Agilität gilt oft als Wunderwaffe, wenn es darum geht, Unternehmen moderner aufzustellen. Andererseits ist oft die Rede davon, Prozesse fest zu definieren, um sie optimieren zu können. Auf den ersten Blick erscheint das wie ein Widerspruch zwischen Flexibilität und Standardisierung – ob dem so ist, hat Albert Schlotter, Fachberater für agiles Coaching bei DATEV, im…

Herr Schlotter, Agilität ist fast wie Digitalisierung in aller Munde. Ist das die neue Wunderwaffe?

So allgemein würde ich es nicht sehen – um einzuordnen, ob agile Methoden zu vorliegendem Problem passen, hilft mir die Stacey-Matrix. Das ist eine Unterteilung von Problembereichen in vier Kategorien – ich habe beispielsweise entweder einfache Probleme zu lösen, komplizierte, komplexe oder chaotische. Und je nachdem eignen sich dann bestimmte Methoden besser als andere.

Agile Methoden und Praktiken passen bevorzugt, wenn das Umfeld komplex ist und man wenig vorhersagen und planen kann. Das ist bei Neuentwicklungen so oder, wenn man mit einer hohen Marktdynamik konfrontiert ist. Wenn das Umfeld dagegen eher kompliziert oder einfach ist – im Sinne von berechenbar und planbar – dann bringen agile Methoden nicht unbedingt Vorteile.

Was macht Agilität denn aus?

Agilität ist für mich iteratives und inkrementelles Vorgehen – ein Team nähert sich schrittweise der Lösung und stellt dabei immer wieder die Frage, ob es auf dem richtigen Weg ist – und passt dann auch gegebenenfalls an. Es geht weniger darum eine 100-Prozent-Lösung fertig zu machen, sondern um die Fähigkeit schnell auf Veränderungen zu reagieren. Ein wesentliches Element ist das Timeboxing, fixe und radikal kurz definierte Zeitscheiben. Innerhalb derer versucht man, direkt ein wertlieferndes Ergebnis zu kreieren. Am Ende einer Zeitscheibe folgt immer wieder Feedback von dem, für den das Ergebnis gemacht ist – das Prinzip ist also sehr kundenorientiert. Betriebswirtschaftlich gesehen, ist das nichts anderes als eine Risikominimierung.

Einhergehend damit ist der Gedanke, dass ich auch Entscheidungen treffen können muss, wenn ich ein wertvolles Ergebnis liefern will – und dazu brauche ich auch die Entscheidungskompetenz. So ist Agilität auch immer verbunden mit einem hohen Grad an Selbstorganisation der Teams und der Dezentralisierung von Entscheidungen an den Punkt, an dem der Kontakt mit den Kunden besteht.

Widersprechen sich also das klassische Prozessmanagement und Agilität?

Dazu eine kurze Begriffsklärung: Unter richtig klassischem Prozessmanagement verstehe ich Taylorismus, also das Trennen von Denken und Handeln. Derjenige der plant, führt nicht aus und andersrum. Klar dagegen stehen Ansätze aus der Lean-Welt, bei denen man sich zusammensetzt und gemeinsam visualisiert, überlegt und verbessert – es geht um das ganzheitliche kontinuierliche Hinterfragen und Verbessern in kleinen Schritten. Durch die Visualisierung entsteht Transparenz in der Wertschöpfung, die dann aufzeigt, wo es Verbesserungspotenzial gibt. Auch bei agilen Ansätzen geht es viel um Transparenz und Anpassen mit Hilfe von Feedbackschleifen.

Ich sehe also keinen Widerspruch zwischen lean und agil. Für mich zählt eher die Passgenauigkeit des Einsatzes von Methoden. Die Trennung liegt vielmehr zwischen Taylorismus und Ansätzen aus der agilen oder Lean-Welt.

Wo liegen die Gemeinsamkeiten zwischen lean und agil?

Das Bindeglied ist der KVP, der kontinuierliche Verbesserungsprozess – das ist in beiden Welten tief eingebrannt. Eigentlich ist das ein Kernelement von Lean, aber auch bei der Retrospektive aus dem agilen Umfeld geht es letztendlich darum sich zu fragen: passt das oder können wir das besser machen? Bei beiden Welten ist das regelmäßige Hinterfragen das zentrale Element.

Im Lean-Umfeld ist dabei ist das Wichtigste, dass diejenigen die Entscheidungskompetenz haben, die auch tatsächlich die Prozesse ausführen und an die Wertschöpfung anpassen können. Das ist dem hohen Grad der Selbstorganisation bei Agilität ähnlich. Voraussetzung für beides ist also ein modernes Führungsverständnis. Ich möchte nicht so viele Buzzwords abbrennen, aber bei einem modernen Führungsverständnis geht es um Empowerment, also die Ermächtigung der Mitarbeiter. Entscheider, die daran arbeiten, immer weniger Entscheidungen selbst treffen zu müssen. Dieser Gedanke hilft ganz stark, dass Teams selbst Verantwortung übernehmen.

