Harmonisierung der Steuern - 27. Januar 2022

Läuft noch nicht rund

Wie schwierig sich die Europäische Union damit tut, das Recht innerhalb der Gemeinschaft zu synchronisieren, sieht man vor allem im Bereich der Steuern. Dies ist bedauerlich, gilt es doch eigentlich, einen Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden.

Bei den Harmonisierungsbestrebungen in der Europäischen Union (EU) nimmt das Steuerrecht eine besondere Stellung ein. Sowohl das Recht, Steuern zu erheben und deren Höhe festzusetzen, als auch das Recht, Steuern wieder abzuschaffen, obliegt den Mitgliedstaaten – und daran hat sich auch in 70 Jah­ren Europa wenig geändert. Während die Steuerhoheit ein urei­genes Recht der Staaten bleibt, sind die Handlungsmöglichkei­ten der EU in Steuerangelegenheiten immer noch beschränkt.

Die europäische Einigung

Vorrangige Motivationen bei der Gründung der Vorläuferorga­nisation der EU nach dem Zweiten Weltkrieg, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch EGKS oder Montanuni­on, waren die politische Annäherung der Mitgliedstaaten sowie die Harmonisierung des gemeinsamen Wirtschaftsraums. We­sentliche Impulse gingen dabei von den Gründungsstaaten aus, namentlich der Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Frank­reich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden. Initiator des EGKS-Vertrags war der frühere französische Außenminister und ursprünglich deutsche Staatsbürger Robert Schuman, aufgrund dessen Pionierarbeit das Vorhaben zur europäischen Einigung auch als Schuman-Plan bezeichnet wird. In dem Bewusstsein der Konflikte jener Zeit, die auch in der Biografie Schumans an­gelegt waren, bestand ein wesentliches Ziel der Bemühungen in der gemeinsamen Kontrolle der Montanindustrie durch die Mit­gliedstaaten ohne Zollbeschränkungen. Auf diese Weise sollte der Frieden in Europa gefestigt und wirtschaftliches Wachs­tum generiert werden. Am 25. März 1957 wurde die Ver­bindung der europäischen Staaten mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) verstärkt. Neu beschlossen wur­de die Einsetzung eines Regie­rungsausschusses zur Ausarbei­tung der Grundlagen und Mög­lichkeiten des gemeinsamen Binnenmarkts unter Einbezug verschiedener Wirtschaftssekto­ren. Die hierbei verfolgten Ziele be­standen unter anderem in der wirt­schaftlichen Annäherung der beteilig­ten Staaten, in der Schaffung gemeinsamer, supranationa­ler Institutionen sowie in der Harmonisierung der Sozialsysteme durch allgemeine Sozialstandards. Diese Ziele waren nicht unumstritten und so begann bereits früh die Debatte über die Zukunft Europas, die von zwei gegenläufigen Weltanschauungen geprägt wurde. Wäh­rend die sogenannten Institutionalisten eine weitreichende wirtschaftliche Integration der europäischen Staaten durch eine Harmonisierung der Wirtschaftsbestimmungen sowie Schaffung einer zentralen Institution (Hohe Behörde) anstrebten, standen auf der anderen Seite die Funktionalisten als Befürworter eines möglichst weitgehenden Freihandels ohne institutionelle Ein­schränkungen.

Offene Richtungsentscheidung

Der Höhepunkt der Harmonisierungsbestrebungen bestand 2004 in dem Versuch, eine Verfassung für Europa einzuführen, durch die das politische System der EU wesentlich reformiert werden sollte. Die Europäische Verfassung wurde im Jahr 2005 per Referendum in Frankreich und in den Niederlanden abge­lehnt, notwendige institutionelle Reformen traten erst mit dem Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft. Soll das Ziel der EU nun die Integration Europas im Wege einer weitge­henden Harmonisierung aller Rechtsvorschriften sein? Oder soll die EU vorrangig eine Einrichtung sein, die in erster Linie den Freihandel fördert? Diese offene Richtungsentscheidung, die seit Beginn der europäischen Einigung pulsiert, hat sich zu einem, wenn nicht dem zentralen Streitpunkt innerhalb der EU entwickelt. Eine prominente Ausprägung fand dieser Konflikt zuletzt in dem Austritt Großbritanniens aus der EU, dem soge­nannten Brexit.

