Die ethische Dimension - 19. Dezember 2024

Die Zweifel zerstreuen

Angesichts der rasanten Fortschritte künstlicher Intelligenz stellt sich vor allem Wirtschaftsprüfern die Frage, wie weiterhin Vertrauen und Transparenz bei deren Tätigkeiten gewährleistet werden können.

Potenziell trifft künstliche Intelligenz (KI) Entscheidungen, die sich auf das Leben zahlreicher Menschen auswirken, ohne dass gegebenenfalls die Möglichkeit der menschlichen Entscheidungskontrolle besteht. Dies ist keine dystopische Fiktion, sondern ein reales Szenario, das der Auseinandersetzung bedarf.

Anwendungsbereiche in der Wirtschaftsprüfung

Auch in der Wirtschaftsprüfung finden KI-Tools bereits heute Anwendung. Insbesondere die sogenannte generative KI lässt zwei wichtige Anwendungsfelder erkennen: einerseits die automatische Textgenerierung, bei der auf der Basis vorhandener Informationen Texte erstellt werden, andererseits die Analyse von Rohdaten, etwa in Form von PDF- oder Excel- Dateien, auf darin enthaltene Muster, Trends oder Unregelmäßigkeiten. Damit bieten KI-basierte Technologien wichtige Ansatzpunkte zur Fortentwicklung des Prüfungsprozesses. So können Datenextraktionen oder Chatbots und Sprachassistenten Hinweise für die im Weiteren sinnvollen Prüfungshandlungen liefern. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr der sogenannten Automatisierungsverzerrung durch die Neigung, sich zu stark auf diese Tools oder deren Ergebnisse zu verlassen. Zudem besteht vorab die Herausforderung, passende Datensätze für das Training KI-basierter Technologien zu finden, da die einzelne Prüfung häufig stark durch ihre individuellen Umstände und Sachverhalte geprägt ist. Zugleich erschwert der Einsatz KI-basierter Technologien eine klare Abgrenzung der Verantwortlichkeiten zwischen einem Menschen und der Maschine. Insgesamt muss vor diesem Hintergrund gewährleistet bleiben, dass Art, Umfang und Begründung der durchgeführten Prüfungshandlungen sowie die aus ihnen gezogenen Schlüsse nachvollziehbar bleiben und so der KI-Einsatz nicht in einem Black-Box-Problem mündet. Sowohl aus Sicht des auftragsverantwortlichen Wirtschaftsprüfers als auch aus der eines praxisweiten Qualitätsmanagements sind daher die Chancen und Risiken des Einsatzes KI-basierter Tools gleichermaßen sorgfältig abzuwägen.

Ethische Dimensionen der KI-Anwendung

Bekanntermaßen wirft KI komplexe ethische Fragen auf, die von allen Beteiligten, einschließlich der politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, Regulierungsbehörden, Entwickler und Nutzer der Technologie, sorgfältig geprüft werden müssen. Wie sind Vertrauen und Transparenz bei der Entwicklung und dem Einsatz von KI-Systemen zu gewährleisten? Wem ist die Verantwortung für die Auswirkungen und Ergebnisse des KI-Einsatzes zuzurechnen? Wie sind Negativszenarien vermeidbar, in denen KI Menschen aufgrund von erlernten Präferenzen, Vorurteilen oder Werten manipuliert, täuscht oder schädigt? Diesen Fragen muss sich auch der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer stellen, der als kritischer Gatekeeper für verlässliche Unternehmensinformationen eine wichtige Rolle für das Funktionieren der Kapitalmärkte spielt. Eine wesentliche Rolle kommt hierbei dem International Ethics Standards Board for Accountants (IESBA) zu, dem globalen Standardsetzer für berufsethische Regelungen in der Wirtschaftsprüfung. Seit 2023 untersucht das IESBA die ethischen Aspekte des KI- Einsatzes in der Wirtschaftsprüfung mit Blick auf die künftige Entwicklung eines dazu regulierenden Standards. Wesentliche Eckpunkte der bisherigen Diskussionen und Aktivitäten seien nachfolgend kurz zusammengefasst.