Und welche Methode eignet sich nun für welches Szenario?

Letztendlich kann man es trennen in standardisierte oder repetitive Prozesse, hier passt Lean immer gut. Wenn es um neue Ideen geht, ist man eher im agilen Umfeld gut aufgehoben. Es geht um die Passgenauigkeit zum Kontext: je komplexer, dynamischer und neuartiger die Probleme und Aufgaben sind, desto eher eignen sich kurze Zeitscheiben sowie schnelles und regelmäßiges Feedback, um zu prüfen, ob meine Lösung noch zum Problem passt. So ergibt sich auch einfach die Chance, schneller als andere einen „problem solution fit“ zu finden, also eine Lösung für ein relevantes Problem.

Dem Lean-Ansatz liegt eher das systemische Denken zu Grunde, es wird also immer das ganze System, die ganze Wertschöpfungskette betrachtet – nie nur Ausschnitte, sondern immer Ende-zu-Ende. Agil optimiert dagegen gerne auch mal radikal und lokal, was vermutlich dem Ursprung in der Softwareentwicklung und den dort entstandenen Prozesschablonen zuzuschreiben ist.

Was bedeutet das – übertragen auf eine Kanzlei?

Ich denke, dass es für Kanzleien viel Potenzial birgt, die Standardabläufe gemeinsam zu durchleuchten und kontinuierlich zu verbessern. Das ist eher der Methodenkoffer Lean. Also zum Beispiel den Prozess der ESt-Erklärung durchgängig vom ersten bis zum letzten Schritt zu betrachten und regelmäßig gemeinsam zu hinterfragen, wo es zu Wartezeiten im Arbeitsfluss kommt.
Allerdings bieten auch agile Ansätze insbesondere hinsichtlich neuer Kundenwünsche und etwa der Entwicklung neuer Geschäftsfelder viele Chancen – hier kann man gut neue Methoden ausprobieren, um auch mal zu scheitern und mehr über das Kundenproblem zu lernen.

Was sollten Neulinge beachten?

Wichtig ist, dass eine Führungskraft nicht einfach nur anordnen kann, „ihr macht das jetzt bitte agil“. Der Impuls und die Initiative müssen von den Personen mit der größten formellen Macht kommen.

Außerdem sollten Agilität oder auch Lean nie als Selbstzweck gesehen werden, Stichwort Cargo-Kult. Es reicht nicht aus, sich agil auf die Fahne zu schreiben, damit man eben auch agil ist.

Ich glaube, auch ganz wichtig ist das Verständnis, dass mehr Verantwortung bei den Mitarbeitern auch gleichbedeutend ist mit Freiraum für autonome Entscheidungen. Und mehr Autonomie muss immer einhergehen mit mehr Alignment, also Ausrichtung – das ist die Voraussetzung, sonst macht jeder einfach sein Ding. Beim Alignment geht es darum, die Leute mitzunehmen, gemeinsam mit der Mannschaft eine Vision, ein Kanzleiziel zu haben und das auch kollaborativ zu erarbeiten. Häufig ist das der erste Schritt. Wenn das gut gemacht ist, dann verhindert man von vornherein viele Fehlentwicklungen. Um dorthin zu kommen, kann man das Zielbild entweder mit allen gemeinsam erarbeiten, oder man lässt Repräsentanten wählen. Dadurch kann man meist auch ein hohes Maß an Zustimmung erreichen.

Zusammenfassend würde ich also sagen, dass agile Methoden keine generelle Wunderwaffe sind, sich aber gut in komplexen, neuartigen Situationen eignen – wenn sie richtig gelebt werden.

Über den Interviewpartner:

Albert Schlotter ist Fachberater für agiles Coaching in der DATEV eG. Nach ersten, frühen Erfahrungen mit dem Einsatz von Kanban in einem Entwicklungsteam, widmete er sich voll und ganz den Themen modernes Projektmanagement, Skalierung von Methoden auf Multi-Team-Settings und Organisationsentwicklung. Aktuell coacht er den kontinuierlichen Verbesserungsprozess in einem Top-A-Projekt.

Außerdem hat er in einem Buch ein Kapitel zu dem Thema geschrieben.
Lang, Michael und Scherber, Stefan:
Der Weg zum agilen Unternehmen – Wissen für Entscheider: Strategien, Potenziale, Lösungen

Über die Autorin:

Patricia von Beyer ist als Verbundstudentin 2010 bei DATEV eingestiegen und gestaltet seit 2014 die Marktbearbeitung der Themenstellungen des Kanzleimanagements mit. Dabei ist sie insbesondere für die inhaltliche Ausgestaltung von Kundenveranstaltungen und das Handlungsfeld „Prozesse und Organisation“ zuständig. Input zu aktuellen Themenstellungen sucht sie zum Beispiel über Impulse wie ein Kanzleipraktikum und ihr Masterstudium.

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