Umsatzsteuer - 25. November 2021

Zeit für pragmatische Lösungen

Die oft propagierte Neutralität bei umsatzsteuerlich relevanten Vorgängen, lässt sich nur realisieren, wenn bei divergierender Rechtsauffassung stets das Finanzamt des Leistungserbringers für die umsatzsteuerliche Beurteilung des Sachverhalts, etwa im Wege einer Verwaltungsanweisung, zuständig wäre.

Es gibt im materiellen Umsatzsteuerrecht kein Recht auf Gegenseitigkeit in der Beurteilung der Leistung aus Sicht des Leistungserbringers und des Leistungsempfängers. Auch das Verfahrensrecht beinhaltet keine Regelungen zur Vermeidung inhaltlich einander widersprechender Beurteilungen. Konsequenterweise kann ein und derselbe Sachverhalt umsatzsteuerlich beim Leistungserbringer und Leistungsempfänger unterschiedlich beurteilt werden und so zu einer Doppelbelastung führen. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität ist folglich systemimmanent. Die nachfolgenden Fallgestaltungen verdeutlichen die konkreten praktischen Auswirkungen, wenn ein und derselbe Sachverhalt vom Finanzamt des Leistungserbringers und dem des Leistungsempfängers unterschiedlich beurteilt werden.

Besondere Gestaltungsformen

Insbesondere Sachverhalte, bei denen die rechtliche Bewertung eines Vorgangs als Geschäftsveräußerung im Ganzen, als Organschaft oder als sogenannter Reverse-Charge-Fall gemäß § 13b Umsatzsteuergesetz (UStG) zweifelhaft ist, führen in der Praxis häufig zu unterschiedlichen Beurteilungen durch die beteiligten Finanzbehörden. Zumindest für den Fall der Geschäftsveräußerung im Ganzen gemäß § 1 Abs. 1a UStG hat sich die Verwaltung dahin gehend positioniert, dass in letzter Konsequenz das Finanzamt des veräußernden Unternehmers und nicht das des Erwerbers für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung zuständig sein soll [Oberfinanzdirektion (OFD) Hannover, Vfg. v. 9.10.2009 – S 7500 – 466 – StO 171]. In den Fällen des Übergangs der Steuerschuldnerschaft gemäß § 13b Abs. 2 Nr. 4, 5 Buchst. b und 7 bis 12 UStG lässt die Verwaltung die irrtümlich einvernehmliche Annahme eines Anwendungsfalls durch die Beteiligten ausreichen. Voraussetzung ist die zutreffende Versteuerung des Umsatzes durch den Leistungsempfänger (Abschn. 13b.8 Abs. 1 Satz 1 und 3 UStAE). Sämtliche zuvor beschriebenen Fallgestaltungen zeichnen sich aber generell dadurch aus, dass das rechtliche Konstrukt als solches per se zu Zweifeln Anlass gibt und die Beteiligten vor Verwirklichung der Umsätze zu entsprechender Vorsicht zwingt. Letztlich bleibt den Beteiligten im Vorfeld nur der Antrag auf verbindliche Auskunft gemäß §§ 89 Abs. 2, 204 ff. Abgabenordnung (AO). Völlig offen bleibt, wie in den Fällen einer jeweils entgegenstehenden verbindlichen Auskunft durch die beteiligten Finanzämter des Leistungserbringers und des Leistungsempfängers zu verfahren ist.

Beurteilung aus Sicht des Leistungserbringers

Leistungen, die durch die Finanzverwaltung bislang als nichtsteuerbare Vorgänge bewertet wurden, etwa die von einer Transfergesellschaft vereinnahmten sogenannten Remanenzkosten als durchlaufende Posten, führen in der Praxis zu einem Marktverhalten, wonach die Leistungen ohne Umsatzsteuer angeboten und folglich auch ohne Umsatzsteuerausweis fakturiert werden konnten. Eine Änderung der rechtlichen Bewertung durch das Finanzamt des Leistungserbringers, vorliegend die Transfergesellschaft, hin zur Steuerbarkeit der Leistung führt zu einer nachträglichen Umsatzsteuerbelastung. Grundsätzlich ist die Änderung der Rechtsauffassung insoweit unbeachtlich, als der Leistungsempfänger, wie etwa bei Leistungen durch eine Transfergesellschaft an einen Alt-Arbeitgeber, voll vorsteuerabzugsberechtigt ist. Der Leistungserbringer muss lediglich seine Rechnung berichtigen und der Leistungsempfänger die im Preis zusätzlich zu zahlende Umsatzsteuer als Vorsteuer jetzt abziehen. Strittig bleibt allein die Frage nach einer möglichen Verzinsung gemäß § 233a AO, die aber wegen der grundsätzlichen Rechnungsberichtigung mit ex-tunc-Wirkung obsolet sein sollte (vgl. hierzu aber BMF, Schr. v. 18.9.2020 – III C 2- S 7286a/19/10001:001; DOK 2020/0920350 – Tz. 25). Soweit die Theorie!!

