OVG Nordrhein-Westfalen, Pressemitteilung vom 10.10.2023 zum Urteil 12 A 1659/21 vom 25.09.2023
Ein aus Syrien stammender Flüchtling, der in seinem Heimatland acht Semester lang islamische Rechtswissenschaften studiert und nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ein Studium der „Sozialen Arbeit“ aufgenommen hat, kann dafür Ausbildungsförderung beanspruchen. Das hat das Oberverwaltungsgericht NRW durch – den Beteiligten am 10.10.2023 bekanntgegebenes – Urteil vom 25.09.2023 entschieden und damit das vorangegangene Urteil des Verwaltungsgerichts Münster geändert.
Das im Jahre 2011 aufgenommene rechtswissenschaftliche Studium des Klägers an einer Hochschule in Damaskus endete ohne Abschluss mit seiner bürgerkriegsbedingten Flucht im Jahre 2015. In Deutschland wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach erfolgreichem Absolvieren von Deutschkursen nahm er im Jahre 2018 das Studium der „Sozialen Arbeit“ an einer Fachhochschule in Münster auf. Das Studierendenwerk lehnte seinen Antrag auf Ausbildungsförderung mit der Begründung ab, wegen seines mehrjährigen, nicht abgeschlossenen Studiums in Syrien komme eine Förderung der nunmehr begonnenen anderen Ausbildung nur bei Vorliegen eines unabweisbaren Grundes für den Fachrichtungswechsel in Betracht. An einem solchen Grund fehle es. Der Kläger müsse sich an seiner im Heimatland getroffenen Ausbildungswahl festhalten lassen, da ein rechtswissenschaftliches Studium auch in Deutschland angeboten werde. Das Verwaltungsgericht wies die gegen die Antragsablehnung gerichtete Klage ab. Die Berufung des Klägers hatte Erfolg.
Zur Begründung seines Urteils hat der 12. Senat im Wesentlichen ausgeführt:
Das nicht zum Abschluss gebrachte Studium der Rechtswissenschaften in Syrien ist förderungsrechtlich als Erstausbildung des Klägers zu berücksichtigen. Mit der späteren Aufnahme des Studiums der Sozialen Arbeit in Deutschland hat der Kläger einen Fachrichtungswechsel vollzogen. Dass er seine im Heimatland begonnene Hochschulausbildung fluchtbedingt endgültig aufgegeben hat, ist nicht erkennbar. Der Fachrichtungswechsel des Klägers beruhte auch auf einem für die Förderfähigkeit der anderen Ausbildung notwendigen unabweisbaren Grund. Ein solcher Grund erfordert Umstände, welche die Wahl zwischen der Fortsetzung der bisherigen Ausbildung und dem Überwechseln in eine andere Fachrichtung nicht zulassen. Im Fall des Klägers war ein Wechsel der Fachrichtung bei Fortführung der Hochschulausbildung in Deutschland unausweichlich. Das gilt vor allem auch mit Blick auf die unterstellte Möglichkeit der Aufnahme eines Jurastudiums in Deutschland. Von einer „Fortsetzung der bisherigen Ausbildung“ im vorgenannten Sinne kann nur die Rede sein, wenn die fortgeführte Ausbildung derselben Fachrichtung zuzuordnen ist wie die bisher/vormals betriebene Ausbildung. Ein Studium der Rechtswissenschaften an einer deutschen Universität fiele aber offensichtlich in eine andere Fachrichtung als die rechtswissenschaftliche Ausbildung, welche der Kläger an der Hochschule in Syrien betrieben hat. Die diametrale Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme und -ordnungen beider Länder bildet sich auch in den jeweiligen rechtswissenschaftlichen Studiengängen ab. Allein daraus, dass die Studiengänge abstrakt dem gleichen Wissenschaftsgebiet zuzuordnen sind und nach erfolgreichem Abschluss eine Tätigkeit wohl in gleichen juristischen Berufsfeldern – einerseits in Syrien, andererseits in Deutschland – ermöglichen, folgt nicht, dass ein in Syrien betriebenes Studium der Rechtswissenschaften in Deutschland „fortgeführt“ werden könnte. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Studierende mit (weit) vorangeschrittenem Ausbildungsstand sich förderungsunschädlich nur unter den engen Voraussetzungen des „unabweisbaren Grundes“ von seinem ursprünglichen Ausbildungsziel lösen und einer anderen Ausbildung zuwenden können. Allerdings beruht diese Vorstellung auf der Annahme, dass die begonnene Ausbildung auch tatsächlich in der Weise fortgeführt werden kann, dass sie auf bereits vermittelten Ausbildungsinhalten aufbaut und einen dementsprechend zeitgerechten Abschluss erwarten lässt. Daran fehlt es, wenn die angebotene Ausbildung – wie hier der Studiengang der Rechtswissenschaften an einer deutschen Universität – lediglich eine gleiche (oder ähnliche) Bezeichnung trägt und zu einer allenfalls „artverwandten“ Qualifikation führt wie die Erstausbildung, sich aber inhaltlich vollkommen von dieser unterscheidet und folglich keinerlei Anrechnung bereits erbrachter Studienleistungen ermöglicht. Als anerkannter Flüchtling ist der Kläger auch nicht darauf zu verweisen, das in seinem Heimatland aufgenommene Studium der islamischen Rechtswissenschaften dort zum Abschluss zu bringen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Quelle: OVG Nordrhein-Westfalen