Was hat Pythagoras mit Simulation zu tun? Ohne Zahlen wäre keine Simulation, kein digitaler Zwilling und keine digitale Produktentwicklung möglich.

Der Pythagoras zugeschriebene Satz „Alles ist Zahl“ ist heute aktueller denn je. Zahlen ermöglichen es uns, physische Größen wie Positionen, Temperaturen, Durchflussmengen, Feldstärken und viele andere zu erfassen und zu verarbeiten. Es gibt eine Vielzahl raffinierter Methoden, mit denen wir die physische Welt mithilfe von Zahlen messen bzw. beschreiben können. Mit dem Computerzeitalter ist ein neues und äußerst vielseitiges Werkzeug hinzugekommen: die Simulation.

Simulationen ermöglichen den Rückschluss auf Daten, die nicht direkt gemessen werden können. So ist es z. B. möglich, die Temperatur tief im Inneren eines Objekts aus Messungen der Oberflächentemperatur und dem physikalischen Verständnis der Vorgänge innerhalb des Objekts abzuleiten. Dabei ist die Unzugänglichkeit eines Messpunkts nicht auf die räumliche Dimension beschränkt. Die gewünschten Daten können auch in der Zukunft oder in einem System liegen, das physisch noch gar nicht existiert.

Produktentwickler haben mehr Spielraum für Innovation

Im Vergleich zu physischen Tests ermöglichen Simulation enorme Zeit- und Kosteneinsparungen und helfen dabei, Ressourcenverschwendung und potenziell gefährliche Situationen zu vermeiden. Physische Labortests sind in der Regel mit einer erheblichen Verzögerung verbunden, da Prüfmuster und -anordnungen vorbereitet und gebaut werden müssen. Hinzu kommen Einschränkungen hinsichtlich der Möglichkeiten und Kapazitäten des Labors und eine mangelnde Flexibilität im Hinblick auf späte Änderungen. Wenn bei einem Designprozess mit zahlreichen Iterationen vor jeder Iteration die Ergebnisse der vorangehenden Prüfung abgewartet werden müssen, kann dies erheblich Zeit kosten.

Neben Zeit- und Kosteneinsparungen ermöglichen Simulationen auch die Untersuchung einer wesentlich größeren Bandbreite von Varianten. Produktentwickler haben mehr Spielraum für Innovation, können wesentlich mehr Varianten und Kombinationen testen und unorthodoxe Methoden ausprobieren. In einigen Fällen stellen Simulationen die einzige Möglichkeit zur Verifizierung eines Designs dar, wenn physische Tests – z. B. seismische Prüfungen im großen Maßstab – nicht machbar sind. Heute lassen sich nahezu alle Aspekte des Produktlebenszyklus wie Fertigung, virtuelle Tests, Transport, normaler Betrieb, Alterung, raue Umgebungsbedingungen, extreme Situationen (Erdbeben, Lichtbögen, Blitzschläge, Überlasten usw.) simulieren.

Fortschritte und Demokratisierung der Simulation

Zu den Haupttreibern für den Fortschritt in der Simulation gehören die Zunahme der Rechenleistung und -geschwindigkeit, sinkende Kosten sowie eine höhere Benutzerfreundlichkeit. Was vor 25 oder 30 Jahren noch ein umfangreicher, rechenintensiver Auftrag war, kann heute problemlos in weniger als einer halben Stunde (plus Erstellung des Modells) berechnet werden. Neben der allgemein höheren Geschwindigkeit sind heutige Simulationen in der Lage, eine größere Zahl von Variablen zu berücksichtigen, was die Genauigkeit der Simulation insgesamt erhöht.

Neben der Hardware und den Kosten haben sich auch die Rollen der Simulationsingenieure stark verändert. Anfänglich mussten erfahrene Ingenieure viel Zeit in die Erstellung von Modellen und die Einrichtung der Simulationen investieren. Mittlerweile sind das Wissen und die Computerkenntnisse – aber auch die Automatisierung und die Tools selbst – so weit fortgeschritten, dass viele dieser Aufgaben problemlos von Nachwuchskräften oder Studenten erledigt werden können. Dies bedeutet aber nicht, dass die Fähigkeiten nicht mehr gefragt sind. Vielmehr können sich Simulationsexperten nun auf das Interpretieren der Ergebnisse und das Beraten bei Designentscheidungen konzentrieren.