Auswirkungen in der Praxis

Das zuvor beschriebene System funktioniert aber nur dann, wenn das Finanzamt des Leistungsempfängers die geänderte Rechtsauffassung teilt. Vorstellbar ist dabei folgendes Szenario: Bevor der Leistungsempfänger die nachfakturierte Umsatzsteuer bezahlt, befragt er sein Finanzamt, ob er aus der Rechnung zum Vorsteuerabzug berechtigt ist oder nicht. Das Finanzamt will eine verbindliche Stellungnahme nur nach einer Betriebsprüfung erteilen, worauf der Leistungsempfänger auf die Antwort verzichtet und die Umsatzsteuer nicht bezahlt. Was bleibt dem Leistungserbringer jetzt übrig? Er muss die ausgewiesene Umsatzsteuer zivilrechtlich – mit allen prozessualen Unwägbarkeiten, wie Verjährung, entgegenstehendem Parteiwillen, usw. – einklagen. Bis dahin schuldet er die ausgewiesene Umsatzsteuer und muss in Vorleistung treten. Selbst wenn der Leistungsempfänger ausnahmsweise die ausgewiesene Umsatzsteuer nachbezahlen sollte, wird sich die Geschäftsbeziehung aufgrund dessen merklich abgekühlt haben. Schon aus Cash-Flow-Gesichtspunkten wird der Leistungsempfänger demnächst vergleichbare Geschäfte nur noch mit den Leistungserbringern tätigen, die weiterhin ohne Umsatzsteuer leisten und fakturieren.

Beurteilung aus Sicht des Leistungsempfängers

Ähnlich unbefriedigend – diesmal für den Leistungsempfänger – ist die Situation, wenn seine Finanzbehörde den bei Leistungsbezug und Leistung identischen Sachverhalt unterschiedlich beurteilt, beziehungsweise durch eine gerichtliche Entscheidung gezwungen wird, unterschiedlich zu beurteilen. Will die Finanzbehörde beispielsweise einen Liefervorgang als dem Regelsteuersatz unterliegenden Vorgang behandelt wissen, wird es die Leistung des Leistungserbringers mit 19 Prozent versteuern. Weist der Leistungserbringer diese eingeforderte Umsatzsteuer in einer Rechnung offen aus, wird der Leistungsempfänger bei entsprechender Marktabhängigkeit den Preis inklusive Umsatzsteuer bezahlen. Wenn der Leistungsempfänger jetzt der rechtlichen Auffassung ist, dass sein Ausgangsumsatz des unverändert weiter gelieferten Gegenstands nur dem ermäßigten Steuersatz unterliegt, steckt er in einem unauflösbaren Dilemma: Kämpft er für seinen Rechtsstandpunkt und erwirkt er nach vielleicht jahrelangem Streit ein ihn bestätigendes Urteil (Ausgangsumsatz Steuersatz 7 Prozent), wird er hinsichtlich seines Vorsteuerabzugs aus den Eingangsleistungen abgestraft. Er kann nur die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer aus der Eingangsleistung als Vorsteuern abziehen. Trotz ausgewiesener Umsatzsteuer in Höhe von 19 Prozent verbleiben ihm nur 7 Prozent Vorsteuern.

Alternativlose Rechtslage

Gibt es für ihn eine Alternative? Wohl nicht wirklich. Er hätte die Rechnung kürzen können, dann hätte er seinen Lieferanten verloren und wäre womöglich zivilrechtlich – und wohl sogar mit Aussicht auf Erfolg – verklagt worden. Hätte er gezahlt, aber nur den reduzierten Betrag als Vorsteuern geltend gemacht, wäre er mit dem überschießenden Umsatzsteuerbetrag belastet gewesen. Hätte er den ausgewiesenen Umsatzsteuerbetrag als Vorsteuern abgezogen, wäre ihm letztlich nur die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer als Vorsteuer geblieben, verbunden mit dem Zinsrisiko des § 233a AO. Am besten wäre gewesen, er hätte auf seinen Rechtstandpunkt verzichtet und seinerseits die Lieferungen mit 19 Prozent fakturiert. Auch hier lautet die ernüchternde Erkenntnis: mit Neutralität der Umsatzsteuer hat dies nicht mehr viel zu tun.

