Aufgrund der aktuellen Rechtsprechung sind die Möglichkeiten der Verteidigung im Fall von Steuerschätzungen reduziert, da es auch für strafrechtliche Zwecke zulässig ist, den Sachverhalt der Höhe nach im Schätzwege zu bestimmen.
In der Praxis werden die Formen der Umsatzschätzung nicht nur dem Besteuerungsverfahren zugrunde gelegt, sondern auch im Strafverfahren als anerkannte Möglichkeiten zur Ermittlung des Steuerschadens bemüht. Zwar bietet § 396 Abgabenordnung (AO) die Möglichkeit, das Strafverfahren auszusetzen, bis über die Steuerfestsetzung rechtskräftig entschieden wurde. Die wenigsten Strafgerichte warten jedoch ab, bis ein Finanzgericht über einen möglichen Steueranspruch entschieden hat. Das Strafgericht darf nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) die steuerlichen Schätzungen nicht ungeprüft übernehmen (vergleiche BGH-Urteil vom 26.04.2001, 5 StR 448/00). Der BGH hat allerdings in seinem Beschluss vom 6. April 2016 (Az. 1 StR 523/15) erneut bestätigt, dass sogar eine pauschale Schätzung auch unter Heranziehung der Richtwerte für Rohgewinnaufschlagsätze aus der Richtsatzsammlung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) oder etwa unter Heranziehung von Erfahrungssätzen vergleichbarer Betriebe zulässig ist, sofern eine konkrete Ermittlung oder Schätzung der tatsächlichen Umsätze nicht möglich oder fehlerhaft ist. Der BGH reduziert damit in ständiger Rechtsprechung die Verteidigungsmöglichkeiten im Fall der Steuerschätzung, da es auch für strafrechtliche Zwecke zulässig bleibt, einen Steuersachverhalt im Schätzwege der Höhe nach zu bestimmen. Der Nachweis der konkreten Steuerverkürzung ist nicht erforderlich. Es obliegt vielmehr dem Steuerpflichtigen, darzulegen, dass die Steuerschätzung im konkreten Fall unzutreffend ist.
Abschläge
Üblicherweise behelfen sich die befassten Strafgerichte in Deutschland damit, dass sie auf die durch sie verprobte steuerliche Schätzung strafrechtliche Abschläge anwenden, die etwaige Unwägbarkeiten zulasten des Steuerpflichtigen ausgleichen sollen. Die Spanne für solche Abschläge liegt zwischen zehn und 50 Prozent der Schätzwerte. Das hängt ganz davon ab, wie konkret die Schätzung begründet werden kann, oder ob beispielsweise eine Vollschätzung auf Branchenvergleichskennzahlen erstellt werden musste, die nicht geeignet ist, die individuellen Betriebserfordernisse bestmöglich widerzuspiegeln.
In der Praxis ist festzustellen, dass Betriebsprüfungs- oder Steuerfahndungsberichte vermehrt Ausführungen beinhalten, die offensichtlich der Staatsanwaltschaft einen Anhaltspunkt für den strafrechtlichen Verkürzungsbetrag geben sollen. Häufig findet man Ausführungen, dass zugunsten des Steuerpflichtigen am untersten Rand einer Schätzungsbefugnis beziehungsweise der Richtsatzsammlung geschätzt wurde, oder auch Aussagen dazu, dass zugunsten des Steuerpflichtigen bereits pauschale Abschläge bei der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen berücksichtigt wurden. Diese und ähnliche Berichtsinhalte wird die Staatsanwaltschaft zum Anlass nehmen, den möglichen Unwägbarkeitsabschlag mit der Argumentation gering zu halten, dass zugunsten des Steuerpflichtigen bereits im Besteuerungsverfahren großzügige Abschläge berücksichtigt worden seien. Es empfiehlt sich häufig, eine eigene Kalkulation vorzunehmen, da man nur so dem pauschalen Ansinnen der Staatsanwaltschaft qualifiziert entgegentreten kann.
Sicherheitszuschläge
Es ist daher immer ratsam, Sicherheitszuschläge anstelle der Vornahme von Teil- oder Vollschätzungen zu akzeptieren.
Etwas anderes gilt für Sicherheitszuschläge. Soweit die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) auch Sicherheitszuschläge zum Ausgleich von Sachverhaltsunsicherheiten zulasten des Steuerpflichtigen erlaubt, ist dieser Vorgehensweise kein Nachweis einer tatsächlichen objektiven Steuerhinterziehung zu entnehmen. Die Beweislast obliegt weiterhin den Strafverfolgungsbehörden und kann ohne weiteren Nachweis einer tatsächlich nach Art und Höhe erfüllten Steuerverkürzung nicht geführt werden. Es ist daher in strafrechtlicher Hinsicht immer ratsam, Sicherheitszuschläge anstelle der Vornahme von Teil- oder Vollschätzungen zu akzeptieren. Die strafrechtlichen Auswirkungen zeigen sich anhand von zwei Beispielen aus der Praxis.
