Der EU-Austritt Groß­bri­tan­niens - 20. Mai 2019

Schlussakt einer Tragikomödie

Vor etwas mehr als zwei Jahren hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich mir einmal wünschen würde, die Briten mögen nun endlich aus der Euro­pä­ischen Union aus­schei­den. Nun aber ist es soweit.

Um es gleich vorwegzunehmen – ich halte den Brexit für eine auf allen Ebenen falsche und zutiefst bedauernswerte Entwicklung. Ich kann ihn, sofern er im Oktober vollzogen wird, weder mit dem Herzen noch mit dem Verstand nachvollziehen. Aber die europäischen Institutionen mussten, statt sich Projekten mit Zukunft oder dem Wohlergehen der Bürger Europas zu widmen, gezwungenermaßen viel Zeit und Energie in dieses von Populisten initiierte destruktive Werk stecken, in dessen Folge das Vereinigte Königreich nun beherrscht ist von Zerwürfnissen und Verzweiflung. Auch Stand heute ist der finale Ausgang dieses politischen Ereignisses immer noch offen. Vor diesem Hintergrund ist es alles andere als leicht, diese politische Tragikomödie abschließend zu kommentieren. Schon die Auszählung des Referendums im Jahr 2016 hatte viele überrascht, und nun sind weitere unerwartete Wendungen, wie zuletzt die zweimalige Verschiebung des Austritts, nicht auszuschließen – nicht einmal, dass es am Ende gar keinen Brexit geben wird. Doch jenseits der Frage, ob der Brexit hart oder weich sein wird, ob es einen Deal oder ein zweites Referendum geben wird – mit einer weiteren Verlängerung der Austrittsfrist zu rechnen ist, unabhängig davon, ob die Zerwürfnisse sowohl bei den Konservativen wie auch bei Labour sich vertiefen oder man sich am Ende in großer Not noch einmal zusammenraufen wird – einige Erkenntnisse und Beobachtungen aus den letzten drei Jahren kann man bereits jetzt summieren, ohne das endgültige Ergebnis zu kennen.

Anachronismus in einer globalisierten Welt

Hinter dem Brexit liegt eine traurige und irrige Abfuhr an den Rest Europas – ja, an den Multilateralismus überhaupt.

Der Austritt der Briten aus der Europäischen Union (EU) ist in der globalisierten Welt von heute ein Anachronismus. Hinter dem Brexit liegt eine traurige und irrige Abfuhr an den Rest Europas – ja, an den Multilateralismus überhaupt. Paul-Henri Spaak, belgischer Staatsmann und einer der Gründerväter der EU, soll einmal gesagt haben: „In Europa gibt es nur zwei Typen von Staaten – kleine Staaten und kleine Staaten, die noch nicht erkannt haben, dass sie klein sind.“ Wie recht er gerade heute damit hat. Die Briten haben mit ihrer glorreichen Weltmachtvergangenheit verständliche Schwierigkeiten, sich dieser Erkenntnis zu nähern, und gerade als Deutscher tut man gut daran, insoweit nur äußerst zurückhaltend Nachhilfe zu leisten. Aber auf der Weltbühne von heute kann das Vereinigte Königreich neben Russland, China, den Vereinigten Staaten und neben – oder besser außerhalb – der EU nur eine Nebenrolle spielen. Und das ist bedauerlich, gerade auch für den Rest der Welt, dem die Vernunft, die politische Kultur und das engagierte Interesse der Briten seit Langem und vielerorts ein Segen waren. Dass der Einfluss der Briten allein ohne den institutionalisierten Verbund der übrigen Mitgliedstaaten sehr viel geringer sein würde, war von vornherein abzusehen. Wie allerdings obendrein das ungeschickte Agieren der politisch Verantwortlichen das Ansehen nach außen schädigen und wie sehr die mit dem Austritt verbundenen auch gesellschaftlichen Probleme – von den organisatorischen oder wirtschaftlichen Herausforderungen einmal abgesehen – das Land in den nächsten Jahren zur Beschäftigung mit sich selbst zwingen würde, hat in dem nun zu erwartenden Ausmaß wohl niemand geahnt.

Politisches Trauerspiel

Man könnte fast meinen, mit dem traurigen politischen Schauspiel vor und nach dem 29. März sollte dem Rest Europas der Abschied leichter gemacht werden. Ungeduldig saß man vor dem Fernseher und hoffte, dass sich endlich eine der durchaus vorhandenen Stimmen der Vernunft durchsetzt – und wurde immer wieder enttäuscht. Die Briten sind zu Recht stolz auf ihre parlamentarische Tradition, und nun haben sie täglich mitansehen müssen, wie auch das Parlament keinen Ausweg fand und die politische Klasse sich deklassierte. In einer komplizierter werdenden Welt muss man sich darauf verlassen können, dass die politischen Entscheidungsträger schon irgendwie vernünftig und weise handeln werden. Jedenfalls für die Briten dürfte dieses Grundvertrauen in den vergangenen Monaten deutliche Risse bekommen haben. Und die Erschütterungen und Enttäuschungen werden das politische Kapital des Vereinigten Königreichs auch in Europa und dem Rest der Welt spürbar schmälern.

