Rechtsschutz in Steuersachen - 21. Dezember 2020

Völlig anders

Die Meinungen gehen auseinander, und es entsteht zu Unrecht der Eindruck, dass es hierzulande beim Steuerrechtsschutz erhebliche Defizite gibt.

Der fiskalische Rechtsschutz besteht in Deutschland aus drei Stufen: dem Einspruchsverfahren, dem finanzgerichtlichen Verfahren sowie gegebenenfalls einem Revisionsverfahren beim Bundesfinanzhof. Es ist aber keineswegs so, dass ansonsten ein fünfstufiger Rechtsschutz üblich ist. In verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren kommt man mit einem vorausgehenden Widerspruchsverfahren auf vier Stufen. Vor den Zivilgerichten gibt es nur drei Ebenen – Eingangsinstanz, Berufung und Revision – und in strafgerichtlichen Prozessen mitunter sogar nur zwei. Daher ist der fiskalische Rechtsschutz nicht schlechter als der in anderen Gerichtszweigen. Als Eingangsinstanz sind die Senate der Finanzgerichte (FG) mit drei Berufsrichtern und zwei Laienrichtern besetzt, sodass hier, anders als in den meisten weiteren Gerichtsbarkeiten, schon in der ersten Instanz sehr viel mehr Fachkenntnis versammelt ist.

Entscheidung durch Einzelrichter

Die im Artikel Erosion des Rechts enthaltene Aussage, dass zwei Drittel aller Entscheidungen der FG durch einen Einzelrichter getroffen werden, ist in dieser Pauschalität ebenfalls unzutreffend. Gemäß den Angaben des Statistischen Bundesamts wurden 2019 vor den FG insgesamt 32.574 Verfahren erledigt, davon 5.880 durch Urteil und 1.693 durch Gerichtsbescheid. 11.097 wurden durch Kostenentscheidung nach Erledigung, das heißt im Regelfall nach einer Einigung der Parteien im Rahmen der Erörterung vor dem FG erledigt. 10.765 Verfahren wurden nach Klagerücknahme eingestellt und der Rest entfällt auf verschiedene kleinere Positionen. Die abschließende Entscheidung wurde in 6.819 Fällen vom Senat, in 21.111 Fällen vom Vorsitzenden und in 4.644 Fällen von einem Einzelrichter getroffen (Fachserie 10 Reihe 2.5: Rechtspflege. Finanzgerichte, erschienen am 29. 05. 2020). Der Vorsitzende kann dabei nur Entscheidungen in bestimmten Fällen treffen, in denen es nicht um einen Rechtsstreit, sondern beispielsweise um Aussetzungen, Ruhen des Verfahrens, Prozesskostenhilfe, Streitwertfestsetzung, Kostenentscheidungen oder Ähnliches geht. Diejenigen Fälle, in denen es ein Urteil oder einen Gerichts­bescheid gab, wurden zu fast genau 90 Prozent vom Senat ­getroffen. Ich habe in meiner Laufbahn auch keine streitige Entscheidung eines Verfahrens vor dem FG mit einem Einzelrichter erlebt.

Rechtsbehelfsstelle

Unzutreffend ist ebenfalls, dass die Rechtsbehelfsstellen beim Finanzamt nicht eigenständig entscheiden. Es ist unbestreitbar, dass Entscheidungen des Veranlagungsbeamten oder des Betriebsprüfers von der Rechtsbehelfsstelle oft geteilt werden. Es ist aber keineswegs so, dass dies gleichsam automatisch erfolgt. Ich habe es in meiner eigenen Praxis mehrfach erlebt, dass die Rechtsbehelfsstelle für den Steuerpflichtigen entscheidet – zuletzt in einem Verfahren, in dem die Einspruchsstelle entgegen der Auffassung des Betriebsprüfers, der von einer Liebhaberei ausging, eine Gewinnerzielungsabsicht bejahte.

Revision und Nichtzulassungsbeschwerde

Hinsichtlich der Ausführungen zu Revisionsverfahren vor dem BFH ist darauf hinzuweisen, dass in allen Zweigen der Gerichtsbarkeit, ausgenommen der Strafgerichtsbarkeit, die Revision nur dann möglich ist, wenn sie im Urteil der vorangegangenen Instanz zugelassen wurde. Andernfalls ist nur die Nichtzulassungsbeschwerde möglich. Es gibt keine Statistik darüber, in wie vielen der jährlich durch Urteil oder Gerichtsbescheid der FG abgeschlossenen Verfahren die Revision ­zugelassen wurde. Nach dem Jahresbericht 2019 des BFH wurden im selben Jahr 478 Revisionen und 1.226 Nichtzulassungsbeschwerden eingelegt. Von den im Jahr 2019 erledigten 1.265 Nichtzulassungsbeschwerden, die teilweise auch noch aus dem Vorjahr stammten, wurden 410 als unzulässig zurückgewiesen. Diese Quote liegt deutlich unter den Zahlen anderer Gerichtsbarkeiten, bei denen teilweise 90 Prozent der Nichtzulassungsbeschwerden als unzulässig zurückgewiesen werden. Ebenfalls ist darauf hinzuweisen, dass die Revisionsinstanz allein die richtige Auslegung der Gesetzesvorschriften durch die FG überprüft, nicht aber den Sachverhalt neu bewertet. Selbst eine fehlerhafte Anwendung einer richtig ausgelegten Gesetzesvorschrift führt nicht automatisch zur Zulässigkeit der Revision.

Einstweiliger Rechtsschutz

Unbefriedigend ist oft die Verfahrensdauer. Noch immer gehören Finanzgerichtsverfahren zu den Prozessen, denen eine sehr lange Dauer anhaftet. Das liegt insbesondere daran, dass bei Steuerbescheiden der Einspruch anders als bei Verwaltungsakten keine aufschiebende Wirkung hat und ein nicht unerheblicher Teil der gerichtlichen Verfahren auf den einstweiligen Rechtsschutz entfällt. Auf die oben genannten 32.574 erledigten Hauptsachverfahren im Jahr 2019 kamen 5.204 im einstweiligen Rechtsschutz, was bedeutet, dass rund jedes siebte Verfahren vorrangig bearbeitet werden musste. Ein Richter des FG Berlin-Brandenburg teilte mir einmal mit, dass über ein Viertel seiner Akten auf einstweiligen Rechtsschutz entfielen. Das führt dazu, dass sich die anderen Verfahren verzögern. Nach meinen Erfahrungen sind Beschlüsse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren aber so gut begründet, dass sie dann, wenn sie während eines laufenden Einspruchsverfahrens erfolgen, oft ein Klageverfahren entbehrlich machen.

Fazit

Soweit der Autor des Artikels Erosion des Rechts, Dr. Jürgen C. Müller, feststellt, dass es einen Rechtsschutz im Steuerrecht hierzulande eigentlich nicht gebe, ist dies aus meiner Sicht unzutreffend und überzogen. Es mag Einzelfälle geben, in denen Gerichtsentscheidungen fehlerhaft sind. Das liegt aber in der Natur der Sache, da Menschen handeln. In ihrer Pauschalität sind die erhobenen Vorwürfe aber unzutreffend.  

Zum Autor

AK
Prof. Dr. Andreas Klose

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht sowie für Handels- und Gesellschaftsrecht; Partner bei Hümmerich & Partner Rechtsanwälte Steuerberater mbB in Potsdam

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