EU-Recht - 6. Juli 2023

Zur verschuldensunabhängigen Haftung von Fluggesellschaften bei Unfällen an Bord

EuGH, Pressemitteilung vom 06.07.2023 zum Urteil C-510/21 vom 06.07.2023

Unfälle an Bord eines Flugzeugs: Die nach dem Übereinkommen von Montreal vorgesehene verschuldensunabhängige Haftung von Fluggesellschaften erstreckt sich auf eine unzureichende medizinische Erstversorgung an Bord.

Während eines von Austrian Airlines durchgeführten Fluges fiel eine Kanne mit heißem Kaffee von einem Servierwagen und verbrühte einen Reisenden. Er erhielt an Bord des Flugzeugs medizinische Erstversorgung. Der Reisende erhob bei den österreichischen Gerichten Klage gegen Austrian Airlines auf Schadenersatz und auf Feststellung der Haftung für alle künftigen Schäden infolge der Verschlimmerung der Verbrühungen durch die unzureichende medizinische Erstversorgung an Bord.

Austrian Airlines macht geltend, die Klage sei abzuweisen, da sie nach Ablauf der Frist von zwei Jahren erhoben worden sei, die nach dem Übereinkommen von Montreal1 für Schadenersatzklagen betreffend einen Unfall an Bord gelte. Der Reisende vertritt dagegen die Auffassung, das Übereinkommen von Montreal sei nicht anwendbar, da die medizinische Erstversorgung an Bord nicht unter den Begriff „Unfall“ im Sinne dieses Übereinkommens falle. Ihm zufolge ist die im österreichischen Recht vorgesehene Frist von drei Jahren anwendbar und die Klage daher nicht verspätet.

Zwecks Klarstellung, für welche Schäden Austrian Airlines haftbar gemacht werden kann, hat der österreichische Oberste Gerichtshof somit den Gerichtshof gefragt, ob die unzureichende medizinische Erstversorgung eines Reisenden an Bord eines Flugzeugs, die zu einer Verschlimmerung der durch einen „Unfall“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal verursachten Körperverletzung geführt hat, als Teil dieses Unfalls anzusehen ist.

Der Gerichtshof bejaht dies. Er stellt fest, dass ein Schadenseintritt nicht immer auf ein isoliertes Ereignis zurückgeführt werden kann, wenn dieser Schaden sich als Folge eines Bündels von Ereignissen darstellt, die einander gegenseitig bedingen. Somit ist ein innerlich zusammenhängender Vorgang ohne räumlich-zeitliche Zäsur als ein einheitlicher „Unfall“ im Sinne des Übereinkommens von Montreal anzusehen.

Im vorliegenden Fall besteht in Anbetracht der räumlichen und zeitlichen Kontinuität zwischen dem Umfallen der Kaffeekanne und der medizinischen Erstversorgung des dadurch verletzten Reisenden unbestreitbar ein Kausalzusammenhang zwischen diesem Umfallen und der Verschlimmerung der dadurch verursachten Körperverletzung aufgrund der unzureichenden medizinischen Erstversorgung.

Diese Auslegung steht zudem im Einklang mit den Zielen des Übereinkommens von Montreal, das eine Regelung der verschuldensunabhängigen Haftung von Fluggesellschaften vorsieht, um den Schutz der Verbraucherinteressen sicherzustellen und zugleich auf einen gerechten Ausgleich mit den Interessen der Fluggesellschaften zu achten. Der Umstand, dass die Fluggesellschaft gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen hat, vermag diese Feststellungen nicht in Frage zu stellen: Für die Einstufung als „Unfall“ genügt es, dass sich das Geschehen, durch das die Körperverletzung eines Reisenden verursacht wurde, an Bord ereignet hat.

Fußnote

1Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde (ABl. 2001, L 194, S. 38).

Quelle: EuGH