Steuergerechtigkeit - 17. November 2021

Doppelbesteuerung gesetzlicher und privater Renten

Begleitet von großem Medieninteresse verkündete der Bundesfinanzhof am 31. Mai 2021, erstmals live im Fernsehen, ein Urteil, bei dem die Steuergerechtigkeit gleich zweimal im Vordergrund stand.

Konkret ging es um die Frage der Doppelbesteuerung von Renten. Insoweit hatte der Bundesfinanzhof (BFH) in früheren Entscheidungen mehrfach festgestellt, dass eine doppelte Besteuerung von Renten eintritt, wenn

  • die Summe der steuerunbelastet bleibenden Teile der voraussichtlichen künftigen Rentenbezüge des jeweiligen Steuerpflichtigen
  • die Summe der von ihm aus versteuertem Einkommen geleisteten Teile der jene Rentenbezüge finanzierenden Altersvorsorgeaufwendungen unterschreitet.

Nicht alle Fragen geklärt

Diese unstrittige Definition der Doppelbesteuerung von Renten der sogenannten Schicht 1 stellte allerdings nur einen Rahmen dar, der mit einer Vielzahl von weiteren Bedingungen ausgefüllt werden musste. Vor dem 19. Mai 2021 waren durch höchstrichterliche Rechtsprechung jedoch nicht alle Fragen vollständig geklärt, um eine Doppelbesteuerung von Renten der Schicht 1 für jeden Einzelfall zweifelsfrei zu prüfen.

Konkrete Rahmenbedingungen für die Prüfung der Doppelbesteuerung von Renten nach obiger DefinitionBVerfG/ BFH
AllgemeingrundsätzeDie Prüfung ist auf Basis des Nominalwertprinzips vorzunehmen (wie bei Gewinnen/ Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften oder der Bemessung von AfA).BVerfG v. 29.9.2015 – 2 BvR 2683/11, Rz. 51 f.; BFH Urt. v. 23.8.2017 – X R 33/15, Rz. 36
Sie muss zum Zeitpunkt des Renteneintritts erfolgen.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 24
Der Steuerpflichtige trägt die Feststellungslast der Prüfung.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 52 f.
Ermittlung der Summe der steuerfreien RentenanteileDer steuerunbelastet zufließende Rententeilbetrag ist identisch mit dem steuerfreien Jahresbetrag der Rente i.S.v. § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa Sätze 4 bis 7 EStG.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 42
Die 100%ige Steuerpflicht regelmäßiger Rentenanpassungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenBFH v. 3.12.2019 – X R 12/18, Rz. 9
Die tatsächliche Lebensdauer des Steuerpflichtigen ist irrelevant.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 56
Die durchschnittliche weitere statistische Lebenserwartung bei Renteneintritt ist anzuwenden.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 42
Ermittlung der Summe versteuerter BeitragsanteileBeiträge zu den Sparten der Sozialversicherung sind gleichrangig in die Berechnung des abziehbaren Teils der vor 2005 gezahlten Altersvorsorgeaufwendungen einzustellen.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 51
Beiträge zu kapitalbildenden Lebens- und Rentenversicherungen sind nur nachrangig im Rahmen der der vor 2005 gezahlten Altersvorsorgeaufwendungen abziehbar.BFH v. 23.8.2017 – X R 33/15, Rz. 29 f.
Der Arbeitgeberanteil ist als steuerfreier Beitragsteil i.S.v. § 3 Nr. 62 EStG zur gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen.BFH v. 21.6.2016 – X R 44/14, Rz. 55

Prüfungslücke geschlossen

Die in der voranstehenden Tabelle enthaltenen Bestandteile reichen aber nicht aus, um eine Doppelbesteuerung von Renten der Schicht 1 für jeden Einzelfall zweifelsfrei zu prüfen. Erst durch die beiden Entscheidungen des BFH vom 19. Mai 2021 konnte eine bis dato bestehende Prüfungslücke geschlossen werden, um einerseits in sachlicher Hinsicht Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) zu entsprechen, wonach gleiche steuerliche Leistungsfähigkeit nicht ungleich besteuert werden darf, und andererseits in zeitlicher Dimension Rechtssicherheit zu schaffen, da der steuerpflichtige Rentenanteil bis 2040 von Jahr zu Jahr zunimmt und sich folglich Gerechtigkeitsfragen ergeben, die weit über eine Generation hinausgreifen.

