Umsatzsteuerrecht - 24. März 2022

Wann ist es Freizeit?

Durch einige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in jüngster Zeit scheint nunmehr unionsrechtlich geklärt, dass nur noch rein staatliche Unterrichte als Bildungsleistungen im Rahmen einer Steuerbefreiung begünstigt werden können.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bleibt bei seiner Begründung der Urteile zu Fahr-, Surf-, Segel- und Schwimmschulen (EuGH, Urteil vom 14.03.2019 – C-449/17 – A & G Fahrschul-Akademie GmbH; EuGH, Be­schluss vom 07.10.2019 – C-47/19 – HA; EuGH, Urteil vom 21.10.2021 – C-373/19 – Dubrovin & Tröger GbR – Aqua­tics) aber konkrete Antworten schuldig. Was genau will er unter einer „punktuellen Wissensvermittlung“ verstehen und wie hat die Abgrenzung zu einem breiten und vielfälti­gen Spektrum der Stoffvermittlung im Rahmen eines integ­rierten Systems der Vermittlung von Kenntnissen und Fä­higkeiten durch aufeinander aufbauende und ineinander-greifende Unterrichte zu erfolgen? In letzter Konsequenz führt auch der Nachhilfeunterricht in Deutsch, Englisch oder Mathematik nur zu einer punktuellen Unterrichtsleis­tung, wie auch jede Spezialisierung innerhalb des Schul­plans (Altgriechisch, Teleologie und so weiter) speziell und punktuell erteilter Unterricht bleibt. Konsequent umge­setzt, sind mit diesen Aussagen des EuGH auch der Schwimm-, Tennis-, Reit-, Segel- und Skiunterricht vor al­lem der Volkshochschulen zukünftig steuerpflichtig, die bislang in den Umsatzsteuer-Anwendungserlassen (UStAE) von der Verwaltung (Abschn. 4.22.1 Abs. 4 UStAE) als steu­erbefreite Veranstaltungen bewertet wurden. Selbst die bislang unstreitig als steuerfrei behandelten Leistungen von Ballett- und Tanzschulen im Bereich einer tänzerischen Früherziehung und des Kindertanzens für Kinder ab drei Jahren sowie des klassischen Ballettunterrichts (vgl. Ab­schn. 4.21.2 Abs. 8 S. 3 UStAE) könnten dieser neuen Be­wertung unterfallen und demnächst von der Finanzverwaltung als steuerpflichtig behandelt werden.

Zweck der Bildungsleistungen gefährdet

Den betroffenen Unternehmungen bleibt nur die Möglich­keit, im Einzelfall nachzuweisen, dass ihre Unterrichtsleis­tungen als Teilhabe am Erziehungsauf­trag der staatlichen Schulen beziehungs­weise als integrativer Bestandteil des staatlichen Bildungssystems zu verste­hen sind, wie etwa die im Allgemeinen Deutschen Tanzlehrerverband organi­sierten Tanzschulen aufgrund ihrer viel­fältigen Kooperationsvereinbarungen mit den staatlichen Schulen. Die Steuerbe­freiung für Bildungsleistungen verfolgte ursprünglich den Zweck, den Zugang zu den voranstehend skizzierten Bildungs­leistungen nicht durch höhere Kosten zu versperren. Ange­sichts einer um 12 Prozentpunkte höheren Umsatzsteuer­belastung für diese Bildungsleistungen bleibt nun unklar, wie dieser Zweck bei all den durch die neue Begriffsbe­stimmung des EuGH ausgelösten Ausgrenzungen für bis­lang begünstigte Bildungsangebote noch erreicht werden soll.

Nationale Norm versus Unionsrecht

Die nationale Steuerbefreiungsnorm für die sogenannten Bildungsleistungen in § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. b Umsatzsteuergesetz (UStG) ist mit Art. 132 Abs. 1 Buchst. i Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL S. 27) nicht unionskompatibel. Im Unterschied zum Unionsrecht ver­langt die nationale Befreiungsnorm – so jetzt auch aus­drücklich der Bundesfinanzhof (BFH) – in § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. b UStG für die Steuerbefreiung als materi­elle Tatbestandsvoraussetzung die Bescheinigung einer an­deren Behörde, in der Regel der Kultusbehörde (BFH, Urteil vom 23.05.2019 – V R 7/19 V R 38/16). Die nationale Norm der Befreiung in § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. b UStG ist nicht richtlinienkonform auslegbar.

