach Abs. 2 Satz 2 soll die Pfändungsverfügung an den Drittschuldner den beizutreibenden Geldbetrag nur in einer Summe und ohne Angabe der Steuerarten und der Zeiträume, für die sie geschuldet wird, bezeichnen. Die Regelung des § 309 Abs. 2 Satz 2 AO diene dem Schutz des Vollstreckungsschuldners, dessen Interesse es sei, dass der Drittschuldner u. a. keine Rückschlüsse auf Einkommen, Umsätze, Umsatzentwicklung, Höhe der Löhne, Vermögen, Konfession, Subventionen usw. ziehen könne.
Datenschutzrechtliches Mitteilungsverbot
Im Übrigen stünden der Mitteilung der Ermessenserwägungen vorliegend zwar nicht das Steuergeheimnis, wohl aber das Sozialdatengeheimnis und der Datenschutz entgegen. Nach § 35 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) I habe jeder Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten (§ 67 Abs. 2 SGB X) von den Leistungsträgern nicht unbefugt verarbeitet werden (Sozialgeheimnis). Der Anspruch richte sich auch gegen die Behörden der Zollverwaltung, soweit sie Aufgaben nach § 66 SGB X durchführen (§ 35 Abs. 1 Satz 4 SGB I). Eine Übermittlung von Sozialdaten sei nach § 67b SGB X in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung vom 9.12.2004 nur zulässig, soweit die nachfolgenden Vorschriften oder eine andere Rechtsvorschrift in diesem Gesetzbuch es erlaubten oder anordneten. Unabhängig davon, auf welcher konkreten rechtlichen Grundlage die Übermittlung der Sozialdaten erfolge, werde die Übermittlung stets davon abhängig gemacht, ob eine Übermittlung zu dem jeweils genannten Zweck erforderlich sei (vgl. §§ 69 und 74a SGB X). Eine Übermittlung entsprechender Daten an die Klägerin als Drittschuldnerin sei aber gerade nicht erforderlich. Entsprechendes gelte für den Datenschutz (§ 25 Bundesdatenschutzgesetz).
Kein Ermessensausfall wegen Verwendung eines IT-Programms
Eine Ermessensausübung durch das Hauptzollamt sei weder im konkreten Fall noch grundsätzlich durch die Verwendung des IT-Programms eVS ausgeschlossen. Zwar sei der Klägerin zuzugeben, dass in den Vollstreckungsakten keine Begründung der getroffenen Entscheidung enthalten sei. Dabei sei allerdings zu beachten, dass die für die Entscheidungsfindung maßgebenden Erwägungen dem Betroffenen grundsätzlich (erst) bis zur letzten Verwaltungsentscheidung mitzuteilen seien. Aus dem Fehlen von Ermessenserwägungen in der Behördenakte könne nicht darauf geschlossen werden, dass kein Ermessen ausgeübt und die Gründe nirgends niedergelegt worden seien.
Durch das IT-Verfahren eVS sei eine Ermessensausübung nicht ausgeschlossen; der jeweilige Bearbeiter müsse vielmehr zwangsläufig Entscheidungen über das Ergreifen von Vollstreckungsmaßnahmen, deren Art und Weise und über ihren Beginn treffen. Das System biete jeweils verschiedene Handlungsmöglichkeiten, aus denen eine Auswahl getroffen werden müsse. Eine Vorbelegung i. S. eines Handlungsvorschlags erfolge dabei nicht. Der jeweilige Bearbeiter sei daher gezwungen, Entscheidungen über das „Ob“, „Wie“ und „Wann“ der Vollstreckung zu treffen. Ein Automatismus sei durch die Programmierung ausgeschlossen.
Die Entscheidung des Hauptzollamts über die ausgewählte Vollstreckungsmaßnahme sei auch nicht als unter keinen Umständen ermessensgerecht anzusehen. Insbesondere sei nach Aktenlage kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ersichtlich. Die Pfändung sei weder von vornherein aussichtslos, noch handele es sich um eine Pfändung „ins Blaue hinein“. Das gelte insbesondere auch im Hinblick darauf, dass es sich bei den zu vollstreckenden Forderungen um Säumniszuschläge und Kosten und nicht um die Hauptforderung handele.
Quelle: FG Baden-Württemberg, Newsletter 2/2022