Eine Simulation muss die Phänomene, die in einem physischen Objekt oder System auftreten, digital widerspiegeln. Wie in der realen Welt wirken oft mehrere physikalische Effekte gleichzeitig auf ein Objekt. Betrachtet man z. B. eine Anlage ausschließlich unter elektrischen Gesichtspunkten, ist die Bestimmung eines optimalen Kabelquerschnitts relativ einfach. Berücksichtigt man aber weitere Phänomene wie thermische Effekte oder mechanische Schwingungen, kann es sein, dass die scheinbar optimale Lösung neu beurteilt werden muss. Folglich sollten Simulationen Effekte aus verschiedenen physikalischen Bereichen (Elektrik, Mechanik, Thermodynamik) abbilden.

Häufig spielt auch die wechselseitige Abhängigkeit dieser Effekte eine Rolle. So muss zur Simulation eines Lichtbogens nicht nur die Dynamik des Plasmas, sondern auch das elektromagnetische Verhalten, die Wärmeerzeugung und Abkühlung simuliert werden. Alle diese Phänomene sind miteinander verknüpft. So hat die lokale Leitfähigkeit des Plasmas Einfluss auf die erzeugte Wärme, während sich die daraus resultierenden Temperaturen wieder auf die Leitfähigkeit auswirken. Die Wärme beeinflusst zudem die Bewegung und Verteilung des Plasmas im Raum, was wiederum die lokale Leitfähigkeit verändert usw. Die Einflüsse sind also eng miteinander verzahnt, sodass die jeweiligen Berechnungen parallel ablaufen und Informationen miteinander austauschen müssen.

Digitale Zwillinge und ihre Anwendung

Eine Simulation erfordert einige grundlegende Daten zu einem Gerät oder System. Werden verschiedene Simulationen für dasselbe Produkt durchgeführt, lässt sich die Effizienz der Berechnung durch die gemeinsame Nutzung relevanter Daten erhöhen. So kann nicht nur die wiederholte manuelle Erzeugung inkompatibler Eingaben vermieden werden, die Daten können auch für eine Vielzahl weiterer Zwecke in verschiedenen Phasen des Produktlebenszyklus genutzt werden – z. B. für die Systemintegration, Diagnose, Vorhersage oder erweiterte Services. Dazu wird ein virtuelles Abbild des betreffenden Geräts oder Systems erstellt, das den Zugang zu den Daten und die Verifizierung von Eigenschaften vereinfacht. Diese strukturierte Sammlung von Daten und Algorithmen bildet den sogenannten digitalen Zwilling.

Ein digitaler Zwilling kann als einheitliches Repository für alle relevanten Daten zu einem Gerät – von CAD-Informationen und Dokumentationen über Betriebs- und Servicehistorien bis hin zu Betriebsstunden und anderen wichtigen Informationen – fungieren. Darüber hinaus lassen sich Simulationsalgorithmen integrieren, die einem Systemkonfigurator oder -bediener sagen können, ob ein geplanter Vorgang das Gerät überlasten oder bestimmte Grenzen überschreiten würde. So kann es z. B. sein, dass ein informierter Bediener oder Anlagenmanager sich aus betrieblichen Gründen dafür entscheidet, eine höhere Temperatur zuzulassen, auch wenn dies das Serviceintervall oder die Lebensdauer des Geräts verkürzen würde. Solche Daten können mit nur einem Klick abgefragt werden.

Durch AugmentedReality lässt sich die Usability eines solchen Tools weiter erhöhen (ein Techniker betrachtet Objekte durch die Kamera seines Smartphones, und die Bilder werden automatisch mit Erläuterungen versehen oder mit interaktiven Informationen überlagert). Abfragetools dieser Art können nicht nur an Arbeitsplätzen und auf mobilen Geräten genutzt, sondern auch direkt in die nächste Generation von Bedienoberflächen für Leitsysteme eingebettet werden, sodass sie ständig zur Verfügung stehen und ohne jegliche manuelle Datenübertragung auskommen. Neben einzelnen Geräten können auch für größere Prozesse und Systeme (z. B. eine Gruppe kollaborierender Maschinen in einer Fabrik) digitale Zwillinge erstellt werden, die dann aus den digitalen Zwillingen der einzelnen Komponenten bestehen und Daten zu deren Konfiguration und Interaktion enthalten. Zudem können digitale Zwillinge die Schnittstellen zwischen Geräten abbilden und somit die Systemkonfiguration, das Testen und die Fehlerbehebung unterstützen.