Anwendungsvorrang

Es gilt damit der sogenannte Anwendungsvorrang. Die oder der Steuerpflichtige kann sich direkt und unmittelbar auf das Unionsrecht berufen (BFH, Vorlagebeschluss vom 27.03.2019 – V R 32/18, Rz. 17). Sowohl in den Fahrschul-und Surf-Urteilen wie auch den Entscheidungen zu Segel-und Schwimmschulen lagen aber keine Bescheinigungen gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. b UStG vor, so­dass den Steuerpflichtigen in allen Fällen nur die direkte Berufungsmöglichkeit auf das Unionsrecht in Art. 132 Abs. 1 Buchst. i (und j) MwStSystRL blieb. Im Rahmen der vom EuGH vorgenommenen unionsrechtlich-autonomen Begriffsbestimmung „Schul- und Hochschulunterricht“ hing damit die Frage der Steuerbefreiung als Bildungsleis­tung ausschließlich von der durch den EuGH vorgenomme­nen Konkretisierung des Begriffs „Schul- und Hochschulun­terricht“ ab – und wurde vom EuGH verneint. Die nationale Norm mit ihrer Auslegung und Interpre­tation spielt insoweit keine Rolle.

Wahlrecht des Steuerpflichtigen

Umgekehrt folgt hieraus aber, dass die nationale Befreiungsnorm des § 4 Nr. 21 UStG und damit allein das nationale Recht zur Anwendung kommen kann, wenn diese Berufungsmöglichkeit für den Steuerpflichtigen günstiger ist (soge­nannter Anwendungsvorrang mit Wahl­recht). Die Aussagen des EuGH zur unionsrechtlichen Aus­legung des Begriffs „Bildungsleistung“ in Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL können nur noch insoweit das natio­nale Recht beeinflussen, als einzelne materielle Tatbe­standsmerkmale für die Befreiung im Wege einer richtlini­enkonformen Interpretation unionsrechtlich auslegungsfä­hig sind. Darüber hinaus haben die Aussagen des EuGH zum Anwendungsbereich des Art. 132 Abs. 1 Buchst. i MwStSystRL keinerlei Ausstrahlungswirkung auf das natio­nale Recht. Die nationale Befreiungsnorm in § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. b UStG formuliert für gewerbliche Anbieter von Bildungsleistungen drei maßgebliche Voraus­setzungen, nämlich zum einen die Bescheinigung der zu­ständigen Landesbehörde, zum anderen eine andere allge­meinbildende oder berufsbildende Einrichtung und schließ­lich eine Leistung, die unmittelbar dem Schul- und Bil­dungszweck dient.

Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde

Die dem Unionsrecht fremde Bescheinigung ist materielle Voraussetzung für die Steuerbefreiung. Sie entfaltet indizi­elle Wirkung für die von der Finanzverwaltung zu prüfen­den Voraussetzungen des § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppel­buchst. b UStG (BFH, Urteil vom 24.01.2008 – V R 3/05). Die indizielle Beweiswirkung gilt vor allem für die Abgren­zung der begünstigten Unterrichtsleistung zu einer Tätig­keit, die den Charakter einer bloßen Freizeitgestaltung auf­weist. Bislang ist der EuGH aber eine konkrete Antwort schuldig geblieben, wann eine Unterrichtsleistung den Cha­rakter einer bloßen Freizeitgestaltung aufweist und wie in den Fällen zu verfahren ist, in denen die Freizeitgestaltung nicht den Hauptzweck der Tätigkeit ausmacht.

