Prozesskostenhilfe - 19. Januar 2024

Teilweise erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer Umweltaktivistin gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe

BVerfG, Pressemitteilung vom 19.01.2024 zum Beschluss 1 BvR 687/22 vom 30.10.2023

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde einer Umweltaktivistin teilweise stattgegeben, die sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für einen Verwaltungsrechtsstreit richtet.

Die Beschwerdeführerin, die in der Vergangenheit an zahlreichen Umweltprotestaktionen teilgenommen hatte, fuhr am 3. Dezember 2020 in einem ICE der Deutschen Bahn. Zur gleichen Zeit fanden Proteste gegen die Rodung des Dannenröder Forstes in Hessen statt. In dem Zug, der sich vom Rodungsort wegbewegte, sprachen Bundespolizeibeamte die Beschwerdeführerin während eines Halts an einem etwa 80 Kilometer nördlich des Dannenröder Forstes gelegenen Hauptbahnhof an, stellten ihre Personalien fest, führten eine Durchsuchung durch und stellten mitgeführte Kletterutensilien sicher. Gegen einen Teil dieser Polizeimaßnahmen erhob die Beschwerdeführerin Fortsetzungsfeststellungsklage zum Verwaltungsgericht und beantragte zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Das Verwaltungsgericht lehnte den Prozesskostenhilfeantrag ab. Der Verwaltungsgerichtshof wies die dagegen erhobene Beschwerde wegen fehlender Erfolgsaussichten der Klage zurück.

Bezogen auf den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs ist die Verfassungsbeschwerde teilweise zulässig und begründet; im Übrigen ist sie unzulässig. Der Verwaltungsgerichtshof hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verletzt, indem er die Anforderungen an die im Prozesskostenhilfeverfahren zu prüfenden Erfolgsaussichten der Klage überspannt hat.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin ist eine bekannte Umweltaktivistin, die seit vielen Jahren Proteste durchführt, insbesondere sog. Kletteraktionen. Am 3. Dezember 2020 fuhr sie mit einem ICE der Deutschen Bahn. In dem Zug, der sich vom Rodungsort wegbewegte, wurde sie während eines Halts an einem etwa 80 Kilometer nördlich des Dannenröder Forstes gelegenen Hauptbahnhof als einzige Person im ICE von Bundespolizeibeamten angesprochen. Diese stellten ihre Personalien fest, führten eine Durchsuchung durch und stellten mitgeführte Kletterutensilien sicher.

Gegen einen Teil der Polizeimaßnahmen erhob die Beschwerdeführerin Fortsetzungsfeststellungsklage zum Verwaltungsgericht Frankfurt am Main. Mit der Klageerhebung beantragte sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Mit angegriffenem Beschluss vom 26. Mai 2021 lehnte das Verwaltungsgericht den Prozesskostenhilfeantrag ab. Da das notwendige Fortsetzungsfeststellungsinteresse fehle, habe die Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof mit angegriffenem Beschluss vom 2. November 2021 wegen mangelnder Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung zurück. Der Verwaltungsgerichtshof hielt die Klage für unbegründet, weil die Polizeimaßnahmen rechtmäßig gewesen seien. Der für die Identitätsfeststellung erforderliche Gefahrenverdacht habe schon deshalb vorgelegen, weil aufgrund polizeilicher Erkenntnisse zu befürchten gewesen sei, dass sich die Beschwerdeführerin den Baumbesetzungen im Dannenröder Forst anschließe. Ihr Rucksack habe durchsucht werden dürfen, da aufgrund polizeilicher Erkenntnisse zu befürchten gewesen sei, dass die Beschwerdeführerin darin Kletterutensilien mit sich führe, die im Zusammenhang mit der Rodung des Dannenröder Forstes zur möglichen Begehung von Ordnungswidrigkeiten oder gar Straftaten geeignet gewesen seien. Welche polizeilichen Erkenntnisse der Gefahrenprognose zugrunde lagen und woher sie rührten, führte der Verwaltungsgerichtshof jeweils nicht aus.

Wesentliche Erwägungen der Kammer

Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie sich gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs richtet und eine Verletzung des Anspruchs auf Rechtsschutzgleichheit gerügt wird, zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Im Übrigen ist sie unzulässig.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Beschluss vom 2. November 2021 die aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG folgenden Anforderungen an die im Prozesskostenhilfeverfahren zu prüfenden Erfolgsaussichten der Klage überspannt.

Die Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften über die Prozesskostenhilfe obliegt in erster Linie den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn deren Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der verfassungsrechtlich verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen. Die Fachgerichte überschreiten den Entscheidungsspielraum bei der Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals der „hinreichenden Erfolgsaussicht“ erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, der den Zugang zum Recht unverhältnismäßig erschwert.

Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs genügt diesen aus der Rechtsschutzgleichheit folgenden Anforderungen nicht. Ungeachtet der mit dem Fortsetzungsfeststellungsinteresse und der Gefahrenannahme verbundenen tatsächlichen und grundrechtlichen Fragen hat der Verwaltungsgerichtshof schon im Rahmen der summarischen Prüfung des Prozesskostenhilfeverfahrens die Erfolgsaussicht der Klage von vornherein verneint. Insbesondere hat er die Versagung der Prozesskostenhilfe – durch den Verzicht auf eine dem Klageverfahren vorbehaltene Beweiserhebung – auf einer unzureichenden tatsächlichen Grundlage getroffen, zumal die Beschwerdeführerin dem Dannenröder Forst nähergelegene Haltestellen bereits passiert hatte. Welche polizeilichen Erkenntnisse dennoch die Annahme einer Gefahr beziehungsweise eines Gefahrenverdachts in der konkreten Situation haben begründen sollen, bleibt unklar. Die augenscheinliche Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, dass die Eigenschaft als polizeibekannte Aktivistin für eine jederzeitige Durchsuchung an Verkehrsknotenpunkten im Bundesgebiet ausreiche, wäre jedenfalls einer vertieften Erörterung im Hauptsacheverfahren vorbehalten gewesen. Stützt sich die Polizei für die Vornahme von Grundrechtseingriffen auf gespeicherte Daten aus ihren Datenbeständen, dürfen die Gerichte die Rechtmäßigkeit dieser Speicherung und Verwendung nicht ohne Weiteres unterstellen. Sind – wie hier – Vorkenntnisse die Grundlage für ein gezieltes Herausgreifen einer Person, kann von dieser Rechtmäßigkeitsprüfung grundsätzlich nicht abgesehen werden.

Quelle: Bundesverfassungsgericht