Tools und Methoden für die Simulation

ABB nutzt eine Mischung aus kommerziellen, Open-Source- und selbst entwickelten Tools für die Simulation. Die Wahl des Werkzeugs hängt dabei vom jeweiligen Problem ab, und zu wissen, welches Tool sich wofür am besten eignet, ist Teil der Simulationskompetenz.
Das Modell für die Simulation wird auf der Grundlage von Designinformationen (z. B. CAD-Daten) erstellt. Faktoren wie Randbedingungen, Lasten usw. werden ebenfalls berücksichtigt. Die Erstellung dieser Daten wird zu einem gewissen Grad bereits durch Automatisierung unterstützt. Die Tatsache, dass die Anwendung solcher Tools immer einfacher wird, hat zu einer „Demokratisierung“ der Simulation geführt.

Die erforderliche Rechenleistung ist abhängig von der Art der Simulation. Während für die elektrothermische Analyse einer kompletten Mittelspannungs-Schaltanlage (etwa 50 Millionen Zellen in einem Finite-Volumen-Gitter) ein Hochleistungsrechner erforderlich sein kann, reicht bei einfacheren Modellen oder anderen Anwendungen schon ein guter Laptop aus. So wurde eine Berechnung der elektrischen Feldemissionen um ein Kraftwerk (90 m x 150 m) mit einer Gittergröße (in den interessantesten Bereichen) von 2 cm auf einem Laptop in etwa zwei Stunden durchgeführt. Bei Netzberechnungen kann ein einziger Simulationslauf bereits binnen weniger Sekunden ein Ergebnis mit angemessener Qualität liefern.

Künstliche Intelligenz und Simulation

Künstliche Intelligenz (KI) spielt bei Simulationen eine zunehmend wichtige Rolle, z. B. bei der Erstellung der Modelle und bei der Erkennung und Interpretation von Phänomenen. Eine Stärke der KI liegt in der Optimierung der Datenkorrelation. So kann KI z. B. erkennen, welche Parameter die größte Auswirkung auf die Optimierung haben, und Designvarianten vorschlagen, die einem Optimum näher kommen.

Die bisher beschriebenen Simulationen werden typischerweise deutlich vor oder unabhängig von der Fertigung oder Anwendung durchgeführt und gelten daher nicht als Echtzeit-Vorgänge. Ein Beispiel, bei dem Simulationen in Echtzeit ablaufen müssen, ist der 3D- und 4D-Druck (ein 4D-Objekt ist ein dreidimensionales Objekt mit zusätzlicher eingebetteter Funktionalität). Eine parallel zum Drucken laufende Simulation kann z. B. dazu dienen, Parameter während des Druckens zu korrigieren. So können etwa temporäre, durch den Druckvorgang verursachte Temperaturunterschiede kompensiert werden.

Bei der Simulation geht es um viel mehr als das Ersetzen von Labortests oder das Beschleunigen der Produktentwicklung. Da es viel einfacher ist, eine Simulation laufen zu lassen, als einen Test einzurichten, ist es möglich, eine viel größere Anzahl von Simulationen durchzuführen und somit eine breite Palette von Varianten zu untersuchen – einschließlich außergewöhnlicher und experimenteller Ideen. Dadurch, dass sie den Nutzer nicht von Anfang an auf eine Lösung beschränkt, eröffnet die Simulation neue Möglichkeiten nicht nur im Produktdesign, sondern auch im Hinblick auf Fertigungsprozesse, Geschäftsentscheidungen, Prüfung und Verifizierung und Serviceleistungen. So können Entwickler mit verschiedenen Geometrien und Ideen experimentieren und Parameter in mehreren Iterationen verfeinern. Mit anderen Worten, Simulation fördert die Kreativität.

Autor: Marek Florkowski

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