Allgemein- oder berufsbildende Einrichtung

Eine Unterscheidung in allgemein- und berufsbildende Ein­richtungen mit einer Differenzierung in zulässige und schäd­liche Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten ist dem Unionsrecht fremd. Daher kann die vom EuGH bemühte Ab­grenzung der begünstigten von einer nicht begünstigten Bil­dungsleistung keine Rolle spielen. Denn dem nationalen Tat­bestandsmerkmal „andere allgemeinbildende oder berufsbil­dende Einrichtung“ steht die einengende Definition von Schul- und Hochschulunterricht mit dem maßgeblichen Ab­grenzungskriterium eines schädlichen „spezialisierten“ und „punktuell“ erteilten Unterrichts gegenüber, sodass eine richtlinienkonforme Auslegung insoweit ausscheidet.

Schul- und Bildungszweck dienende Leistungen

Die als steuerfrei zu beurteilende Leistung dient unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck, wenn sie innerhalb eines festgelegten Lehrprogramms oder Lehrplans erbracht wird (vgl. Abschn. 4.21.2 Abs. 2 S. 2 UStAE) und den Schul- und Bildungszweck nicht nur ermöglicht, sondern selbst bewirkt (BFH, Urteil vom 21.03.2007 – V R 28/04). Entscheidend sind die Art der erbrachten Leistung und ihre generelle Eignung, den Zielen der Allgemeinbildung oder der Berufsaus- und -fortbildung zu dienen (BFH, Urteil vom 24.01.2008 – V R 3/05). Auch hier verbietet sich eine richtlinienkonforme In­terpretation des nationalen Tatbestandsmerkmals „unmittel­bar dem Schul- und Bildungszweck dienende Leistung“ unter Beachtung der einschränkenden Definition des Begriffs „Schul- und Hochschulunterricht“ durch den EuGH. Es geht um die dem Zweck der Bildung und der Schule dienenden Leistungen, nicht dagegen um „Schul- und Hochschulunter­richt“. Allgemeinbildend ist der Zweck, wenn es um die Ver­mittlung von Wissen geht, das die Grundlage von Leben und Bildung darstellt. Dieser Zweck ist weiter gehender als nur ein am Schul- und Hochschulunterricht ausgerichteter Zweck, wie er der Definition des EuGH zugrunde liegt. Ge­genstand der Allgemeinbildung ist etwa ein den sozialen Standards entsprechendes kommunikatives Miteinander, wie es beispielsweise Tanzschulen in ihren Grundkursen des Welttanzprogramms oder ihren Medaillenkursen vermitteln.

Schlussfolgerungen

Solange der deutsche Gesetzgeber das nationale Recht nicht an die unionsrechtlichen Vorgaben anpasst, können sich die gewerblichen Bildungsleistungsanbieter mit ihren Unterrichtsleistungen auf das für sie günstigere deutsche Recht unter Hinweis auf die Bescheinigung der (bisherigen) Befreiung ihrer Unterrichtsleistungen berufen. Die Vorlage der Bescheinigung gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppel­buchst. b UStG eröffnet national – fernab der Definitionseinengungen des EuGH zum Begriff des „Schul- und Hoch­schulunterrichts“ – den Weg in die Steuerbefreiung gemäß § 4 Nr. 21 Buchst. a Doppelbuchst. b UStG, vorausgesetzt die zu befreiende Tätigkeit weist nicht den Charakter einer reinen Freizeitgestaltung auf. Eine weiter gehende richtlini­enkonforme Interpretation des nationalen Rechts – soweit die Finanzbehörde prüfungsberechtigt ist – scheidet aus. Dies gilt jedenfalls so lange, wie der Gesetzgeber § 4 Nr. 21 UStG nicht neu kodifiziert und an das Unionsrecht anpasst. So gesehen können wir uns Bildung auch umsatzsteuerlich noch leisten.

Zum Autor

Prof. Dr. Hans Nieskens

Steuerberater und Rechtsanwalt sowie Vorsitzender des UmsatzsteuerForums e. V. Gutachter für steuerrechtliche Fragestellungen und Sachverständiger im Gesetzgebungsverfahren.

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