Der Bundesfinanzhof hat im Mai erstmals live im Fernsehen ein Urteil verkündet, bei dem die Steuergerechtigkeit gleich zweimal im Vordergrund stand. Zunächst in sachlicher Hinsicht, wonach gleiche steuerliche Leistungsfähigkeit nicht ungleich besteuert werden darf, und darüber hinaus in zeitlicher Dimension, da der steuerpflichtige Rentenanteil bis 2040 jährlich zunimmt und sich daher Gerechtigkeitsfragen ergeben, die folgende Generationen betreffen.
Hintergrund der Entscheidung des X. Senats des Bundesfinanzhofs vom 19. Mai 2021 (X R 33/19) und auch des Urteils X R 20/19 vom selben Tag, bei dem es zusätzlich um die steuerrechtliche Einordnung von Steigerungsbeträgen aus der gesetzlichen Höherversicherung gemäß § 269 Abs. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI), der Verfassungsmäßigkeit der Ertragsanteilsbesteuerung sowie der damit verbundenen Öffnungsklausel im Sinne des § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. bb S. 2 Halbs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) und der steuerlichen Behandlung von Rentenanpassungen ging, war die mit dem Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) 2005 realisierte Besteuerungsreform der sogenannten Schicht 1 oder Basisversorgung (gesetzliche Renten, Leistungen aus der landwirtschaftlichen Alterskasse, berufsständischen Versorgungseinrichtungen sowie aus privaten Basis- beziehungsweise Rürup-Rentenversicherungen im Sinne des § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG).
Großes Medieninteresse
Bereits im Vorfeld der beiden BFH-Entscheidungen zeichnete sich ein großes Medieninteresse ab, da dem Deutschen Bundestag drei Anträge der Fraktionen DIE LINKE vom 16. Mai 2019 (BT-Drucks. 19/10282), AfD vom 5. Juni 2019 (BT-Drucks. 19/10629; BT-Plenarprotokoll 19/104, S. 12721ff.) und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 14. Januar 2020 (BT-Drucks. 19/16494) mit dem Ziel vorgelegt worden waren, die Doppelbesteuerung von Renten zu vermeiden, die Besteuerung von Alterseinkünften zu vereinfachen und diese an den Bedürfnissen der Rentnerinnen und Rentner auszurichten. Aufgrund dieser Anträge forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem entsprechende Maßnahmen ergriffen werden sollen. Zu der Gesetzesinitiative fand am 29. Januar 2020 eine Anhörung im Finanzausschuss des Deutschen Bundestags statt, zu der ich als Sachverständiger geladen war.
Ausgangslage
Bereits vor jenen beiden Urteilen vom 19. Mai 2021 hatte der BFH klargestellt, dass die bei Rentenbeginn nach 2039 eintretende volle Einkommensteuerpflicht von Leibrenten und anderen Leistungen der Schicht 1 auch im Vergleich zu anderen, jedoch nur teilweise steuerpflichtigen Altersbezügen der Schicht 3 (resultierend aus privaten Lebens- und Rentenversicherungen oder dem Verkauf von Unternehmen beziehungsweise Grundbesitz) sowie die Grundsystematik der in § 10 Abs. 3 S. 4–6 EStG und § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa S. 3 EStG kodifizierten und von 2005 bis 2039 reichenden Übergangsregelung nicht verfassungswidrig seien (vgl. insbesondere BFH vom 26.11.2008 – X R 15/07 und BFH vom 06.04.2016 – X R 2/15 m. w. N.). Darüber hinaus hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 29. September 2015 (2 BvR 2683/11) festgestellt, dass der Gesetzgeber in Bezug auf jene Übergangsregelung über einen weiten Gestaltungsspielraum verfüge und deren grundsätzliche Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) bejaht. Auch die Gleichbehandlung der Rentenbesteuerung von Selbstständigen einerseits sowie Arbeitnehmern andererseits, die sich trotz unterschiedlicher steuerrechtlicher Einordnung von Altersvorsorgeaufwendungen vor 2005 ergibt, sei dabei hinzunehmen; schließlich sei es mit dem Erfordernis handhabbarer und administrierbarer Lösungen der Rentenbesteuerung im Massenverfahren nicht vereinbar gewesen, die frühere steuerliche Behandlung der eingezahlten Beiträge eines jeden Steuerpflichtigen individuell zu ermitteln. Obwohl somit die Verfassungsmäßigkeit und daher steuerliche Gerechtigkeit von den Kernelementen der Rentenbesteuerungsreform durch das AltEinkG und damit auch der groben Typisierung der Übergangsregelung höchstrichterlich längst bestätigt waren, hatte der X. Senat des BFH im Urteil vom 6. April 2016 (X R 2/15) gleichzeitig klargestellt, dass eine Verfassungswidrigkeit aufgrund eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vorliege, wenn im Einzelfall eine Doppelbesteuerung von Renten festgestellt werde, wobei hierfür die Feststellungslast beim Steuerpflichtigen selbst liege. Jenes Verbot der Doppelbesteuerung von Renten geht auf die für die Entstehung des AltEinG grundlegende Entscheidung des BVerfG vom 6. März 2002 (2 BvL 17/99 unter D.II) zurück, nach der in jedem Fall die Steuerfreistellung von Vorsorgeaufwendungen sowie die Besteuerung von daraus resultierenden Renten der Schicht 1 in der Reform so aufeinander abzustimmen seien, dass eine doppelte Besteuerung beider Größen vermieden werde. Verfassungsrechtlich entsteht das Verbot der Doppelbesteuerung von Renten daher aus dem allgemeinen Gleichheitssatz, dem Gebot der Folgerichtigkeit sowie den Grenzen der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers.