Prinzipienorientierter Regulierungsansatz

Im April 2023 veröffentlichte das IESBA unter dem Titel „Technology-related Revisions to the Code“ eine überarbeitete Fassung seines Code of Ethics (CoE) (vgl. https://www.ethicsboard.org/publications/final-pronouncement-technology-related-revisions-code). Hierdurch sollen Wirtschaftsprüfern erstmals verlässliche berufsethische Leitlinien für den Umgang mit IT an die Hand gegeben werden. In Kraft getreten ist die Neufassung am 15. Dezember 2024. Kennzeichnend für die neuen Anforderungen ist ein prinzipienorientierter Regelungsansatz. Dieser entspringt der Einsicht in die Vielfalt, Komplexität und Änderungsdynamik. Weder für Standardsetzer noch für Standardanwender wird es als praktikabel angesehen, spezifische Regeln oder Leitlinien für jedes mögliche technologische Szenario vorzugeben, mit dem Wirtschaftsprüfer bezüglich des KI-Einsatzes konfrontiert sein können. Ein solcher Ansatz würde vielmehr einer Compliance-Mentalität Vorschub leisten, die sinnvolle Innovationen ersticken und die eigenverantwortliche Beurteilung unter Ausübung einer kritischen Grundhaltung behindern kann. Stattdessen hat sich das IESBA dafür entschieden, die transformativen Auswirkungen einschließlich ihrer ethischen Implikationen der wichtigsten technologischen Entwicklungen zu Rechnungslegungs-, Prüfungs- und Finanzfunktionen in allgemeiner Form darzustellen. Darauf aufbauend äußert das IESBA die Erwartung, dass Wirtschaftsprüfer kritisch die ethischen Fragen und Herausforderungen des Technologieeinsatzes bedenken und durch professionelles Urteilsvermögen einer Lösung zuführen. Hierdurch sollen sowohl flexible als auch wirksame Lösungsansätze gefördert werden. Ergänzend zu der technologiebezogenen Überarbeitung des CoE hat das IESBA den unverbindlichen Leitfaden „Ethical Leadership in a Digital Era: Applying the IESBA Code to Selected Technology-Related Scenarios“ veröffentlicht (vgl. https://www.ethicsboard.org/publications/ethical-leadership-digital-eraapplying-iesba-code-selected-technologyrelated-scenarios). Der vom japanischen Standardsetter entwickelte Leitfaden soll anhand sieben illustrativer Technologieszenarien die Sensibilität des wirtschaftsprüfenden Berufsstands für die berufsethischen Fragestellungen des Technologieeinsatzes schärfen und so die sachgerechte Umsetzung der Anforderungen des CoE fördern.

KI und Voreingenommenheit

Der verbreiteten Annahme, KI-Technologie sei neutral, steht entgegen, dass KI-Lösungen von Menschen geschaffen und damit inhärent durch deren bewusste oder unbewusste Voreingenommenheit und Werturteile beeinflusst sein können. Voreingenommenheit kann sich in verschiedenen Formen manifestieren und auswirken, etwa in diskriminierenden Kreditvergabeentscheidungen. Ebenso können Daten, die zum Trainieren von KI-Modellen verwendet werden, inhärenten Verzerrungen unterliegen, sodass auch die von KI-Modellen produzierten Ergebnisse diese Verzerrungen widerspiegeln werden. Dabei ist ebenfalls zu beachten, dass Bestrebungen im Zuge der KI-Entwicklung zur Beseitigung von Verzerrungen in den Trainingsdaten gegebenenfalls nur in der Ersetzung durch andersartige Verzerrungen münden können. In diesem Zusammenhang verlangt der CoE die Entwicklung eines Bewusstseins für die möglichen negativen Einflüsse auf die Qualität der von KI-Anwendungen generierten Lösungen, die von Voreingenommenheit oder ähnlichen Verzerrungen ausgehen können. Hierfür sieht es der CoE als bedeutsam an, dass Wirtschaftsprüfer ein ausreichendes Verständnis der jeweiligen Motive und individuellen Bedingungen des KI-Einsatzes erlangen. Dies gilt beispielsweise mit Blick auf die Frage, wie Test- und Trainingsdaten selektiert werden und die Integrität dieser Daten sichergestellt wird.

