Arbeitszeiterfassung - 23. September 2022

Eine Pflicht für alle?

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 ist für Arbeit-geber und Arbeitnehmer gleichermaßen brisant. Nicht wenige befürchten eine Rückkehr zur Stechuhr mit gravierenden Auswirkungen auf die Vertrauensarbeitszeit, mobile Arbeit und Homeoffice.

Die ebenso unerwartete wie aufsehenerregende Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), mit dem das höchste deutsche Arbeitsgericht dem nationalen Gesetzgeber zuvorkam, verpflichtet nun Arbeitgeber, ein System einzuführen, mit dem die von den Mitarbeitern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann (Beschluss vom 13.09.2022 – 1 ABR 22/21). Bereits am 14. Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) im sogenannten Stechuhr-Urteil (CCOO-Entscheidung, Az. C 55/18) entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Zeiterfassungssystem einzurichten, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Seitdem rätselte man in der Praxis, wann und wie diese EuGH-Entscheidung durch den deutschen Gesetzgeber konkret umgesetzt wird. Kaum jemand hat damit gerechnet, dass das BAG nun dem Gesetzgeber zuvorkommt. Daher stellt sich die Frage, ob bereits jetzt eine gesetzliche Pflicht für die Arbeitgeber in Deutschland entstanden ist, die Arbeitszeiten der Mitarbeiter über ein Zeiterfassungssystem zu dokumentieren, obgleich eine Umsetzung des EuGH-Urteils in deutsches Recht bisher noch nicht erfolgt ist.

Begründung der Entscheidung

Hintergrund der BAG-Entscheidung war die Frage, ob dem Betriebsrat ein sogenanntes Initiativrecht zur Einführung einer (elektronischen) Arbeitszeiterfassung zustehe und er somit die Einführung eines derartigen Systems über die sogenannte Einigungsstelle gegen den Willen des Arbeitgebers erzwingen könne. Während in der Vorinstanz das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm ein solches Initiativrecht des Betriebsrats noch bejaht hatte, lehnte nun das BAG ein Initiativ- und Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ab. So begrüßenswert aus Arbeitgebersicht die Ablehnung eines Mitbestimmungs- und Initiativrechts des Betriebsrats durch das BAG zunächst war, so unerwartet und brisant ist jedoch die Begründung des Gerichts hierfür. Denn in der mündlichen Begründung und in einer Pressemitteilung zu dieser BAG-Entscheidung wurde die Ablehnung eines Mitbestimmungs- und Initiativrechts des Betriebsrats damit begründet, dass ein derartiges Recht zur Einführung einer Arbeitszeiterfassung nach § 87 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) nur dann bestehe, wenn die Einführung einer Arbeitszeiterfassung nicht bereits gesetzlich geregelt sei. Und das BAG führt weiter aus, dass eine diesbezügliche gesetzliche Regelung bereits bestehe. Denn bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) sei der Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Mitarbeiter zu erfassen und hierzu ein System einzurichten, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Dies schließe ein gegebenenfalls mittels einer Einigungsstelle durchsetzbares Mitbestimmungs- und Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus. Daraus folgt, dass schon jetzt für die Arbeitgeber in Deutschland eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung mithilfe eines Zeiterfassungssystems besteht, mit dem die von den Mitarbeitern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Das Problem der Umsetzung

