- 30. November 2012

Minimalkonsensrepublik?

Bundesratspräsident Winfried Kretschmann hat in seiner Antrittsrede am 02.11.2012 den Föderalismus als „unterschätzt“ klassifiziert. Das empfiehlt die diplomatische Begriffswelt, wenn zur föderalen Ordnung ein zwiespältiges Verhältnis in der Bevölkerung vermutet wird. „Der Föderalismus hat heute nicht viele Freunde“ fügte Kretschmann hinzu und hatte vermutlich jene Familien im Kopf, die durchaus bereit sind, für bessere Arbeitsplätze…

Wen ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis auch frage, die Bildungspolitik im Föderalismus halten alle für unhaltbar. Aber wir nehmen es im politischen Leben hin, dass die Länder die Bildung als Teil ihres kulturellen Selbstverständnisses empfinden und so Einigungen im Sinn des praktischen Lebens unmöglich werden. Wir fordern geographisch flexible Arbeitnehmer, können uns aber nicht einmal bundesweit einigen, ob die Grundschule vier oder sechs Jahre andauern sollte.

Bei den Themen im eGovernment und eRechtsverkehr sieht es nicht anders aus. Einfach undenkbar, dass die Einführung des neuen Personalausweises mit elektronischer eID-Funktion von allen Bürgerämtern der Republik gleichermaßen aktiv angegangen wird. Die einen machen Dienst nach Vorschrift und leben unbeeindruckt mit einer Quote von 30 Prozent für die Aktivierung der eID-Funktion, andere lassen den Bürgern von zwei Studenten die neuen Möglichkeiten des „nPA“ erklären und schaffen so erfreuliche 70 Prozent. Meiner Mutter (70 Jahre) wurde zuletzt bei der Beantragung erklärt, sie brauche diese eID-Funktion nicht mehr. Immerhin beim Einschätzen der Lebenserwartung bieten die Ämter also Hilfe an.

Die Gründung des IT-Planungsrates war eine Reaktion darauf, dass Projekte im eGovernment und eRechtsverkehr nicht selten als politische Manövriermasse zwischen den Ländern zerrieben werden und der Minimalkonsens nach jahrelangen Verhandlungen und Abstimmungen kaum noch einen nachvollziehbaren Fortschritt hervor bringt. Als ELENA nach 10 Jahren (!) endlich Arbeitnehmerdaten einsammeln konnte, war das Verfahren technisch und datenschutzbezogen überholt: Niemand wollte mehr eine zentrale Datenbank mit einer 100-Prozent-Erfassung. Die eSignatur musste schließlich herhalten, um den ELENA-Abschied zu begründen. Dann wurde im zuständigen Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) entschieden, zwei Jahre lang zu prüfen, was denn mit den ELENA-Erkenntnissen für eine Nachfolgeplanung anzufangen sei. Damit ist eine „Lösung“ vor 2014/15 undenkbar. Brauchen wir also 15 Jahre (!), um den volkswirtschaftlichen Umgang mit Arbeitnehmerdaten elektronisch abzubilden?

Nehmen wir die Abstimmungsbemühungen innerhalb der EU noch hinzu (derzeit wird z.B. an Verordnungen zu elektronischen Identitäten und dem Datenschutz gearbeitet), entsteht eine europäische Minimalkonsensfläche, die etwas beängstigt. Was stehen für enorme Herausforderungen an: Energiewende, demografischer Wandel, zu regulierende (Finanz-) Märkte, Klimawandel, Wohlstandsschere. Wollen wir das alles so angehen wie in den zitierten Beispielen?

Ich vermute, die drängenden Themen zwingen uns bald in eine andere, höhere Geschwindigkeit, die unsere Minimalkonsenskultur unhaltbar werden lässt. Ob es nicht sinnvoll wäre, die Bürokratie schon heute zu beschleunigen und entflechten? Das liegt auf der Hand, aber ohne den unmittelbaren Zwang einer akuten Situation können wir diese Beschleunigung offenbar nicht leisten. In seiner Kolumne auf SPIEGEL online hat Sascha Lobo einen Blick auf die Institutionen gewagt, die als volkswirtschaftliche Instanzen lieber festhalten und verteidigen als zu gestalten.

Zum Autor

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Torsten Wunderlich

Torsten Wunderlich ist seit Ende 2009 Leiter des DATEV-Informationsbüros in Berlin, zuvor war er in Nürnberg Projektleiter elektronischer Rechtsverkehr. Nach dem BWL/VWL-Studium war der Berliner in verschiedenen Funktionen als „Übersetzer“ für Themen wie eGovernment, eRechtsverkehr, elektronische Identität tätig.

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