EuGH, Pressemitteilung vom 17.09.2020 zum Urteil C-212/19 vom 17.09.2020
Der Gerichtshof, der mit einer Auslegungsfrage in Bezug auf die Modalitäten der Durchführung einer Entscheidung der Kommission befasst war, mit der Frankreich für eine mit dem Gemeinsamen Markt für unvereinbar erklärte staatliche Beihilfe sanktioniert wurde, stellt die Ungültigkeit dieser Entscheidung fest.
Der Kommission ist ein Rechtsfehler unterlaufen, indem sie festgestellt hat, dass die Ermäßigung der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten den Fischereiunternehmen einen unmittelbaren Vorteil verschaffe.
Infolge zum einen der durch die Havarie des Schiffes Erika am 12. Dezember 1999 im Golf von Gascogne verursachten Ölverschmutzung und zum anderen der erheblichen Schäden, die in der südlichen Hälfte Frankreichs durch den starken Sturm am 27. und 28. Dezember 1999 verursacht worden waren, erließ Frankreich eine Regelung zur Entschädigung der Fischerei- und Aquakulturunternehmen für die ihnen durch diese Ereignisse entstandenen Schäden.
Mit zwei Runderlassen vom 15. April und vom 13. Juli 2000 erließ die Französische Republik mehrere ergänzende Maßnahmen, mit denen u. a. allen Fischereiunternehmen eine Ermäßigung von 50 % der Sozialabgaben für den Zeitraum vom 15. April bis 15. Oktober 2000 gewährt wurde. Diese Ermäßigungen betrafen die Abgaben der Unternehmer und die Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten und galten für alle Fischereiunternehmen auf dem französischen Festland und in den überseeischen Departements. Mit Entscheidung vom 14. Juli 20041 stellte die Kommission fest, dass es sich bei einem Teil dieser Maßnahmen, nämlich insbesondere den Ermäßigungen der Sozialabgaben zugunsten der Fischereiunternehmen, um mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfen handele, und ordnete die sofortige Rückforderung der diesen Ermäßigungen entsprechenden Beträge an. Weder Frankreich noch einer der Begünstigten der betreffenden Maßnahmen haben die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung mit einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV in Frage gestellt.
Da Frankreich diese Entscheidung nicht durchführte, erhob die Kommission beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage, die zum Urteil Kommission/Frankreich (C-549/09) führte, das am 20. Oktober 2011 erging. Im Anschluss an dieses Urteil, mit dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Frankreich gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat, forderte die Kommission Frankreich auf, das Verfahren zur Rückforderung der betreffenden Beihilfen einzuleiten, um über die den Arbeitgeberabgaben entsprechenden Beträge hinaus auch die den Ermäßigungen der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten entsprechenden Beträge zurückzufordern.
Aufgrund dieses Antrags wurde gegen die Compagnie des pêches de Saint-Malo eine Einziehungsanordnung über einen Betrag erlassen, der der Ermäßigung der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten entsprach, die dieser Gesellschaft zwischen dem 15. April und dem 15. Oktober 2000 zugutegekommen sein sollen. Die Einziehungsanordnung wurde von der Gesellschaft vor den nationalen Gerichten angefochten. 1 Die Entscheidung 2005/239/EG der Kommission vom 14. Juli 2004 über Beihilfemaßnahmen, die Frankreich zugunsten der Aquakultur- und Fischereiunternehmen durchgeführt hat (ABl. 2005, L 74, S. 49).
Im Hinblick darauf, dass die Frist für eine Anfechtung der Gültigkeit der streitigen Entscheidung abgelaufen war, befasste der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) den Gerichtshof mit einem auf eine Auslegung gerichteten Vorabentscheidungsersuchen, um klären zu lassen, ob der von der Kommission in ihrer Entscheidung gebrauchte Begriff der Sozialabgaben sowohl die Abgaben der Unternehmer als auch die Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten umfasst und ob Frankreich folglich verpflichtet ist, von den betreffenden Beschäftigten die Rückzahlung des Anteils der Beihilfe zu fordern, der ihnen durch die Ermäßigung der Abzüge von ihrem Gehalt zugutegekommen ist. Insoweit stellt das vorlegende Gericht klar, dass nach den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften die Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten nicht von den Fischereiunternehmen getragen würden, sondern nur von diesen vom Lohn ihrer Beschäftigten auf jeder Gehaltsabrechnung abgezogen würden. Daher seien diese Beschäftigten die unmittelbar von diesen Ermäßigungen der Abzüge von ihrem Gehalt Begünstigten gewesen, da sie im Zeitraum vom 15. April bis 15. Oktober 2000 einen um den den Beitragsermäßigungen entsprechenden Betrag erhöhten Nettolohn erhalten hätten.