Definition der Doppelbesteuerung
Der BFH stellte danach mehrfach fest (zuletzt: BFH vom 19.05.2021 – X R 33/19, Rz. 22 m. w. N.), dass eine doppelte Besteuerung von Renten eintritt, wenn die Summe der steuerunbelastet bleibenden Teile der voraussichtlichen künftigen Rentenbezüge des jeweiligen Steuerpflichtigen die Summe der von ihm aus versteuertem Einkommen geleisteten Teile der jene Rentenbezüge finanzierenden Altersvorsorgeaufwendungen unterschreitet. Diese unstreitige Definition der Doppelbesteuerung von Renten der Schicht 1 ist allerdings nur die Ausgangsbasis. Diese ist auszufüllen mit einer Vielzahl von Rahmenbedingungen, von denen durch die höchstrichterliche Rechtsprechung vor dem 19. Mai 2021 nicht alle geschaffen waren. Erst durch die beiden Entscheidungen des BFH vom 19. Mai 2021 konnte eine bis dato bestehende Prüfungslücke geschlossen werden.
Diverse Fallgruppen
Sofern man von verschiedenen Szenarien ausgehend auf Basis der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung sowie den Klärungen in den BFH-Entscheidungen vom 19. Mai 2021 mit einer von mir speziell dafür entwickelten Software Berechnungen vornimmt, wird klar, dass für den Nachweis einer Doppelbesteuerung von Renten im Zeitpunkt des Leistungsbeginns folgende Fallgruppen zu unterscheiden sind:
- Gruppe 1 (Beitragsbeginn nach 2024): Hier tritt eine Doppelbesteuerung von Renten in keinem Fall ein, unabhängig vom Jahr des Rentenbeginns.
- Gruppe 2 (Rentenbeginn vor 2016): Auch hier kommt es in keinem Fall zur Doppelbesteuerung, unabhängig vom Jahr des Beitragsbeginns.
- Gruppe 3 (Rentenbeginn nach 2015 und Beitragsbeginn vor 2025): Hier kommt es regelmäßig zur Doppelbesteuerung, die von der Höhe her erheblich sein kann; ihr Maximum tritt bei Rentenbeginn 2040 ein, danach ebbt sie wieder ab, um bei Beginn der Beitragszahlung nach 2024 (Gruppe 1) bei null Euro zu verbleiben.
Besonders stark betroffen sind Ledige, da bei diesen Personen keine Renten zugunsten von Hinterbliebenen entstehen können, des Weiteren Männer, weil sie weiter eine deutlich geringere statistische Lebenserwartung aufweisen als Frauen, und ehemalige Selbstständige, die Beiträge in gesetzliche Rentensysteme vor 2005 geleistet haben, weil für sie kein steuerfreier Arbeitgeberanteil gezahlt worden ist. Wird eine derartige Doppelbesteuerung tatsächlich festgestellt, muss sie auf die Veranlagungszeiträume des Rentenbezugs prozentual verteilt werden (vgl. BFH vom 19.05.2021 – X R 20/19, Rz. 81), wie die nachfolgende beispielhafte Berechnung verdeutlicht:
- Rentenbeginn 1. Januar 2020. Summe der festgestellten doppelt besteuerten Einkommensteile: 5.000 Euro, Summe der voraussichtlich steuerfreien Jahresbeträge der Renten: 100.000 Euro, steuerfreier Rentenbezug im Streitjahr 2020 gemäß § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa S. 4 EStG: Monatsrente 1.500 Euro mal 12 Monate mal 20 Prozent gleich 3.600 Euro (3,6 Prozent von 100.000 Euro).