Fehlende Updates
Während einer Betriebsprüfung erkennt der Prüfer, dass seit 2014 die Updates für das eingesetzte elektronische Kassensystem nicht aufgespielt wurden. Wegen der fehlenden Updates konnten die Einzeldaten der elektronischen Kassenaufzeichnungen nicht länger als einen Monat gespeichert werden. Die Betriebsprüfung stellte im Rahmen einer Nachkalkulation kleine Differenzen fest, stützte sich aber auf das BMF-Schreiben vom 26. November 2010. Bei der Schlussbesprechung einigte man sich auf einen Sicherheitszuschlag von zehn Prozent. Nach Abschluss des Betriebsprüfungsberichts leitet der Prüfer seine Feststellungen an die zuständige Bußgeld- und Strafsachenstelle weiter.
Sichtweise des Strafverteidigers
Hier hat der Strafverteidiger gute Karten, da die Bußgeld- und Strafsachenstelle beziehungsweise die Staatsanwaltschaft nachweisen muss, dass tatsächlich – objektiv wie subjektiv – Steuern verkürzt wurden. Vielmehr begnügt sich die Bußgeld- und Strafsachenstelle mit der Abwägung des strafrechtlichen Vorwurfs im Hinblick auf die persönliche Schuld und die zu findende Individualstrafe. Sofern der Verteidiger hier Einwände sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht gegen die Vornahme von Sicherheitszuschlägen dem Grunde wie der Höhe nach vorbringen kann, besteht durchaus die Möglichkeit, dass ein zunächst eingeleitetes Strafverfahren folgenlos wieder eingestellt wird. Nach einer solchen Betriebsprüfung ist der Steuerpflichtige allerdings gut beraten, die Mängel, die zum Sicherheitszuschlag geführt haben, abzustellen, um einem späteren Vorwurf der billigenden Inkaufnahme eines weiteren Verstoßes zu entgehen.
Fehlende Programmierprotokolle
Bei einer Außenprüfung stellt der Prüfer fest, dass es keine Programmierprotokolle für das elektronische Buchführungssystem gibt. Die daraufhin durchgeführte Nachkalkulation führte zu keinen verwertbaren Ergebnissen. Daher erstellt der Prüfer eine Geldverkehrsrechnung. Dabei wird festgestellt, dass in den Jahren eins und zwei ein entsprechender Überschuss verbleibt, der die üblichen Lebenshaltungskosten decken würde. Im Jahr drei jedoch verbleibt zusätzlich zu den üblichen Lebenshaltungskosten noch ein weiterer Überschuss von rund 100.000 Euro. Da kein Nachweis erbracht werden konnte, wofür diese zusätzlichen 100.000 Euro verwendet wurden, gelangte die Betriebsprüfung zur Erkenntnis, dass der Betriebsinhaber einen tatsächlich dauerhaft gehobenen Lebensstandard hat und unterstellt diesen nicht nur für die Jahre eins und zwei, sondern eröffnet ein Strafverfahren und dehnt den Prüfungszeitraum auf zehn Jahre aus.
Sichtweise des Strafverteidigers
Mit solchen Fällen rechnen wir zukünftig vermehrt. Da die Schätzungsbefugnis auch im Strafrecht grundsätzlich anerkannt ist, führt es bei hinreichenden Anhaltspunkten, wonach der Lebenssachverhalt auch in den zurückliegenden Jahren entsprechend gehandhabt wurde, dazu, dass bei Vorliegen einer Steuerhinterziehung eine zehnjährige Festsetzungsverjährung greift. Vermeintlich bestandskräftige Veranlagungsjahre können mit denselben Methoden der Schätzung neu kalkuliert werden. Für die vergangenen zehn Jahre können Mehrsteuern und Hinterziehungszinsen festgesetzt werden. Nur wenn die Steuerverkürzung aller Steuerarten pro Veranlagungszeitraum 50.000 Euro übersteigt, verlängert sich auch die Strafverfolgungsverjährung von fünf auf zehn Jahre. Nicht selten verbleibt es strafrechtlich daher bei der Ahndung des kürzeren Zeitraums. In der Regel sind diese Fälle für den Steuerpflichtigen jedoch in finanzieller Hinsicht besonders belastend und teilweise sogar existenzgefährdend. Deshalb muss es im Interesse des Beraters liegen, die Ausweitung der Betriebsprüfung zu verhindern. Auch hier kann eine Flucht in die Diskussion pauschaler Sicherheitszuschläge hilfreich sein.
Fotos: bonetta; burakkarademir; Classen Rafael; Roc Canals Photography / Getty Images
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