In seinem heutigen Urteil hebt der Gerichtshof zunächst hervor, dass die Vorabentscheidungsfragen zwar formal auf die Auslegung der streitigen Entscheidung gerichtet sind, die erste dieser Fragen aber implizit eine Frage nach der Beurteilung der Gültigkeit dieser Entscheidung aufwirft, da der französische Conseil d’État damit den Gerichtshof zur Beurteilung der Ermäßigungen der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV befragt, die die Kommission in der streitigen Entscheidung vorgenommen hat. Im Hinblick zum einen auf die vom vorlegenden Gericht zum Ausdruck gebrachten Zweifel an der Gültigkeit der streitigen Entscheidung und zum anderen auf die Tatsache, dass die Compagnie des pêches de Saint-Malo die Gültigkeit dieser Entscheidung im Rechtsstreit vor den nationalen Gerichten in Abrede gestellt hatte, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass auch die Gültigkeit dieser Entscheidung zu prüfen ist, um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben.
Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass diese Frage nach der Gültigkeit der streitigen Entscheidung nicht von Amts wegen aufgeworfen werden kann, wenn die Compagnie des pêches de Saint-Malo ohne jeden Zweifel befugt gewesen wäre, gemäß Art. 263 AEUV die Nichtigerklärung dieser Entscheidung zu beantragen. Dies ist nach Auffassung des Gerichtshofs nicht der Fall, weil zu dem Zeitpunkt, zu dem diese Gesellschaft die streitige Entscheidung mit einer Nichtigkeitsklage hätte anfechten können, nicht sicher war, dass sie ein Rechtsschutzinteresse an einer Klage gegen den die Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten betreffenden Teil dieser Entscheidung hatte. Da diese Beiträge nämlich nicht von den Fischereiunternehmen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber getragen wurden, sondern von den Beschäftigten, und da zudem die Compagnie des pêches de Saint-Malo erst nach der Verkündung des Urteils vom 20. Oktober 2011 darüber informiert wurde, dass die von der Kommission erlassene Rückforderungsanordnung auch die Ermäßigungen der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten betraf, durfte sie vor dem Ablauf der ihr durch Art. 263 AEUV gesetzten Klagefrist davon ausgehen, dass sie kein Rechtsschutzinteresse für eine Klage gegen die streitige Entscheidung hatte, um der Rückforderung dieser Beträge entgegenzutreten.
Der Gerichtshof prüft deshalb die Gültigkeit der streitigen Entscheidung, soweit sie die in Rede stehende Ermäßigung der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfe einstuft.
Der Gerichtshof erinnert zunächst daran, dass die Einstufung einer Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ nach ständiger Rechtsprechung u. a. die Feststellung eines dem Empfängerunternehmen durch sie verschafften Vorteils voraussetzt, und führt dann aus, dass die Fischereiunternehmen im vorliegenden Fall bloß die Funktion eines Mittlers zwischen ihren Arbeitnehmern und den Sozialversicherungsträgern erfüllen, an die sie die vom Gehalt ihrer Beschäftigten abgezogenen Beiträge abführen. Da die Maßnahme der Ermäßigung der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten diesen Unternehmen gegenüber neutral bleibt, betrifft diese Maßnahme nach Auffassung des Gerichtshofs nicht die von ihnen zu tragenden Lasten. Der Gerichtshof stellt darüber hinaus klar, dass die Pflicht zur Abführung der den Arbeitnehmerabgaben entsprechenden Beträge an die zuständigen Träger für sich genommen nicht den Schluss zulässt, dass die Ermäßigung dieser Abgaben dem betroffenen Unternehmen einen unmittelbaren Vorteil verschaffen würde, der dieser Ermäßigung entspricht.
Indem die Kommission festgestellt hat, dass die Ermäßigung von Sozialabgaben in ihrer Gesamtheit Maßnahmen darstellten, die den Fischereiunternehmen einen Vorteil verschafften, da ihnen bestimmte Kosten erlassen worden seien, die sie normalerweise hätten tragen müssen, ist ihr somit ein Rechtsfehler unterlaufen.
Dieser Fehler genügt nach Auffassung des Gerichtshofs für die Feststellung der Ungültigkeit der streitigen Entscheidung, soweit sie die Ermäßigung der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfe einstuft, obwohl es an der für diese Einstufung unerlässlichen Voraussetzung eines einem Unternehmen verschafften Vorteils fehlt.
Die Entscheidung der Kommission wird daher für ungültig erklärt, soweit sie die Ermäßigung der Gehaltsabzüge bei den Beschäftigten, die Frankreich für den Zeitraum vom 15. April bis 15. Oktober 2000 zugunsten der Fischereiunternehmen gewährt hat, als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfe einstuft.
Fußnoten
1 Die Entscheidung 2005/239/EG der Kommission vom 14. Juli 2004 über Beihilfemaßnahmen, die Frankreich zugunsten
der Aquakultur- und Fischereiunternehmen durchgeführt hat (ABl. 2005, L 74, S. 49)
Quelle: EuGH