- Festzustellende doppelt besteuerte Rente im Jahr 2020: 3,6 Prozent von 5.000 Euro = 180 Euro, sodass sich das zu versteuernde Einkommen in diesem Veranlagungszeitraum um 180 Euro reduziert.
Man vergleiche auch ein ausführliches Beispiel zur Berechnung der Summe der festgestellten doppelt besteuerten Einkommensteile und ihre Verteilung auf die Veranlagungszeiträume des Rentenbezugs [Nöcker in NWB 32/2021, 2340 (2352f.)].
Hinweise für die Beratungspraxis
Aktuell und noch in den kommenden 35 Jahren wird das Thema einer verfassungswidrigen Doppelbesteuerung von Renten der Schicht 1 für Steuerpflichtige aus der skizzierten Gruppe 3 sowie ihre Steuerberater beziehungsweise Anwälte mehr als relevant sein. Die Steuerbescheide ergehen jetzt hinsichtlich der Besteuerung von Leibrenten und anderen Leistungen aus der Schicht 1 zwar unter einem Vorläufigkeitsvermerk. Eine Überprüfung durch die Finanzämter ist jedoch ohne Mitwirkung des betroffenen Steuerpflichtigen nicht möglich, da dieser nach geltender Rechtslage selbst aktiv werden muss, weil ihn die Feststellungs- und Nachweislast trifft. Das kommt einem Einspruch gleich, ohne dass jedoch eine Frist versäumt wird. Zum Nachweis der tatsächlich eintretenden Doppelbesteuerung muss der Steuerpflichtige allerdings nicht sämtliche Einkommensteuerbescheide der Beitragsphase einreichen. Vielmehr sind die Erwerbsbiografie sowie der Rentenversicherungsverlauf im konkreten Einzelfall ausreichend (vgl. BFH vom 19.05.2021 – X R 20/19, Rz. 51; vom 21.06.2016 – X R 44/14, Rz. 52f.). Falls die Darlegung einzelfallbezogener Angaben unmöglich oder unzumutbar sein sollte, hat das Finanzamt beziehungsweise Finanzgericht nach sachgerechten Maßstäben zu schätzen. Sofern sich das Finanzamt weigern sollte, die doppelte Besteuerung und damit den verfassungswidrigen Betrag zu berechnen, steht der Klageweg offen. Wird erst bei einer derartigen Klage vom Finanzgericht eine Berechnung der doppelten Besteuerung durchgeführt, ist auch bei Obsiegen des Finanzamts zu prüfen, ob nicht die Kosten des Verfahrens dem Finanzamt gemäß § 137 S. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) aufzuerlegen sind, da die Behörde durch seine Weigerung das Klageverfahren verschuldet hat.
Ausblick
Allerdings könnte sich die Notwendigkeit eines außergerichtlichen Rechtsbehelfs beziehungsweise einer Klage nach dem Jahr 2021 von selbst erledigen. Denn mit Blick auf die voranstehend skizzierte Gruppe 3 könnte es sein, dass es nach der Bundestagswahl 2021 doch zu einer Gesetzesreform kommt, um die Problematik zu lösen. So jedenfalls äußerte sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz unmittelbar nach Veröffentlichung der BFH-Entscheidungen vom 19. Mai 2021. Darüber hinaus haben die Kläger in den beiden Verfahren, die der BFH am 19. Mai 2021 ablehnend beschieden hatte, jeweils Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidungen eingelegt.
Resümee
Die Klärung der zahlreichen Rahmenbedingungen mit Blick auf die Definition der Doppelbesteuerung von Renten durch den BFH am 19. Mai 2021 hat die Vermutung bestätigt, dass eine solche Doppelbesteuerung tatsächlich eintreten kann, obwohl der X. Senat die Revision in den Urteilen X R 33/19 und X R 20/19 jeweils als unbegründet zurückgewiesen und in beiden entschiedenen Einzelfällen eine Doppelbesteuerung verneint hat.
MEHR DAZU
Fachbuch Rente und Nebenverdienste von Rentnern, 2. Auflage