Die Finanzgerichtsbarkeit steht vor grundlegenden Veränderungen. Diese ergeben sich aus einem gewandelten Rechtsstaatsverständnis in der Gesellschaft. Die daraus resultierenden Herausforderungen sind zugleich eine Chance für das Überdenken überkommener Handlungsmuster.
Die Justiz und mit ihr die Finanzgerichtsbarkeit sieht sich derzeit einer Vielzahl von Veränderungsprozessen gegenüber, die gleichsam Herausforderung wie auch Chance für das Überdenken überkommener Handlungsmuster sind. Die zentralen Themen unserer Zeit lautenügeDigitalisierung und technischer Fortschritt. Das aber ist nur ein Teil des Wandels. Auch unsere Gesellschaft verändert sich, zum einen aus sich selbst heraus, zum anderen aufgrund äußerer Einflüsse wie Globalisierung, demografischer Wandel und Einfluss Neuer Medien. Die Justiz stellt sich diesem technischen und digitalen Fortschritt und durchläuft die notwendigen Modernisierungsprozesse, während sie gleichzeitig die notwendige Flexibilität aufbringt, um die passenden Antworten auf gesellschaftliche Trends zu geben und den sich verändernden Erwartungen gerecht zu werden, die die Bürger an den Rechtsstaat haben.
Veränderte Erwartungen an eine moderne Justiz
Der Rechtsstaat, die Gerichte und die Richterschaft sehen sich heute mit veränderten Bedürfnissen und Erwartungen der Bürger konfrontiert. Dabei spielen mehrere Aspekte eine Rolle. In vielen Teilen der Welt – auch in Europa – ist eine Erosion des Rechtsstaats zu beobachten. Auch in Deutschland sieht sich die Justiz damit konfrontiert, dass das Vertrauen der Bürger in den Staat und seine Einrichtungen – vorsichtig formuliert – jedenfalls auf dem Prüfstand steht. Hinzu kommt ein grundsätzlich gewandeltes Staatsverständnis. An die Stelle des hoheitlich geprägten Staatsbilds ist ein Staatsverständnis getreten, bei dem der Bürger dem Staat auf Augenhöhe begegnet und die Justiz (auch) als Dienstleister betrachtet. Und schließlich kommt mit der rasanten Veränderung der Arbeitswelt und aller anderen Lebensbereiche noch eine zeitliche Komponente hinzu. Angesichts dessen muss sich die Justiz mehr als je zuvor möglichst transparent und bürgernah aufstellen.
Es gilt, die Vorzüge des modernen Rechtsstaats jeden Tag neu unter Beweis zu stellen.
Auch wenn der Kern des verfassungsrechtlichen Auftrags der Gerichte darin besteht, einen Rechtsstreit innerhalb angemessener Zeit auf der Basis von Recht und Gesetz zu entscheiden, ist es damit allein heute nicht mehr getan. Der rechtsschutzsuchende Bürger ist mündiger, kritischer und anspruchsvoller geworden. Er erwartet weit mehr als eine Entscheidung nach Recht und Gesetz. Das Bild und die Rolle des Richters haben sich vom reinen Hoheitsträger und Entscheider hin zum Prozessmanager, Streitschlichter und vor allem Rechtserklärer gewandelt. Hinzu kommt die Konkurrenz durch private Schieds- und Schlichtungsstellen. Die Gerichte müssen deshalb ihre Aufgaben und Arbeitsweisen erläutern, die Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten verstärkt in den Blick nehmen und Recht nicht nur sprechen, sondern es vor allem auch erklären, um so in verstärktem Maß um Akzeptanz und Vertrauen für ihr Handeln und ihre Entscheidungen zu werben. Es gilt, die Vorzüge des modernen Rechtsstaats jeden Tag neu unter Beweis zu stellen.
Bürgernähe und Transparenz
Bürgernähe und Transparenz sind gerade im finanzgerichtlichen Verfahren von enormer Bedeutung. Das liegt zunächst an der erheblichen Komplexität des Steuerrechts. Außerdem ist das steuerliche Prozessrecht der Finanzgerichtsordnung den Angehörigen der steuerberatenden Berufe nicht in der Weise vertraut, wie es das für Vertreter der Anwaltschaft ist. Hinzu kommt, dass sich der Steuerstaat der Instrumente der Eingriffsverwaltung bedient. Daher gilt: Vertrauen in den Gesamtstaat wird nur dann bestehen, wenn es den Finanzgerichten (FG) gelingt, Akzeptanz für ihr Handeln sowie ihre Entscheidungen zu erreichen, und auch nur, wenn sie den Steuerpflichtigen wirklich die Gewissheit vermitteln können, dass der Rechtsstaat sie wirksam vor rechtswidrigen Eingriffen des Steuerstaats schützt.
Kommunikation und Ansprechbarkeit
Fundamente einer bürgernah und transparent agierenden Justiz sind Kommunikation und Ansprechbarkeit. Die Richterschaft muss heute in verstärktem Maß nach außen treten und auf die Beteiligten sowie deren (Prozess-)Vertreter zugehen, indem in einem möglichst frühen Verfahrensstadium Kontakt zu ihnen aufgenommen wird. Die Finanzgerichtsordnung (FGO) sieht hierfür in § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FGO mit dem Erörterungstermin das ideale Instrument vor, gerade dann, wenn er zeitnah geführt wird. Der Erörterungstermin ermöglicht es dem zuständigen Berichterstatter als Vertreter des Spruchkörpers einem Navigator des finanzgerichtlichen Verfahrens gleich,
a) das rechtliche Begehren des Klägers frei von den Formzwängen der mündlichen Verhandlung aufzunehmen und zu moderieren,
b) auf die Bedürfnisse und die Interessen der Beteiligten einzugehen,
c) den weiteren Ablauf des Prozesses und das Recht selbst zu erklären und so
d) den Grundstein für bürgernahen und transparenten Rechtsschutz zu legen.
