EU-Recht - 22. Februar 2024

EuGH zur Berücksichtigung von Erziehungszeiten bei Berechnung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung

EuGH, Pressemitteilung vom 22.02.2024 zum Urteil C-283/21 vom 22.02.2024

Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Erziehungszeiten bei der Berechnung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung

Das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit kann dazu führen, dass in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Erziehungszeiten bei der Berechnung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu berücksichtigen sind.

Eine deutsche Staatsangehörige, die in den Niederlanden gelebt hatte und wieder in Deutschland lebt, erhält dort eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Sie wendet sich vor den deutschen Gerichten dagegen, dass die Erziehungszeiten, die sie für ihre beiden Kinder in den Niederlanden zurückgelegt hatte, bei der Berechnung dieser Rente nicht berücksichtigt wurden.

Das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob diese Nichtberücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Erziehungszeiten mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Betroffene die in den europäischen Rechtsvorschriften über die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit1 aufgestellten Voraussetzungen für die Berücksichtigung dieser Zeiten nicht erfüllt. Sie hat nämlich weder vor noch zu dem Zeitpunkt, zu dem sie mit der Erziehung ihrer Kinder begonnen hat, in Deutschland eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt. Dagegen hat sie dort sowohl vor als auch nach diesen Zeiten Versicherungszeiten für Ausbildungs- oder Beschäftigungszeiten zurückgelegt.

Des Weiteren weist der Gerichtshof darauf hin, dass Deutschland derjenige Mitgliedstaat ist, der für die Gewährung der fraglichen Rente ausschließlich zuständig ist. Die Betroffene hat in den Niederlanden nämlich keinen Anspruch auf eine solche Rente, da sie dort nie gearbeitet hat. Damit können die streitigen Zeiten dort nicht berücksichtigt werden.

Bei einer solchen Sachlage2 ergibt sich aus dem Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der
Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten3, dass der für die Rente wegen voller Erwerbsminderung leistungspflichtige Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Deutschland) die Erziehungszeiten zu berücksichtigen hat, die in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall den Niederlanden) zurückgelegt wurden.

Bei der in Rede stehenden Sachlage besteht nämlich eine hinreichende Verbindung zwischen den Erziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die die Betroffene aufgrund einer Berufstätigkeit im für die Rente leistungspflichtigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat. Dass sie in diesem Mitgliedstaat während bestimmter Zeiten, die nach seinem nationalen Recht Versicherungszeiten gleichgestellt sind, keine Beiträge entrichtet hat, insbesondere weder vor noch unmittelbar nach den Erziehungszeiten, lässt das Bestehen einer solchen Verbindung nicht entfallen.

Fußnoten

1 Konkret: Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass dieser Artikel die Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Ausland nicht abschließend regelt.
2 Für den vorliegenden Fall hat das deutsche Gericht zu überprüfen, ob diese Sachlage tatsächlich dargetan wurde.
3 Garantiert durch Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

Quelle: EuGH