Wie schwierig sich die Europäische Union damit tut, das Recht innerhalb der Gemeinschaft zu synchronisieren, sieht man vor allem im Bereich der Steuern. Dies ist bedauerlich, gilt es doch eigentlich, einen Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden.
Bei den Harmonisierungsbestrebungen in der Europäischen Union (EU) nimmt das Steuerrecht eine besondere Stellung ein. Sowohl das Recht, Steuern zu erheben und deren Höhe festzusetzen, als auch das Recht, Steuern wieder abzuschaffen, obliegt den Mitgliedstaaten – und daran hat sich auch in 70 Jahren Europa wenig geändert. Während die Steuerhoheit ein ureigenes Recht der Staaten bleibt, sind die Handlungsmöglichkeiten der EU in Steuerangelegenheiten immer noch beschränkt.
Die europäische Einigung
Vorrangige Motivationen bei der Gründung der Vorläuferorganisation der EU nach dem Zweiten Weltkrieg, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch EGKS oder Montanunion, waren die politische Annäherung der Mitgliedstaaten sowie die Harmonisierung des gemeinsamen Wirtschaftsraums. Wesentliche Impulse gingen dabei von den Gründungsstaaten aus, namentlich der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden. Initiator des EGKS-Vertrags war der frühere französische Außenminister und ursprünglich deutsche Staatsbürger Robert Schuman, aufgrund dessen Pionierarbeit das Vorhaben zur europäischen Einigung auch als Schuman-Plan bezeichnet wird. In dem Bewusstsein der Konflikte jener Zeit, die auch in der Biografie Schumans angelegt waren, bestand ein wesentliches Ziel der Bemühungen in der gemeinsamen Kontrolle der Montanindustrie durch die Mitgliedstaaten ohne Zollbeschränkungen. Auf diese Weise sollte der Frieden in Europa gefestigt und wirtschaftliches Wachstum generiert werden. Am 25. März 1957 wurde die Verbindung der europäischen Staaten mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verstärkt. Neu beschlossen wurde die Einsetzung eines Regierungsausschusses zur Ausarbeitung der Grundlagen und Möglichkeiten des gemeinsamen Binnenmarkts unter Einbezug verschiedener Wirtschaftssektoren. Die hierbei verfolgten Ziele bestanden unter anderem in der wirtschaftlichen Annäherung der beteiligten Staaten, in der Schaffung gemeinsamer, supranationaler Institutionen sowie in der Harmonisierung der Sozialsysteme durch allgemeine Sozialstandards. Diese Ziele waren nicht unumstritten und so begann bereits früh die Debatte über die Zukunft Europas, die von zwei gegenläufigen Weltanschauungen geprägt wurde. Während die sogenannten Institutionalisten eine weitreichende wirtschaftliche Integration der europäischen Staaten durch eine Harmonisierung der Wirtschaftsbestimmungen sowie Schaffung einer zentralen Institution (Hohe Behörde) anstrebten, standen auf der anderen Seite die Funktionalisten als Befürworter eines möglichst weitgehenden Freihandels ohne institutionelle Einschränkungen.
Offene Richtungsentscheidung
Der Höhepunkt der Harmonisierungsbestrebungen bestand 2004 in dem Versuch, eine Verfassung für Europa einzuführen, durch die das politische System der EU wesentlich reformiert werden sollte. Die Europäische Verfassung wurde im Jahr 2005 per Referendum in Frankreich und in den Niederlanden abgelehnt, notwendige institutionelle Reformen traten erst mit dem Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft. Soll das Ziel der EU nun die Integration Europas im Wege einer weitgehenden Harmonisierung aller Rechtsvorschriften sein? Oder soll die EU vorrangig eine Einrichtung sein, die in erster Linie den Freihandel fördert? Diese offene Richtungsentscheidung, die seit Beginn der europäischen Einigung pulsiert, hat sich zu einem, wenn nicht dem zentralen Streitpunkt innerhalb der EU entwickelt. Eine prominente Ausprägung fand dieser Konflikt zuletzt in dem Austritt Großbritanniens aus der EU, dem sogenannten Brexit.
