EU-Recht - 14. Juli 2022

Professor der Rechtswissenschaften darf seine eigene Hochschule vor EuG und EuGH vertreten

EuGH, Pressemitteilung vom 14.07.2022 zum Urteil C-110/21 vom 14.07.2022

Ein Professor der Rechtswissenschaften darf seine eigene Hochschule vor dem Gericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union vertreten.

Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn er Koordinator und Teamleiter des streitgegenständlichen Projekts ist Die Universität Bremen (Deutschland) ist Koordinatorin eines Forschungskonsortiums, das mehrere europäische Universitäten umfasst und rechtsvergleichende interdisziplinäre Forschung im Bereich des Wohnungsrechts und der Wohnungspolitik in der gesamten Union betreibt.

Um eine Finanzierung der Union für diese Forschung zu erhalten, reichte die Universität Bremen bei der Europäischen Exekutivagentur für die Forschung (REA) einen Projektvorschlag ein. Gegen die Ablehnung dieses Vorschlags erhob die Universität Klage beim Gericht der Europäischen Union.

Das Gericht wies die Klage als offensichtlich unzulässig ab. Die Klageschrift sei nämlich von einem Hochschullehrer unterzeichnet worden, der an der Universität Bremen nicht nur lehre, sondern auch zum Koordinator und Teamleiter des vorgeschlagenen Projekts bestimmt sei. Daher sei die Voraussetzung der anwaltlichen Unabhängigkeit, die auch für Hochschullehrer gelte, die Einzelne vor den Unionsgerichten vertreten dürften, nicht erfüllt.

Auf das Rechtsmittel der Universität hin hebt der Gerichtshof den Unzulässigkeitsbeschluss des Gerichts mit seinem Urteil vom 14.07.2022 auf.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass sich der Begriff der anwaltlichen „Unabhängigkeit“ im Bereich der Vertretung vor den Unionsgerichten in jüngerer Zeit weiterentwickelt hat und dass das insoweit vorherrschende Kriterium nunmehr darin besteht, die Interessen des Mandanten zu schützen und zu verteidigen1.

Entsprechend dem Ziel dieser Vertretungsaufgabe müssen Hochschullehrer dieselben Unabhängigkeitskriterien erfüllen wie Anwälte, so der Gerichtshof.

Diese Kriterien sind sowohl negativ zu definieren, d. h. durch das Fehlen eines Beschäftigungsverhältnisses zwischen dem Anwalt und seinem Mandanten, als auch positiv, d. h. unter Bezugnahme auf die berufsständischen Pflichten, was u. a. bedeutet, dass es keine Verbindung geben darf, die den Anwalt offensichtlich darin beeinträchtigt, seinen Mandanten unter Beachtung des Gesetzes sowie der Berufsregeln durch den bestmöglichen Schutz seiner Interessen zu verteidigen.

Hierzu stellt der Gerichtshof fest, dass eine vertragliche Verbindung oder ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis zwischen einem Hochschullehrer und der von ihm vertretenen Universität unzureichend ist, um anzunehmen, dass sich der Hochschullehrer in einer Situation befindet, in der er die Interessen dieser Universität nicht verteidigen kann.

Anders als ein Syndikusanwalt ist der betreffende Hochschullehrer nämlich mit der Universität, die er vertritt, durch ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis verbunden. Durch diese Rechtsstellung ist er – entsprechend den Voraussetzungen und den Vorschriften des nationalen Rechts – nicht nur als Lehrkraft und Forschender, sondern auch als Vertreter von Einzelnen vor den Unionsgerichten unabhängig. Da außerdem die Vertretung vor Gericht nicht zu den Aufgaben gehört, die dieser Hochschullehrer an der Universität als Lehrkraft oder Forschender wahrnimmt, hängt diese Vertretung in keiner Weise mit seiner universitären Tätigkeit zusammen und ist daher nicht weisungsgebunden, auch wenn es sich bei der vertretenen Partei um die betreffende Universität
handeln sollte.

Durch die von dem betreffenden Hochschullehrer im Rahmen des streitgegenständlichen Projekts wahrgenommenen Aufgaben haben dieser und die Universität Bremen zwar, wie der Gerichtshof feststellt, gemeinsame Interessen. Diese Interessen führen jedoch nicht dazu, dass der Hochschullehrer die ihm übertragene Vertretung nicht ordnungsgemäß wahrnehmen könnte.

Da im Übrigen kein Gesichtspunkt vorgebracht wurde, aus dem zu schließen wäre, dass diese Interessen der Prozessvertretung der Universität Bremen durch den Hochschullehrer entgegengestanden hätten, hat das Gericht die Klage zu Unrecht aus dem Grund für unzulässig erklärt, dass die Universität nicht ordnungsgemäß vertreten sei.

Damit verweist der Gerichtshof die Sache zur Entscheidung über die von der Universität Bremen erhobene Klage an das Gericht zurück.

Fußnote

1 Vgl. insbesondere Urteil vom 4. Februar 2020, Uniwersytet Wrocławski und Polen/REA, C-515/17 P und C 561/17 P (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 11/20). In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass eine bloße zivilrechtliche vertragliche Verbindung zwischen einem Anwalt und der von ihm vertretenen Universität nicht für die Annahme genügt, dass sich der Anwalt in einer Situation befindet, die seine Fähigkeit, die Interessen seines Mandanten unter Wahrung der Unabhängigkeitsvoraussetzung zu vertreten, offensichtlich beeinträchtigt.

Quelle: EuGH