Transparenz und Vertraulichkeit

Aufgrund des erhöhten Maßes an Unsicherheit und Komplexität in der Anfangsphase der Durchsetzung neuer digitaler Technologien kann es für Wirtschaftsprüfer schwierig sein, den Nutzern ihrer Dienstleistungen deren Inhalte verständlich zu vermitteln. Dies schließt die Kommunikation der mit den Dienstleistungen verbundenen Beschränkungen und der daraus resultierenden Auswirkungen ein. Eine solche Einschränkung stellt etwa das Phänomen des Deepfake dar. Deepfakes (Lesen Sie auch „Der digitale Wolf im Schafspelz“ im DATEV magazin 12/2024) bezeichnen Mechanismen zur Erstellung von Inhalten mit der Absicht, Informationen falsch darzustellen oder zu manipulieren, und haben insbesondere in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit erregt und Verbreitung erfahren, sind aber nicht hierauf beschränkt. So hat sich mittlerweile das Phänomen seinen Weg auch in die Finanzberichterstattung der Unternehmen gebahnt. Ein Beispiel zeigt ein Betrugsszenario, in dem eine gefälschte Videokonferenz KI-gestützte Simulationen mit den tatsächlichen Stimmmustern einer der Führungskräfte des Unternehmens verwendet, um eine bestimmte Transaktion vorzutäuschen. Angesichts des wachsenden Risikos von Deepfakes ist es für Wirtschaftsprüfer wichtig, eine Sensibilität für solche Taktiken zu entwickeln und zur Umsetzung von Abwehrmaßnahmen beizutragen. Tendenziell wird eine hohe Transparenz das Vertrauen in und die Akzeptanz von KI-Lösungen deutlich fördern. Für Wirtschaftsprüfer ist jedoch gleichzeitig der Schutz der Vertraulichkeit von Informationen, die sie aus beruflichen und geschäftlichen Beziehungen erhalten, ein essenzieller Berufsgrundsatz. Damit stellt der KI-Einsatz den Berufsstand vor neuartige Herausforderungen. Er ist künftig vermehrt zu Ermessensentscheidungen gezwungen, die die Balance zwischen Transparenz und Geheimhaltung von Informationen wahren.

KI-Washing

Weitere berufsethische Herausforderungen bringt das sogenannte KI-Washing mit sich. Zu verstehen ist hierunter eine Praxis, die die Vorteile der KI-Technologie übersteigert oder falsch darstellt. KI-Washing kann als eine Form des irreführenden Marketings betrachtet werden, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in KI-Systeme und ihre Anbieter untergraben kann. Ein jüngstes Beispiel für KI-Washing bietet die Praxis zweier US-amerikanischer Anlageberater, die von der Börsenaufsichtsbehörde SEC beschuldigt wurden, falsche und irreführende Angaben über den Einsatz von KI zur Umsetzung ihrer Anlagestrategien gemacht zu haben. KI-Washing kann auch negative Folgen für Wirtschaftsprüfer haben, die auf KI-Systeme zurückgreifen oder den KI-Einsatz bei ihren Mandanten (mittelbar) prüfen. Für Wirtschaftsprüfer ist es daher wichtig, Möglichkeiten und Grenzen von KI-Lösungen zutreffend einschätzen zu können. Hierfür ist eine Weiterentwicklung der fachlichen Kompetenzen erforderlich. Wirtschaftsprüfer werden sich daher zukünftig eingehend über technologiebezogene Entwicklungen und ihren Anwendungskontext informieren müssen.

Fazit

Selbstverständlich ist die Bewältigung der ethischen Implikationen von KI und anderen aufkommenden Technologien keine Aufgabe, die sich nur dem Berufsstand der Wirtschaftsprüfer stellt. Dennoch sind Wirtschaftsprüfer aufgrund ihrer besonderen Vertrauensstellung bei dieser Aufgabe besonders gefordert. Ihre Lösung erfordert einen kollaborativen und Multi-Stakeholder-Ansatz, der den Dialog und die Koordination zwischen verschiedenen Akteuren und Sektoren einschließt. Auch der Regulierung in Form geeigneter berufsständischer Standards für den Umgang mit KI kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Diese Regulierung muss idealerweise die notwendigen Leitplanken setzen, ohne aber Innovation und Fortschritt zu behindern. Dabei ist (Berufs-)Ethik jedoch immer mehr als die reine Einhaltung von Vorschriften und Regulierungen: Sie ist vielmehr auch ein Wettbewerbs- und strategischer Vorteil für Wirtschaftsprüfer. Durch die Unterstützung und Förderung des ethischen und verantwortungsvollen Einsatzes von KI und anderen aufkommenden Technologien wird der Berufsstand zudem nicht nur einen Mehrwert für seine Mandanten schaffen, sondern kommt auch seiner übergreifenden Verantwortung nach, im öffentlichen Interesse zu handeln.

Zu den Autoren

Prof. Dr. Kai-Uwe Marten

Professor am Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung
der Universität Ulm

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Prof. Dr. Jens Poll

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht, Wirtschaftsprüfer
und Steuerberater sowie Honorarprofessor für Wirtschaftsrecht an
der Universität Ulm

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