Die Botschaft des EU-Austritts

Welche Botschaft steht hinter der Mehrheit für einen EU-Austritt? Für den Aktivisten einer Bewegung, die positive und konstruktive Zeichen für die Einheit Europas setzen will, ist der Anblick einer älteren Engländerin, die jubelnd eine Europafahne verbrennt, eine verstörende Erfahrung gewesen. Um dies besser einordnen zu können, mag die Einsicht helfen, dass die Briten die EU mehrheitlich in erster Linie als Wirtschaftsraum und Wirtschaftsgemeinschaft gesehen haben. Seit den Verträgen von Maastricht und der damit begonnenen politischen Integration wurde der Blick von der Insel nach Brüssel sehr viel misstrauischer. Und dennoch ist der Ausgang des Brexit-Referendums das Ergebnis einer Kampagne, in der gezielt Ressentiments gegen den Rest Europas geschürt und in der die Vorurteile unter den Völkern Europas geschickt bedient wurden.

Die Lehren des EU-Austritts

Lassen sich auch positive Lehren finden auf dem Scherbenhaufen des Brexits? Zynisch könnte man sich als Proeuropäer darüber freuen, wie die Nationalisten es geschafft haben, eine Nation zu spalten. Statt sich begeistert hinter der Idee einer glorreichen Zukunft des Vereinigten Königreichs jenseits der EU zu versammeln, ist die Nation weiter in zwei Lager geteilt, durch die ein Riss geht, der tiefer ist, als alle bisherigen Trennlinien der Politik. Sara Hobolt, Professorin an der London School of Economics, hat diesen Riss näher analysiert und festgestellt, dass sich die Leute entweder als Brexiteers oder Remainers in einem weit größeren Maße identifizieren, als sie es je zuvor als Anhänger politischer Parteien taten. Und beide Seiten hegen ein tiefes Misstrauen gegeneinander.

In die Irre geführt

Diese Spaltung ist ein akutes Problem für die Briten und ein Menetekel für den Rest der Welt. Sie dürfte ihren Grund wohl auch in dem Referendum selbst haben, das eine äußerst komplizierte Frage zu einer simplen Ja/Nein-Entscheidung gemacht hat. Damit – und nicht nur mit den Lügen und falschen Versprechungen der Kampagne – wurden Erwartungen geweckt, die zwangsläufig enttäuscht werden müssen. Es wird lange dauern, bis die Wunden heilen, die dem Vereinigten Königreich durch die erbitterten Schlachten um den Brexit zugefügt wurden. Viele Briten werfen der EU vor, dass sie ihnen den Austritt besonders schwer machen wolle, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Weitere Tendenzen des Auseinanderdriftens sollten auf diese Weise gestoppt werden. Die Einigkeit, mit der die verbleibenden Mitgliedstaaten in den Verhandlungen aufgetreten sind, gibt dieser Theorie wenig Nahrung. Es ist zu hoffen, dass der Brexit und die überdrehte Antieuropastimmung, die ihn ermöglichte, letztlich den Wert und auch den angemessenen Preis eines vereinigten Europas erkennbar werden lassen – und nicht zuletzt ist das Entstehen der Bürgerbewegung Pulse of Europe auch eine Folge des Brexits. Tatsächlich lässt sich ein in den vergangenen Jahren spürbar gesteigertes Interesse der Medien, der Politik und der Gesellschaft an den Zukunftsfragen der Union bemerken. Es ist zu hoffen, dass sich diese Entwicklung fortsetzt.

Fazit und Ausblick

Inzwischen sehe ich keine andere Möglichkeit, als dass der Brexit letztlich stattfindet, und zwar möglichst bald. Ich befürworte eine Entwicklung, die ich im Grunde für falsch und schädlich halte. Und ich weiß von zahlreichen überzeugten Remainern, die mittlerweile ebenso denken. Nur so wird es den Briten gelingen, die durch den Brexit entstandene Spaltung der Bevölkerung zu überwinden. Und nur so wird sich die Erkenntnis durchsetzen können, dass der eingeschlagene Weg falsch ist. Eine Krise, wie sie der Brexit mit sich gebracht hat, ist aber auch der richtige Moment, auf mutige Europäer früherer und deutlich schwierigerer Zeiten zu schauen. Stefan Zweig ist ein solcher Orientierungsanker. In zwei Weltkriegen hat er seine Hoffnung auf ein friedlich vereintes Europa bewahrt. Und erst entwurzelt im brasilianischen Exil nahm er sich das Leben – aus Verzweiflung darüber, dass seine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet. Nicht zuletzt aus den Erfahrungen jener Kriege, die ihn in den Suizid trieben, entstand die EU. Heute sind die Völker Europas in einer Weise verbunden, die selbst dem Optimisten Zweig als kühne Vision erschienen wäre. In seinem Vortrag „An die geistige Einheit ­Europas“, gehalten 1936 in Rio de Janeiro, schreibt er: „Die Entwicklung jeder Idee geht nicht Schritt für Schritt in regelmäßigem Anstieg – auf Fortschritte folgen heftige Rückschläge. Aber so heftig sie auch sein mögen, wir dürfen sie nicht für dauerhaft halten.“ So gesehen ist der Brexit ein Irrtum, ein Rückschlag. Aber er wird nicht das letzte Wort sein.

Zum Autor

AFK
Dr. Alexander Freiherr Knigge

Rechtsanwalt und Notar in Berlin sowie Mitglied des Vorstands der überparteilichen Bewegung Pulse of Europe

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