Begründung der Entscheidung

Der BFH hat im Haupturteil (X R 33/19) einige der Grundsätze, die in der oben aufgeführten Tabelle enthalten sind, unter anderem das Nominalwertprinzip selbst in Zeiten hoher Inflation und das Verwendungsgebot der durchschnittlichen weiteren statistischen Lebenserwartung bei Renteneintritt, erneut bestätigt und stellt darüber hinaus erstmals fest, dass zur Messung der weiteren statistischen Lebenserwartung die letztverfügbare Sterbetafel, die am Tag des Altersrentenbeginns veröffentlicht wurde, maßgeblich ist, und nicht etwa die für das Streitjahr später veröffentlichten Werte und dabei auf die Sterbetafel des Statistischen Bundesamts abgestellt werden muss und nicht auf die regelmäßig höheren Lebenserwartungen, etwa nach den „Richttafeln Heubeck“. Weiter sei eine mögliche künftige Hinterbliebenenrente des Ehepartners mit einzubeziehen, da in diesem Fall höhere Rentenleistungen und damit addierte steuerfreie Rentenanteile zu erwarten sind als bei einem Versicherungsverhältnis ohne Hinterbliebene. Ferner sei der steuerfreie Jahresbetrag der Rente im Sinne von § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa S. 4–7 EStG grundsätzlich ohne Anpassungen ausgehend von der bei Rentenbeginn zu zahlenden Altersrente zu berechnen; regelmäßige Anpassungen, die häufig im Folgejahr, also dem Jahr der Berechnung nach § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa S. 5 EStG, den steuerfreien Teilbetrag leicht erhöhen, seien nur zu berücksichtigen, wenn sie im Zeitpunkt des Erstbezugs der Altersrente bereits konkret absehbar sind, was jedoch erst ab etwa März beziehungsweise April des Folgejahrs gegeben ist. Des Weiteren müssten außer dem steuerfreien Jahresbetrag der Rente im Sinne des § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa Sätze 4–7 EStG weitere steuerfreien Beträge unberücksichtigt bleiben, sodass konkret vom steuerpflichtigen Teil der Renten folgende Beträge nicht abgezogen werden dürfen:

  • Grundfreibetrag gemäß § 32a Abs. 1 Nr. 1 EStG,
  • sonstige Vorsorgeaufwendungen in Form von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 3 und 3a EStG,
  • Beitragsanteile des Rentenversicherungsträgers zur Kranken- und Pflegeversicherung gemäß § 3 Nr. 14 EStG,
  • Werbungskosten-Pauschbetrag gemäß § 9a Satz 1 Nr. 3 EStG und Sonderausgaben-Pauschbetrag gemäß § 10c EStG.

Darüber hinaus seien in Bezug auf vor 2005 geleistete Vorsorgeaufwendungen neben den Beiträgen zu privaten kapitalbildenden Lebens- und Rentenversicherungen auch Prämien zu privaten reinen Todesfall-, Unfall- und Haftpflichtversicherungen nur nachrangig abziehbar sowie in Bezug auf nach 2005 geleistete Vorsorgeaufwendungen sind die bis 2019 geltende Übergangsregelung des § 10 Abs. 4a EStG in die Berechnung der aus versteuertem Einkommen erbrachten Beiträge zu beachten. Bei zusammenveranlagten Eheleuten seien zudem im Bereich des Sonderausgabenabzugs nach 2004 gemeinsam zustehende Höchstbeiträge, auch für den Vorwegabzug nach § 10 Abs. 4a EStG, im Verhältnis der vorrangig berücksichtigungsfähigen Vorsorgeaufwendungen und nicht im Verhältnis 50 Prozent zu 50 Prozent aufzuteilen. Außerdem könne keine Eliminierung von Beitragsanteilen zu gesetzlichen Rentenversicherungssystemen erfolgen, die nicht Alters- und Hinterbliebenenrenten, sondern Rehabilitationsmaßnahmen oder ähnliches betreffen. Und schließlich sei es unerheblich, ob in einzelnen Jahren der Beitrags- und Rentenphase der Steuerpflichtige Einkommensteuern gezahlt habe oder nicht; entscheidend bleibt stets der Vergleich zwischen den aus dem zu versteuernden Einkommen erbrachten Altersvorsorgeaufwendungen und dem steuerfreien Teil der Rente, also der Vergleich der relevanten Bemessungsgrundlagen.

Fazit

Trotz Klärung der zahlreichen Rahmenbedingungen mit Blick auf die Definition der Doppelbesteuerung von Renten durch den BFH am 19. Mai 2021 bestätigt sich jedoch die Vermutung, dass eine Doppelbesteuerung tatsächlich eintreten kann, obwohl der X. Senat des BFH die Revision in den Urteilen X R 33/19 und X R 20/19 jeweils als unbegründet zurückgewiesen und in den beiden entschiedenen Einzelfällen eine Doppelbesteuerung verneint hatte.

Zum Autor

TD
Prof. Dr. Thomas Dommermuth

Steuerberater und Professor für Steuerlehre an der Hochschule Amberg-Weiden mit dem Spezialgebiet Beratung im Bereich der betrieblichen Altersversorgung; Beiratsvorsitzender des Instituts für Vorsorge und Finanzplanung; Berater bei der Entstehung ­verschiedener Gesetzgebungsverfahren

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