Der einmal hergestellte Kontakt zu den Beteiligten ist während des gesamten finanzgerichtlichen Verfahrens aufrechtzuhalten. Die Rechtsschutzsuchenden und ihre (Prozess-) Vertreter müssen sich dabei der ständigen (auch telefonischen) Ansprechbarkeit des Gerichts gewiss sein können. Gerade der Griff zum Telefon bietet sich auch für den Prozessvertreter an. Viele Fragen gerade zum Verfahrensfortgang, etwa wegen einer Abstimmung von Fristverlängerungen oder einer Terminverlegung, lassen sich auf diesem Weg einfach klären.
Fürsorge und Empathie
Die Justiz ist – schon von Verfassung wegen – kein Dienstleistungsunternehmen. Das ändert aber nichts daran, dass eine moderne Justiz ihre Aufgaben und damit vor allem den Rechtsschutzgewährleistungsauftrag bestmöglich, also am Maßstab von Recht und Gesetz, aber eben auch unter Beachtung der Interessen der Rechtsschutzsuchenden erfüllen muss. Für die Finanzgerichte bedeutet dies, dass sie den Beteiligten in jedem Stadium des Verfahrens mit größtmöglicher Fürsorge und Empathie begegnen sollten. Dazu gehört, dass Prozessabläufe in ihrer Gesamtheit erklärt und die jeweils nächsten Verfahrensschritte erläutert werden. Der Weg durch den Steuerprozess sollte – wie der Weg auf einer Wanderung durch unbekanntes Terrain – gut beschildert sein. Ferner gilt es, sich im Rahmen des rechtlich Möglichen offen für Wünsche und Anregungen der Beteiligten und ihrer (Prozess-)Vertreter zu zeigen, wie etwa bei der Terminierung oder mit Blick auf den Einsatz bestimmter prozessualer Instrumente, beispielsweise der Durchführung eines Erörterungstermins.
Streit schlichten und Recht erklären
Dem Finanzrichter kommt in einem modernen Rechtsstaat neben der Rolle als Rechtsprecher vor allem auch die Rolle des Streitschlichters und des Rechtserklärers zu. Denn das Recht, insbesondere das Steuerrecht, erklärt sich nicht von selbst. Das Herzstück eines jeden Rechtsstreits, unabhängig ob im Erörterungstermin oder in der mündlichen Verhandlung, bildet das Rechtsgespräch mit den Beteiligten. Darauf kann nie genug Zeit verwendet werden. Die Beteiligten haben einen Anspruch auf eine vollständige Durchdringung des Sach- und Streitstands und können mit Recht erwarten, dass sich das Gericht einer kritischen Diskussion der entscheidungserheblichen Aspekte eines Falls bereits im Vorfeld der Entscheidungsfindung nicht verschließt. Nur so werden die spätere Urteilsfindung nicht als Black Box empfunden und Akzeptanz für die richterliche Entscheidung geschaffen.
Kritische Selbstreflexion
Jeder Richter kann den sich wandelnden Bedürfnissen und Erwartungen der rechtsschutzsuchenden Bürger an einen effektiven und zeitgemäßen Steuerrechtsschutz nur dann gerecht werden, wenn eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und der eigenen Arbeit erfolgt, die den veränderten Erwartungshorizont der Beteiligten im Rahmen eines Perspektivwechsels einbezieht. Guter Steuerrechtsschutz muss immer neu gedacht und gelebt werden. Beim Finanzgericht Münster haben solche Prozesse kritischer Selbstreflexion seit längerer Zeit Tradition. Bereits im Jahr 2008 wurde eine Beteiligtenbefragung durchgeführt, deren Ziel es war, ein aktuelles Meinungsbild über die Arbeit des Gerichts zu erhalten und die Anforderungen der Rechtsschutzsuchenden an die richterliche Tätigkeit näher zu konkretisieren. Darüber hinaus tauscht sich die Richterschaft regelmäßig in Gesprächsrunden zu diversen Themen richterlicher Arbeit aus und greift dabei häufig auf professionelle Kenntnisse und Erfahrungen von Außenstehenden zurück, wie etwa die eines Mediators. Im Jahr 2019 fand außerdem ein mehrtägiger Workshop zum Thema Moderner Steuerrechtsschutz statt, an dem weite Teile der Richterschaft des Finanzgerichts Münster teilnahmen. Dabei wurden Kernelemente eines effektiven und zeitgemäßen Steuerrechtsschutzes erarbeitet und mit Leben gefüllt.
Fazit
Die Justiz und mit ihr die Finanzgerichtsbarkeit durchlaufen derzeit eine Vielzahl von Veränderungs- und Modernisierungsprozessen. Die Erwartungen der Bürger an ihren Rechtsstaat sind – berechtigterweise – hoch. Dem ist durch eine kommunikative, transparente, fürsorgliche und empathische Verfahrensführung im Einzelfall Rechnung zu tragen.