Bereits nach dem Stechuhr-Urteil des EuGH war die Arbeitszeiterfassung im Fokus der politischen und gesellschaftlichen Diskussion. Der EuGH hatte seinerzeit entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit der Mitarbeiter erfasst werden könne, da nur so die Einhaltung der Arbeitszeitregeln und damit der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleistet sei. Im Rahmen Diskussion über die Folgen des Stechuhr-Urteils bildete sich nach 2019 die herrschende Meinung heraus, dass die EuGH-Rechtsprechung keine unmittelbare Wirkung auf die Arbeitszeiterfassung in privaten Unternehmen in Deutschland habe. Vielmehr müsse zuerst der deutsche Gesetzgeber die europäischen Richtlinien in nationales Recht überführen. Da eine Umsetzung in deutsches Recht bisher jedoch nicht erfolgte, war man gespannt, wie die EuGH-Entscheidung in Deutschland genau umgesetzt werde. Die Bundesregierung hatte dazu im Koalitionsvertrag 2021 vereinbart, dass im Dialog mit den Sozialpartnern geprüft werde, welcher Anpassungsbedarf angesichts der EuGH-Rechtsprechung zum Arbeitszeitrecht gesehen werde. Dabei müssten flexible Arbeitszeitmodelle, wie etwa die Vertrauensarbeitszeit, weiterhin möglich sein. Die Frage, welche Gesetzesänderungen aufgrund des EuGH-Urteils sinnvoll und notwendig seien, wurde und wird noch immer in der Literatur, zwischen den Sozialpartnern und innerhalb der Bundesregierung kontrovers diskutiert. Ungeklärt ist nach wie vor, ob die Umsetzung der EuGH-Vorgaben in nationales Recht eine elektronische und manipulationssichere Aufzeichnung der Arbeitszeit vorsehen müsse oder ob außer der elektronischen Form auch andere geeignete Instrumente für die Zeiterfassung ausreichten, wie etwa eine Aufzeichnung in Papierform oder auf sonstige Weise, soweit diese Aufzeichnungen dazu geeignet wären, die geleistete Arbeitszeit einwandfrei zu dokumentieren. Nach bisherigem Verständnis bestand, da eine Umsetzung des EuGH-Urteils in nationales Recht noch nicht erfolgt ist, keine gesetzliche Pflicht des Arbeitgebers zur vollumfänglichen Aufzeichnung der Arbeitszeit, sondern lediglich die Pflicht zur Erfassung der über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehenden Arbeitszeit beziehungsweise der für alle an Sonn- und Feiertagen geleisteten Zeiten als Ausfluss des Arbeitszeitgesetzes. Und nun hat das BAG mit einem Paukenschlag gleich eine Pflicht der Arbeitgeber zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystems schon jetzt, nach aktuell geltender Rechtslage, festgestellt. Auch ohne die Umsetzung des EuGH-Urteils durch den deutschen Gesetzgeber wird damit eine grundsätzliche Pflicht der Arbeitgeber zur Einrichtung eines Zeiterfassungssystems statuiert. Die Pflicht zur Einrichtung eines solchen Systems wird dabei nicht aus dem Arbeitszeitgesetz abgeleitet, sondern aus dem ArbSchG. Bei unionsrechtskonformer Auslegung ergebe sich die Pflicht zur Zeiterfassung aus § 3 Abs. 2 Nr.1 ArbSchG. Danach seien Arbeitgeber verpflichtet, die zum Arbeitsschutz erforderlichen Mittel bereitzustellen und für eine geeignete Organisation des Arbeitsschutzes zu sorgen.

Folgen für die Praxis

Etliche Arbeitgeber und Prozessbeobachter befürchten aufgrund des BAG-Beschlusses das Ende der Vertrauensarbeitszeit. Zudem werden erhebliche Auswirkungen vor allem auf die mobile Arbeit und das Homeoffice erwartet. Dabei war der Pressemitteilung des BAG bislang nicht zu entnehmen, ob und welche Freiheiten ein Arbeitgeber bei Einführung eines Zeiterfassungssystems nach Ansicht des BAG habe. Der EuGH machte hierzu ebenfalls keine Vorgaben und sprach nur von der „Einrichtung eines Systems“. Eine nähere Einschätzung ist seit der der Veröffentlichung der schriftlichen Begründung des BAG-Beschlusses am 03. Dezember 2022 möglich.

Wichtige Punkte der BAG-Begründung im Überblick: 

  • Zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer hat der Arbeitgeber ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. Dies gilt ab sofort, also ohne Übergangsfrist.
  • Es genügt nicht, wenn Arbeitgeber lediglich ein Zeiterfassungssystem bereitstellen. Vielmehr ist die Arbeitszeit der Mitarbeiter auch tatsächlich zu erfassen.
  • Dabei besteht – solange vom Gesetzgeber (noch) keine konkretisierenden Regelungen getroffen wurden – ein Spielraum, in dessen Rahmen u.a. die „Form“ dieses Systems festzulegen ist. Bei ihrer Auswahl sind vor allem die Besonderheiten der jeweils betroffenen Tätigkeitsbereiche der Arbeitnehmer und die Eigenheiten des Unternehmens – insbesondere seine Größe – zu berücksichtigen.
  • Die Zeiterfassung muss nicht ausnahmslos und zwingend in elektronischer Form erfolgen. Es können daher beispielsweise, je nach Tätigkeit und Eigenheiten des Unternehmens im Einzelfall, auch Aufzeichnungen in Papierform genügen.
  • Bei der Auswahl und näheren Ausgestaltung des jeweiligen Arbeitszeiterfassungssystems ist jedoch bei alledem zu beachten, dass die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit Zielsetzungen darstellen, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
  • Solange (und soweit) der Gesetzgeber den ihm zustehenden Spielraum bei der Ausgestaltung der unionsrechtlichen Arbeitszeiterfassungspflicht nicht ausgeübt hat, können die Betriebsparteien und – im Fall ihrer fehlenden Einigung – die Einigungsstelle nach Maßgabe des § 87 Abs. (2) BetrVG entsprechende Regelungen treffen. Ihnen kommt insbesondere ein Gestaltungsspielraum dahingehend zu, in welcher Art und Weise – ggf. differenziert nach der Art der von den Arbeitnehmern ausgeübten Tätigkeiten – die Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit im Betrieb zu erfolgen hat.
  • Dem Betriebsrat steht ein Initiativrecht (nicht bei der Einführung, aber) bei der Ausgestaltung eines Zeiterfassungssystems zu. Da sich die aus § 3 Abs. (2) Nr. 1 ArbSchG folgende Pflicht der Arbeitgeber, ein System zur Erfassung von Beginn und Ende der Arbeitszeit im Gemeinschaftsbetrieb zu etablieren, jedoch nicht zwingend auf eine Zeiterfassung in elektronischer Form bezieht, kann sich auch das dem Betriebsrat bei der Ausgestaltung eines solchen (elektronischen) Zeiterfassungssystems zustehende Initiativrecht aus § 87 Abs. (1) Nr. 7 BetrVG nicht lediglich hierauf beschränken.
  • Die aus § 3 Abs. (2) Nr. 1 ArbSchG sich ergebende Verpflichtung der Arbeitgeber, ein System einzuführen und zu verwenden, mit dem Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten einschließlich der Überstunden erfasst werden, bezieht sich laut BAG auf alle in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer iSd. § 5 Abs. (1) Satz 1 BetrVG. Damit dürften leitende Angestellte im Sinne von § 5 Abs. (3) BetrVG von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen sein; dies lässt sich den Entscheidungsgründen jedoch nicht mit letzter Klarheit entnehmen und wird daher derzeit kontrovers diskutiert.
  • Klar ist dagegen, dass weitere Ausnahmen von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung für bestimmte Tätigkeiten, von denen der Gesetzgeber auf Grundlage von Art. 17 Abs. 1 RL 2003/88/EG Gebrauch machen könnte, (derzeit) nicht gegeben sind. Hier bleibt die Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber abzuwarten.
  • Das BAG trifft in den Entscheidungsgründen keine Aussage zu Vertrauensarbeitszeit. Je nach Definition des Begriffs der Vertrauensarbeitszeit bleibt diese aber weiterhin möglich: Vertrauensarbeitszeit, die so verstanden wird, dass keine Erfassung der Arbeitszeit stattfindet, ist nicht (mehr) zulässig. Wird dagegen Vertrauensarbeitszeit als selbstbestimmte Arbeit bei möglichst freier Zeitplanung (aber mit Dokumentation) verstanden, so bleibt das weiter möglich.

Fazit und Ausblick

Nach der richtungsweisenden Entscheidung des BAG vom 13. September 2022 sind die Arbeitgeber bereits verpflichtet, ein System zur Erfassung der von den Arbeitnehmern geleisteten Arbeitszeit zu implementieren. Mit der Veröffentlichung der Entscheidungsgründe am 03. Dezember 2022 wurde die Entscheidung nun näher konkretisiert. Das BAG kommt damit dem deutschen Gesetzgeber zuvor, der bis dato die entsprechenden Vorgaben des EuGH nicht in nationales Recht umgesetzt hat. Für die Arbeitgeber besteht daher Handlungsbedarf. Sie müssen bereits jetzt eine entsprechende Arbeitszeiterfassung – sofern noch nicht vorhanden – im Betrieb einführen. Dabei dürfte Aktionismus ebenso wenig zielführend sein wie eine demonstrative Untätigkeit. Die größte Aufgabe hat nun der Gesetzgeber. Eine gesetzliche Regelung, die die Arbeitszeiterfassung rechtssicher regelt, muss geschaffen werden.

Zum Autor

Dr. Ralf Kittelberger

Rechtsanwalt sowie Fachanwalt für Arbeitsrecht und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht. Er ist Partner der DREITOR Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB Kittelberger Hahn Kärcher Heilemann in Reutlingen.

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