Steuerwettbewerb und Binnenmarkt
Da die Steuerhoheit den Mitgliedstaaten zukommt, ist der EU-Binnenmarkt unterschiedlichen Steuergesetzen unterworfen, was zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Marktteilnehmerinnen und -teilnehmern beziehungsweise den dort ansässigen Unternehmen führen kann. Die Steuerpolitik ist das wichtigste Instrument des Staats, um Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Staaten zu erlangen. Genau das aber, einen sogenannten Steuerwettbewerb innerhalb der Mitgliedsländer der EU, gilt es grundsätzlich zu vermeiden, da dies im Gegensatz zu einem freien Handel auf dem Binnenmarkt steht. Das Ziel der Steuerharmonisierung wurde vor diesem Hintergrund bereits bei Gründung der damaligen EWG in Art. 93 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) bedacht. Die vorbezeichnete Norm stellt – in leicht veränderter Fassung – bis heute die Ermächtigungsgrundlage für die Organe der EU dar, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und die sonstigen indirekten Steuern zu schaffen [vgl. Art. 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), ex-Art. 93 EGV]. Voraussetzung für ein Tätigwerden der EU-Organe ist, dass eine Harmonisierung im Bereich der Steuern für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist. Dies ergibt sich bereits aus der systematischen Einordnung des Art. 113 AEUV in Titel VII AEUV betreffend die gemeinsamen Regeln zum Wettbewerb, zu Steuerfragen und zur Angleichung der Rechtsvorschriften (Art. 101–118 AEUV). Die Voraussetzungen der Regelung zeigen, dass die Hürden zur Angleichung einzelstaatlicher Steuerbestimmungen hoch sind. Im Grundsatz liegt die Steuerhoheit bei indirekten und direkten Steuern bei den Mitgliedstaaten. Europäische Regelungen kommen nur dort in Betracht, wo sie als notwendig erachtet werden, um den Binnenmarkt von Behinderungen und Wettbewerbsverzerrungen zu befreien.
Besonderes Gesetzgebungsverfahren
Ferner wurden erhöhte Anforderungen formeller Art festgelegt, so müssen Beschlüsse über Steuerangelegenheiten in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erfolgen. Der Rat muss Richtlinienvorschläge einstimmig auf Vorschlag der Kommission unter Anhörung des Parlaments beschließen. Das Einstimmigkeitserfordernis stellt in der Praxis eine hohe politische Hürde dar, die zu aufwendigem Abstimmungsbedarf zwischen den Staaten führt. Steuerpolitik ist Ländersache, die Abgabe dieses ureigensten Rechts muss in langwierigen Verhandlungen erkämpft werden. Entsprechend wurde in den letzten Jahren auf eine weitgehende Angleichung der Steuerpolitik verzichtet.
Rechtsprechung
Neben der Rechtsfortbildung durch Richtlinien trägt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Weiterentwicklung des Rechts bei. Der Gerichtshof als Hüter der Verträge verfügt über die Kompetenz, nationale Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die sich auf das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken, zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Folglich obliegt es dem EuGH, im Rahmen einer Rechtmäßigkeitsprüfung die konsequente Anwendung der Verträge zu kontrollieren und den Mitgliedstaaten Grenzen zu setzen. Ein aktiver Beitrag des Gerichts zur Steuerharmonisierung ist allerdings nicht vorgesehen.
Maßnahmen der europäischen Steuerpolitik
Mithin greifen die Maßnahmen der EU in den Spielraum der Mitgliedstaaten ein, und zwar immer dann, wenn ein Binnenmarktbezug besteht. Prioritäten der EU-Steuerpolitik liegen entsprechend in der Bekämpfung schädlichen Steuerwettbewerbs und dem Bereich Steuerhinterziehung. Wesentliche Steuerfragen, die im Fokus der EU stehen, umfassen insbesondere Maßnahmen zur Steuertransparenz (unter anderem automatischer Informationsaustausch), Maßnahmen zur Unternehmensbesteuerung (unter anderem Fragen zur Steuervermeidung) sowie Maßnahmen im Bereich Mehrwertsteuer (unter anderem Grundsätze für ein künftiges gemeinsames europäisches Mehrwertsteuersystem).
Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie
Einen Meilenstein im Bereich der Steuerharmonisierung stellt die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie aus dem Jahr 2006 dar. Neben der Bedeutung der Mehrwertsteuer für das Steueraufkommen der einzelnen Mitgliedstaaten sind die Auswirkungen der Mehrwertsteuersätze auf das Preisniveau zu berücksichtigen. Abweichende Mehrwertsteuersätze haben im Binnenmarkt unmittelbar Einfluss auf die Wettbewerbsbedingungen im grenzüberschreitenden Handel. Ferner stellen die Frage nach der Einhaltung der Mehrwertsteuergesetze sowie die wachsende Bedeutung des Online-Handels die Mitgliedstaaten vor neue Herausforderungen. Eine generelle Angleichung der Steuersätze ist vor dem Hintergrund des geltenden Rechts nicht möglich.
Faire Besteuerung und Steuertransparenz
Der Bereich der direkten Besteuerung ist von der Rechtssetzungsbefugnis der EU ausgenommen. Die Harmonisierung in den Bereichen Personen- und Unternehmensbesteuerung erfolgte bislang nur vereinzelt über die Einführung gemeinsamer Standards. Beispielhaft genannt werden können die Amtshilferichtlinie über die Auskunftserteilung zwischen den Finanzbehörden oder die Richtlinie betreffend Mutter- und Tochtergesellschaften. Gerade vor dem Hintergrund der Finanzkrise 2008 sowie des durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen Finanzbedarfs der Staaten ist davon auszugehen, dass Legislativvorschläge in den Bereichen faire Besteuerung und Steuertransparenz sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung und des schädlichen Steuerwettbewerbs in Zukunft eine größere Rolle spielen werden.
Harmonisierung im Bereich der Ertragsteuern
Den bislang letzten Anlauf einer Steuerharmonisierung im Bereich der Ertragsteuern stellt die Richtlinie über die länderbezogene Berichterstattung (Country-by-Country Reporting – CbCR) dar. Am 1. Juni 2021 erzielten die Vertreter der Institutionen der EU eine Einigung über die Richtlinie. Der Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2016 sieht vor, dass sowohl multinationale Unternehmen mit Sitz in der EU als auch multinationale Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU, die in der EU über eine Zweigniederlassung oder eine Tochtergesellschaft verfügen, die in jedem Mitgliedstaat gezahlten Einkommensteuern und andere steuerbezogene Informationen wie eine Aufschlüsselung der Gewinne, Umsätze und Beschäftigten pro Land offenlegen müssen. Voraussetzung ist ein konsolidierter Gesamtumsatz von mehr als 750 Millionen Euro in jedem der beiden letzten aufeinanderfolgenden Geschäftsjahre. Das Gesamtkompromisspaket führte zu einigen Änderungen des Vorschlags, darunter die Verpflichtung zur aufgeschlüsselten Berichterstattung, der Zeitplan der Überprüfungsklausel und die Umsetzungsfrist. Die Dauer der Schutzklausel, die es den Unternehmen ermöglicht, die Veröffentlichung wirtschaftlich sensibler Informationen aufzuschieben, beträgt weiterhin fünf Jahre. Der Vorschlag wird nun das formale Annahmeverfahren im Rat und im Europäischen Parlament durchlaufen. Nach der Verabschiedung werden die Mitgliedstaaten 18 Monate Zeit haben, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Das erste Geschäftsjahr für die Berichterstattung über Einkommensteuerinformationen wird das Jahr sein, das nach dem Jahr nach Ablauf der Umsetzungsfrist beginnt.