Systemverändernde Lösungsansätze

Die zuvor beschriebene Problemlage für die am Leistungsaustausch beteiligten Unternehmer ließe sich zum einen durch die Einführung einer grundsätzliche Regelung zum Übergang der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger (sog. Reverse-Charge-Verfahren) lösen, ein Vorschlag, der aber unionsrechtlich kaum durchsetzbar ist. Denkbar wäre alternativ eine materiell-rechtliche Verknüpfung zwischen Umsatzsteuerschuld und Vorsteuerabzug. Nur und stets, wenn die Umsatzsteuer gezahlt ist, kann der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden. Daran ist aber zurzeit keiner wirklich interessiert, weil dies für jeden Fall des Vorsteuerabzugs und nicht nur in den Fällen divergierender Beurteilungen gelten würde.

Rechtssache Reemtsma

Zumindest das Verfahrensrecht bietet als Folge des unionsrechtlichen Neutralitätsgrundsatzes eine Möglichkeit, die Belastung des Leistungsempfängers mit der Nichtabzugsfähigkeit der gesetzlich nicht geschuldeten Umsatzsteuer aus den Eingangsumsätzen wegen sachlicher Unbilligkeit gemäß §§ 163, 227 AO zu verhindern (EuGH, Urt. v. 15.3.2007- Rs. C-35/15 – Reemtsma Cigarettenfabriken; EuGH, Urt. v. 26.4.2017 – Rs. C-564/15 – Farkas; EuGH, Urt. v. 11.4.2019 – Rs. C-691/17 – PORR; EuGH, Urt. v. 10.7.2019 – Rs. C-273/18 – Kursu zeme). Der Bundesfinanzhof (BFH) hat sich der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) insoweit angeschlossen (BFH, Urt. v. 22.8.2019 – V R 50/16; BFH, Urt. v. 30.6.2015 – VII R 30/14 – Tz. 27; BFH, Urt. v. 11.10.2007 – V R 27/05, Rdnr. 63; BFH, Urt. v. 10.12.2008 – XI R 57/06), als er zuletzt formulierte: „Hat ein nach seiner Unternehmenstätigkeit zum Vorsteuerabzug berechtigter Rechnungsempfänger eine gesetzlich nicht geschuldete, aber gleichwohl in einer – ansonsten ordnungsgemäßen – Rechnung ausgewiesenen Umsatzsteuer gezahlt, kann er im Rahmen eines sogenannten Direktanspruchs entsprechend dem EuGH-Urteil Reemtsma eine „Rückzahlung“ von der Finanzverwaltung verlangen, wenn eine Rückforderung vom Rechnungsaussteller …. übermäßig erschwert ist. Hierüber ist im Billigkeitsverfahren gemäß § 163 AO zu entscheiden“ (BFH, Urt. v. 22.8.2019 – V R 50/16 – Tz. 16; BFH, Urt. v. 30.6.2015 – VII R 30/14 – Tz. 23, 24). Das grundsätzlich dem Finanzamt im Rahmen der Billigkeitsentscheidung gemäß §§ 163, 227 AO zustehende und im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfungsfähige Ermessen reduziert sich auf null, wenn die vom EuGH postulierten Voraussetzungen für den Direktanspruch vorliegen (BFH, Urt. v. 30.6.2016 – VII R 30/14 – Tz. 28). Voraussetzung für einen direkten Anspruch des Leistungsempfängers gegenüber dem Fiskus ist allerdings, dass ein grundsätzlich zivilrechtlich einzufordernder Rückforderungsanspruch des Leistungsempfängers gegenüber dem Leistungserbringer übermäßig erschwert, weil zum Beispiel wegen Eintritts der zivilrechtlichen Verjährung nicht realisierbar ist.

Regelung durch die Verwaltung

Am einfachsten ließe sich das zuvor beschriebene Problem der Verletzung des Neutralitätsgrundsatzes dadurch lösen, dass bei divergierender Rechtsauffassung seitens der Finanzbehörden stets das Finanzamt des Leistungserbringers oder bei divergierender Beurteilung innerhalb eines Finanzamtes stets der für den Leistungserbringer zuständige Sachbearbeiter für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung des Sachverhalts – im Wege einer Verwaltungsanweisung – zuständig wäre. Ein damit einhergehender möglicher Zeitverzug wäre zugunsten einer einvernehmlichen Lösung hinnehmbar.

Bild: Abstrakt Vektor erstellt von macrovector – de.freepik.com

Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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