Steuerwettbewerb und Binnenmarkt

Da die Steuerhoheit den Mitgliedstaaten zukommt, ist der EU-Binnenmarkt unterschiedlichen Steuergesetzen unterworfen, was zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Markt­teilnehmerinnen und -teilnehmern beziehungsweise den dort ansässigen Unternehmen führen kann. Die Steuerpolitik ist das wichtigste Instrument des Staats, um Wettbewerbsvorteile ge­genüber anderen Staaten zu erlangen. Genau das aber, einen sogenannten Steuerwettbewerb innerhalb der Mitgliedsländer der EU, gilt es grundsätzlich zu vermeiden, da dies im Gegensatz zu einem freien Han­del auf dem Binnenmarkt steht. Das Ziel der Steuerharmonisierung wurde vor diesem Hintergrund bereits bei Gründung der da­maligen EWG in Art. 93 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) bedacht. Die vorbezeichnete Norm stellt – in leicht veränderter Fassung – bis heute die Ermächtigungsgrundlage für die Organe der EU dar, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Bestimmungen zur Har­monisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und die sonstigen indirekten Steuern zu schaffen [vgl. Art. 113 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), ex-Art. 93 EGV]. Voraussetzung für ein Tätigwerden der EU-Organe ist, dass eine Harmonisie­rung im Bereich der Steuern für die Errichtung und das Funkti­onieren des Binnenmarkts und zur Vermeidung von Wettbe­werbsverzerrungen notwendig ist. Dies ergibt sich bereits aus der systematischen Einordnung des Art. 113 AEUV in Titel VII AEUV betreffend die gemeinsamen Regeln zum Wettbewerb, zu Steuerfragen und zur Angleichung der Rechtsvorschriften (Art. 101–118 AEUV). Die Voraussetzungen der Regelung zei­gen, dass die Hürden zur Angleichung einzelstaatlicher Steuer­bestimmungen hoch sind. Im Grundsatz liegt die Steuerhoheit bei indirekten und direkten Steuern bei den Mitgliedstaaten. Europäische Regelungen kommen nur dort in Betracht, wo sie als notwendig erachtet werden, um den Binnenmarkt von Be­hinderungen und Wettbewerbsverzerrungen zu befreien.

Besonderes Gesetzgebungsverfahren

Ferner wurden erhöhte Anforderungen formeller Art festgelegt, so müssen Beschlüsse über Steuerangelegenheiten in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren erfolgen. Der Rat muss Richtlinienvorschläge einstimmig auf Vorschlag der Kommissi­on unter Anhörung des Parlaments beschließen. Das Einstim­migkeitserfordernis stellt in der Praxis eine hohe politische Hür­de dar, die zu aufwendigem Abstimmungsbedarf zwischen den Staaten führt. Steuerpolitik ist Ländersache, die Abgabe dieses ureigensten Rechts muss in langwierigen Verhandlungen er­kämpft werden. Entsprechend wurde in den letzten Jahren auf eine weitgehende Angleichung der Steuerpolitik verzichtet.

Rechtsprechung

Neben der Rechtsfortbildung durch Richtlinien trägt die Recht­sprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Weiterent­wicklung des Rechts bei. Der Gerichtshof als Hüter der Verträge verfügt über die Kompetenz, nationale Maßnahmen der Mitglied­staaten, die sich auf das Funktionieren des Binnenmarkts auswir­ken, zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Folglich obliegt es dem EuGH, im Rahmen einer Rechtmäßigkeitsprüfung die konsequente Anwendung der Verträge zu kontrollieren und den Mitgliedstaaten Grenzen zu setzen. Ein aktiver Beitrag des Ge­richts zur Steuerharmonisierung ist allerdings nicht vorgesehen.

Maßnahmen der europäischen Steuerpolitik

Mithin greifen die Maßnahmen der EU in den Spielraum der Mit­gliedstaaten ein, und zwar immer dann, wenn ein Binnenmarktbe­zug besteht. Prioritäten der EU-Steuerpolitik liegen entsprechend in der Bekämpfung schädlichen Steuerwettbewerbs und dem Be­reich Steuerhinterziehung. Wesentliche Steuerfragen, die im Fokus der EU stehen, umfassen insbesondere Maßnahmen zur Steuertransparenz (unter anderem automatischer Informations­austausch), Maßnahmen zur Unternehmensbesteuerung (unter anderem Fragen zur Steuervermeidung) sowie Maßnahmen im Bereich Mehrwertsteuer (unter anderem Grundsätze für ein künf­tiges gemeinsames europäisches Mehrwertsteuersystem).

Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie

Einen Meilenstein im Bereich der Steuerharmonisierung stellt die Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie aus dem Jahr 2006 dar. Ne­ben der Bedeutung der Mehrwertsteuer für das Steueraufkom­men der einzelnen Mitgliedstaaten sind die Auswirkungen der Mehrwertsteuersätze auf das Preisniveau zu berücksichtigen. Abweichende Mehrwertsteuersätze haben im Binnenmarkt un­mittelbar Einfluss auf die Wettbewerbsbedingungen im grenz­überschreitenden Handel. Ferner stellen die Frage nach der Ein­haltung der Mehrwertsteuergesetze sowie die wachsende Bedeu­tung des Online-Handels die Mitgliedstaaten vor neue Herausfor­derungen. Eine generelle Angleichung der Steuersätze ist vor dem Hintergrund des geltenden Rechts nicht möglich.

Faire Besteuerung und Steuertransparenz

Der Bereich der direkten Besteuerung ist von der Rechtsset­zungsbefugnis der EU ausgenommen. Die Harmonisierung in den Bereichen Personen- und Unternehmensbesteuerung er­folgte bislang nur vereinzelt über die Einführung gemeinsa­mer Standards. Beispielhaft genannt werden können die Amts­hilferichtlinie über die Auskunftserteilung zwischen den Fi­nanzbehörden oder die Richtlinie betreffend Mutter- und Tochtergesellschaften. Gerade vor dem Hintergrund der Fi­nanzkrise 2008 sowie des durch die Corona-Pandemie hervor­gerufenen Finanzbedarfs der Staaten ist davon auszugehen, dass Legislativvorschläge in den Bereichen faire Besteuerung und Steuertransparenz sowie Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuervermeidung und des schädlichen Steuerwettbe­werbs in Zukunft eine größere Rolle spielen werden.

Harmonisierung im Bereich der Ertragsteuern

Den bislang letzten Anlauf einer Steuerharmonisierung im Be­reich der Ertragsteuern stellt die Richtlinie über die länderbezo­gene Berichterstattung (Country-by-Country Reporting – CbCR) dar. Am 1. Juni 2021 erzielten die Vertreter der Institutionen der EU eine Einigung über die Richtlinie. Der Richtlinienentwurf der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2016 sieht vor, dass sowohl multinationale Unternehmen mit Sitz in der EU als auch multinationale Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU, die in der EU über eine Zweigniederlassung oder eine Tochter­gesellschaft verfügen, die in jedem Mitgliedstaat gezahlten Ein­kommensteuern und andere steuerbezogene Informationen wie eine Aufschlüsselung der Gewinne, Umsätze und Beschäftigten pro Land offenlegen müssen. Voraussetzung ist ein konsolidier­ter Gesamtumsatz von mehr als 750 Millionen Euro in jedem der beiden letzten aufeinanderfolgenden Geschäftsjahre. Das Gesamtkompromisspaket führte zu einigen Änderungen des Vorschlags, darunter die Verpflichtung zur aufgeschlüsselten Berichterstattung, der Zeitplan der Überprüfungsklausel und die Umsetzungsfrist. Die Dauer der Schutzklausel, die es den Unternehmen ermöglicht, die Veröffentlichung wirtschaftlich sensibler Informationen aufzuschieben, beträgt weiterhin fünf Jahre. Der Vorschlag wird nun das formale Annahmeverfahren im Rat und im Europäischen Parlament durchlaufen. Nach der Verabschiedung werden die Mitgliedstaaten 18 Monate Zeit ha­ben, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Das erste Geschäftsjahr für die Berichterstattung über Einkommensteuer­informationen wird das Jahr sein, das nach dem Jahr nach Ab­lauf der Umsetzungsfrist beginnt.

Zu den Autoren

Aziza Yakhloufi

Rechtsanwältin, Fachanwältin für Arbeitsrecht sowie Handels- und Gesellschaftsrecht, Associate Partner. Sie leitet die Niederlassung von Rödl & Partner am Standort Eschborn bei Frankfurt am Main.

Weitere Artikel der Autorin
HR
Hans-Peter Raible

Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sowie Chartered Accountant (UK) bei Rödl & Partner am Standort Birmingham (Vereinigtes Königreich)

Weitere Artikel des Autors